Das Ohr als Medium

Alan Pauls neuer Roman „Geschichte der Tränen“

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1959 in Buenos Aires geborene Redakteur, Schriftsteller und Drehbuchautor Alan Pauls ist hierzulande erst vergangenes Jahr mit seinem insgesamt fünften, aber dem ersten von Christian Hansen ins Deutsche übertragenen Roman „Die Vergangenheit“ schlagartig bekannt geworden. Alle großen Tages- und Wochenzeitungen widmeten ihm zumeist enthusiastische Besprechungen und lobten vor allem seinen an Marcel Proust geschulten Sprachstil. Auch der neue, wiederum kongenial von Hansen übersetzte Roman „Die Geschichte der Tränen“ löst die mit diesem Debüt einhergehenden hohen Erwartungen ein. Der Roman erzählt die Geschichte eines ungewöhnlich empfindsamen Jungen, der mit seinen Großeltern und der geschiedenen Mutter im Zentrum von Buenos Aires, in der die beiden großen Boulevards Avenida Luis Maria Campos und die Avenida Del Liberator verbindenden Straße Ortega y Gasset aufwächst. Der auf den Namen des spanischen Philosophen und Soziologen José Ortega verweisende Straßenname wird freilich so häufig genannt, dass er als Wohnort nicht von ungefähr gewählt erscheint. Und in der Tat zeichnet das Werk des Philosophen aus, was auch den namenlosen Romanhelden charakterisiert: die genaue Beobachtung der ihn umgebenden Welt, von der aus jener seine philosophischen Überlegungen entwickelte.

Genau wie Ortega ist auch unser Held ein eigenwilliger Individualist, der sich herkömmlichen Zuordnungen und Kategorisierungen entzieht. Er unterscheidet sich bereits im Kindergartenalter von seinen Spielkameraden. Während die anderen Eltern mit den sportlichen Leistungen oder der intellektuellen Begabung ihrer Sprösslinge prahlen, ist die Domäne unseres Romanhelden die der Empfindsamkeit: „Zuhören, weinen, in seltenen Fällen auch reden.“ Statt sich wie die anderen Kindergartenkinder also im Sprechen zu üben, schult sich der kleine Held in der Kunst des stundenlangen Zuhörens. Die Lebensgeschichten der Romanfiguren lernen wir denn auch über das Ohr des Protagonisten kennen: Ihm – dem noch nicht einmal schulpflichtigen Kind – beichten die erwachsenen Protagonisten ihre Geheimnisse, die missglückten Ehen, Liebesaffären und geplatzten Lebensträume. Doch nicht nur Privates kommt hier zur Sprache. Das Ohr des Protagonisten wird ebenso zum Aufzeichnungsorgan und Medium für die politische und gesellschaftliche Realität des Landes.

Die zeitgeschichtliche Wirklichkeit des Romans ist die gewalttätige argentinische Geschichte, in deren Verlauf der Staatsterror allein in der Zeit der Militärjunta von 1976-1983 dreißigtausend Opfer kostete. Wahllos und willkürlich wurden von der Alianza Anticomunista Argentina und anderen paramilitärischen Organisationen nicht nur Kommunisten, sondern auch missliebige oder irgendwie ‚verdächtige‘ Personen innerhalb der peronistischen Partei verschleppt. Die Sensibilität des Protagonisten und seine Bereitschaft, sich auf das Leid und die Nöte anderer einzulassen, bricht die Traumata der desaparecidos auf, lässt die Opfer sich erinnern und davon sprechen. Sein Talent zum Zuhören öffnet die Menschen. Dadurch werden in dem monologisch erzählten Roman weitere Stimmen hörbar, etwa die einer Geliebten, die ehemals der Revolutionären Volksarmee angehörte und im Gefängnis von Córtoba inhaftiert und gefoltert wurde, wovon zunächst die Narbe auf ihrem Körper, später unwillkürlich sie selbst spricht: „[…] und plötzlich bleibt sein Blick an einer schimmernden Stelle hängen, einer Lichtung, wo sich die Haut an einer zu glatten Oberfläche ohne Poren, ohne Haare, ohne Unregelmäßigkeiten spannt, wie ein Aufkleber, dunkler als die Umgebungshaut oder glänzender, je nachdem, ob das Licht darauffällt oder nicht, und streckt die Hand aus und streicht schweigend mit den Fingern darüber, und sie stammelt, obwohl sie gar nicht hat sprechen wollen, und bricht in Tränen aus.“

Für die sensible und anteilnehmende Hauptfigur waren von klein auf nicht die Stärken, sondern die Schwächen der Menschen interessant. Als Junge bewundert er die Comicfigur Superman nicht etwa für dessen Heldentaten, sondern für die wenigen Momente seines Versagens. Für ihn ist der „Schmerz […] das Außergewöhnliche und darum das, was unerträglich ist“. Glück hingegen erscheint als das Unwahrscheinliche schlechthin. Als es ihm dennoch begegnet und er sich vorbehaltlos verliebt, in eine Frau, die „ihm nicht nur den Kopf verdreht, sondern ihm das Leben zurückgegeben hat und de[r] an diesem Abend und in den drei folgenden Jahren jede einzelne Kleinigkeit, die er denkt, sagt und tut, gewidmet ist“, wird er sogleich wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt. Durch das überbordende Liebesglück des Protagonisten offensichtlich provoziert, flüstert ihm ein ehemaliger Großgrundbesitzer während einer Dinnerparty ins Ohr: „Das nur, weil du nie an ein Bettgestell gefesselt warst, während zwei Typen dir die Eier verkohlen.“ Dem Glück wird das Leid gegenübergestellt, denn das eine gibt es in diesem Roman nicht ohne das andere.

Wie bereits in „Die Vergangenheit“ stehen die politischen Ereignisse jedoch nicht im Zentrum des Romans. Sie werden durch den subjektiven Wahrnehmungsfilter des politisch interessierten, aber passiv registrierenden Helden in den Roman eingespielt. Da dieser Blick auf die Dinge sehr genau ist, zeichnen den Roman detaillierte Situationsbeschreibungen aus, die sich stilistisch in komplexen Parataxen niederschlagen. Dass ein Satz über eine ganze Buchseite geht, ist nicht ungewöhnlich, fallen dem Erzähler doch immer weitere Details und genauere Erinnerungen ein – etwa, wie sein Vater roch und welche Monogramme seine Hemden zierten. Aufgrund der Satzungeheuer ist der Leser nicht nur einmal gezwungen, zum Satzanfang zurückzublättern. Was seitens der Grammatik passiert, nämlich der Verlust des Subjekts, spiegelt jedoch den gleichen Prozess auf inhaltlicher Ebene. Der Roman ist eine Studie über Erinnerung und Vergessen und – wiederum lässt Proust grüßen – der Suche nach der Vergangenheit, die schwer fassbar ist und permanent zu entgleiten droht. Politisch ist die Geschichte Argentiniens nach wie vor nicht vollständig aufgearbeitet, und die Lebensgeschichte des Protagonisten geht immer wieder zwischen den Lebensbeichten der anderen Figuren verloren.

Seine Gefühle und die Fähigkeit, diese beim Gegenüber auszulösen, bilden den Zugang des introvertierten Helden zu seiner Umwelt, doch in einem für ihn entscheidenden Moment gehen ihm die Tränen verloren. Während der Fernsehübertragung des Putsches gegen den kommunistischen Präsidenten Salvador Allende ist ihm plötzlich die nondiskursive Sprache der Gefühle verstellt und damit sein Weltbezug blockiert. Letztlich bleibt der Protagonist in einer Passivität gefangen, aus der heraus keine politische Aktion möglich ist: „Er hat nicht gewußt, was er hätte wissen müssen. Er war nicht auf der Höhe der Zeit. Er ist nicht auf der Höhe seiner Zeit und er wird es niemals sein. Er kann tun, was er will, denken, was er will, diese Strafe wird ihn für immer begleiten“, heißt es zum Schluss. Der Protagonist entwickelt sich nicht zum ‚Supermann der Geschichte‘. Seine Stärke liegt in der Beobachtung und der Intensität des sinnlichen Eindrucks. An die Stelle des Handelns tritt im Roman die Wahrnehmung, die detaillierten Alltagsbeschreibungen zeichnen das Leben in einer Militärdiktatur nach. Als rauschhafte Suche nach der persönlichen Identität des Helden sowie der geschichtlichen Vergangenheit des Landes entfaltet „Die Geschichte der Tränen“ ihren eigenen Sprachrhythmus und einen Lesesog, der den Leser nicht unbeteiligt lässt. Man darf hoffen, dass sich der Verlag möglichst bald zu einer weiteren Übersetzung dieses sprachgewaltigen lateinamerikanischen Autors entschließt.

Titelbild

Alan Pauls: Geschichte der Tränen. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.
143 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783608937107

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