Geschichten eines einzigen Lebens

Der Schriftsteller Raymond Federman (1928-2009) entfaltet erzählend eine Poetik der Selbstreflexion

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Alle meine Bücher kommen buchstäblich in Form eines Satzes zu mir, eines ursprünglichen Satzes, der das gesamte Buch enthält.“ So beschrieb Raymond Federman in einem Interview 1983 seine Arbeitsweise. In diesem einen Satz seien Rhythmus und Tonfall angelegt, und auch die für ihn grundlegende Form des Konditionals. Der Konditional „unterminiert die Wahrheit, die Wirklichkeit, die Gültigkeit, die Dauer, die Totalisation dessen, was in dem Buch dann folgt“. Federmans Prosa beinhaltet einen grundlegenden Zweifel an der Wahrhaftigkeit des literarischen Schreibens, und demnach auch an der Erinnerung. Um Erinnertes aber drehen sich alle seine Bücher – auch sein letztes: „Pssst! Geschichte einer Kindheit“. Es ist ein Jahr vor seinem Tod 2008 auf Französisch und fast zeitgleich auf Deutsch erschienen.

Federman wurde zweifach geboren: am 15. Mai 1928 aus dem Bauch seiner Mutter, und am 16. Juli 1942 aus dem Bauch eines Wandschranks. Auf diese Wiedergeburt bezieht sich der Buchtitel. „Dieses Pssst, ich habe es schon oft erzählt, war das letzte Wort, das ich von meiner Mutter gehört habe, als an jenem traurigen Julitag 1942 die Tür der Abstellkammer, in der sie mich versteckt hatte, hinter mir zuging… Pssst! Dann wirst du überleben.“

Doch kaum in Fahrt gekommen, meldet sich in „Pssst“ jäh eine zweite Erzählerstimme bemerkbar: „Scheiße, Federman, wie ernst das ist …“ Sein surfiktionales alter ego greift ein, um den Erzähler vor „verbrauchtem Realismus“ zu warnen. Was ist Erinnerung, was historische Wirklichkeit? Federmans Texte kreisen stets um diese Grundsatzfragen. Der Erzähler beteuert seinen Lesern: „was ich euch erzähle, ist reine Fiktion, weil ich meine ganze Kindheit vollkommen vergessen habe. Sie steckt in mir fest. Alles, was ich euch sage, ist also erfunden, nur Rekonstruktion.“

So blicken wir in die Untiefe seiner Prosa, die bezeugt, indem sie das Bezeugte hinterfragt. Der 14-jährige Junge trat aus dem Bauch des Wandschranks in eine völlig neue Welt hinaus. Die Kindheit blieb zerstört zurück – sie nun wieder aus dem Vergessen herauszuschälen, heißt für den 80-jährigen Federman, sie neu zu erfinden. Dies könnte mit den Mitteln eines beschönigenden Realismus geschehen, oder als ungefügter Textsteinbruch. Letzteres strebt Federman aus poetologischem Kalkül an.

Begleitet von den Einwänden des kritischen alter ego erzählt „Pssst!“ in Anekdoten und Abschweifungen eine jüdische Kindheit in der südlichen Pariser Vorstadt Montrouge. Die Verwandtschaft war weit verzweigt und verdiente durch solides Handwerk ihr Auskommen, einzig die eigene Familie bildete eine Ausnahme. Der Vater war Künstler, Spieler und Frauenheld – womit bereits gesagt ist, dass es im Hause Federman an allem und jedem fehlte. Die Mutter stopfte die Lücken, wo es ging, oft vergeblich. In diesem Umfeld wuchs der kleine Raymond als scheues, rachitisches Kind auf. So deutet es der Erzähler an.

In dem erwähnten Interview hat Federman geäußert, dass es beim Erzählen nie um die Geschichte selbst gehe, sondern um „die Art und Weise, wie ich Ihnen diese Geschichte erzähle“. Genau darin ist er ein Meister. Instinktiv schreckt er davor zurück, eine Kindheit in „miserabilistischem Naturalismus à la Zola“ zu erzählen, davor schützt ihn sein vorlautes alter ego, das interveniert, wenn die Erinnerung zu rund oder plakativ ausfällt. Federman zieht es vor, bloß jene Episoden zu rekonstruieren, die ungewöhnlich, lebhaft, einzigartig sind. Dafür bedient er sich auch aus eigenen frühern Texten – worauf ihm die zweite Stimme umgehend „Self-playgiarism“ vorwirft. Doch der Erzähler beharrt auf der Legitimität solchen Plagiierens – „der Bequemlichkeit halber und um schneller voranzukommen“. (In dieser Hinsicht bewegt sich Federman seit Jahrzehnten weit über über den aktuellen Plagiats-Diskursen).

Er ist ein listiger, gewitzter Erzähler, dem trotz beständiger Selbstreflexion immer wieder emotional anrührende Szenen gelingen. „Pssst!“ ist ein einzigartiges Buch, das mit einem Lachen zu ergründen versucht, weshalb gerade er überlebt hat. Er habe das alles geschrieben, um „das große Schweigen zu entschlüsseln, das meine Mutter mit mir und ihrem Pssst auferlegt hat, auferlegt wie eine Steuer.“ Diese entrichtet er in Buchform – hier nicht erstmals. „Pssst!“ vollendet, was in frühern Werken – allen voran in „Die Stimme im Schrank“ (1979) – in einem atemlosen Wortstrom noch verpuppt blieb.

Reminiszenzen an die Kindheit finden sich auch in „Mein Körper in neun Teilen“, insbesondere der traumatische Sturz vom Kirschbaum, der mit einem Bruch des linken Arms endete, weshalb aus dem kindlichen Links- ein Rechtshänder wurde. Federman unterzieht sich hier einer genauen Selbstbeobachtung, schaut sich in die Augen, dekliniert seine Zehen, streicht sich durchs Haar und erzählt Anekdoten über seine Nase. Seine große, rote jüdische Nase, die er trotz allem gerne mag, weil sie zu ihm gehört wie seine Narben.

„Mein Körper in neun Teilen“ ist nicht sein intensivstes Buch, aber es zeigt uns den Autor als einen lebenslustigen, schalkhaften und vor allem sympathischen Zeitgenossen. Die Dekomposition des eigenen Körpers in Einzelteile (die natürlich zusammengehören) und abschließend in eine Liste all dessen, was er mit diesem Körper täglich tut, verrät lächelnde Selbstliebe und hohe Sensibilität. Sie zeugen davon, dass erst einer, der sich selbst mag, auch andere mögen kann.

Apropos Links- und Rechtshänder. In einem früheren Aufsatz verbindet Federman diesen Wechsel mit seiner Zweisprachigkeit: Wie sein Freund Samuel Beckett schrieb er Bücher auf Englisch und auf Französisch, hin und wieder übersetzte er eigene Texte. Mit den beiden Sprachen sei es wie mit den beiden Händen, manchmal glaube er, „auf Französisch linkshändig und rechtshändig auf Englisch zu sein“.

Federman glaubt nicht an die Wirklichkeit in der Literatur, lieber entfaltet er in seinen Büchern mögliche Vorstellungen davon, was tatsächlich geschehen war. Dies gilt im Besonderen für den neu übersetzten Roman „Eine Liebesgeschichte oder so was“. Dessen Ausgangslage ist einfach: Moinous und Sucette stoßen auf dem Washington Square aneinander: Moinous ist ohne Geld auf der Suche nach einem Job, Sucette demonstriert engagiert gegen McCarthy. Sie lächeln sich kurz zu – und werden von der Menge wieder getrennt. Am selben Abend fliegt Moinous aus seinem Zimmer, das er nicht mehr bezahlen kann. Zwei Tage lang lebt er in hilfloser Ungewissheit, bis ihm das Glück einen neuen Job als Tellerwäscher beschert. Moinous denkt häufig an die lächelnde Blondine zurück, die ihm vielleicht hätte helfen können. Derweil schreibt Sucette an ihrer ersten Erzählung, mit der sie Schriftstellerin werden möchte. Ihre Hauptfigur Susan, die einer reichen Bostoner Familie entflohen ist, lässt sich mittellos in New York nieder, schließt sich den Kommunisten an und verliebt sich in einen schwarzen Agitator. Auf Rat ihres Literaturlehrers führt Sucette einen zweiten Liebhaber ein, den sie nach dem lächelnden Mann auf dem Washington Square gestaltet. Sucette nennt ihn „Moinous“, er ist Franzose, weil Sucette Franzosen sympathisch findet.

Hiermit jedoch beginnt sich die Geschichte zu verwirren, denn Moinous und Sucette, die sich ein paar Tage später aus Zufall wieder begegnen, tragen in Wirklichkeit andere Namen – die hier keiner Erwähnung bedürfen. Nachdem sich die beiden näher gekommen sind, erzählt Sucette ihrem Geliebten von Moinous und nennt ihn nach ihrer Figur, dafür verleiht er ihr den Namen Sucette – frei nach ihrer Heldin Susan. Diese Parallelkonstruktion entlarvt Federmans Text als schillernde Realitätsmaschinerie, die sich aus all den möglichen Wendungen eine erzählenswerte Geschichte herauspickt. Federman liebt es abzuschweifen, und er hasst es, chronologisch zu erzählen. Dies wird hier auf wundersame Weise manifest, indem er die simple Basiserzählung aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet, sie von eigenwilligen Impulsen ablenken lässt, bis allmählich eine ganze Geschichte erahnbar wird. Am Schluss bleibt offen, was in letzter Konsequenz aus jenem Lächeln auf der Washington Square resultiert.

Federman betreibt hier ein charmantes Spiel mit den zwei Liebenden im Kraftfeld von Realität und Fiktion. Gewieft spielt er mit den grammatikalischen Zeiten, so dass Tatsachen und Optionen ineinander verfließen und die zeitliche Disparität einebnen. Es könnte so oder anders geschehen sein, sagen wir im Februar, oder im März. Federman misstraut allzu stimmigen Geschichten. Im Konjunktiv signalisiert er Zurückhaltung, ob sich ein Leben überhaupt erzählen lasse.

Anders betrachtet kreiert er mit literarischen Mitteln so was wie einen Hypertext, der sich wundersamerweise dennoch als vergnügliche und gut verständliche Lektüre anbietet. Federman gelingt es brillant, die Selbstreflexivität in smarte Prosa zu verwandeln, die obendrein die eindrückliche Vorstellung eines Einwandererschicksals kreiert. Was dieser Moinous erlebt, entspringt abermals Federmans eigener Geschichte. Nicht zufällig gleichen sich ihre Lebensläufe, und ein kurzer Text im Buch „Loose Shoes“ (2001) stellt die Analogie her. Moinous ist nämlich Federmans Alias für alle Fälle: „es ist bloß ein Wort, ein erfundener Name. Er bedeutet ich / wir. Übrigens ist es auch der Name auf dem Nummernschild des Autors meiner Frau…. Moinous ist ominous.“

Er liebt das Spiel mit dem Spiel, ohne den Ernst zu verraten. Dies alles ist umso erstaunlicher, als es sich bei diesem Autor nicht um einen jugendlichen Revolteur handelt, sondern um einen schicksalhaft Davongekommenen. „Laughterature“ nennt Federman in „Pssst!“ seine Strategie, die ihm das Schreiben nach Auschwitz ermöglicht hat. „Literatur, die sich lachend selbst auslöscht, während man sie liest.“

Titelbild

Raymond Federman: Mein Körper in neun Teilen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Peter Torberg.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2008.
128 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783882217063

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Titelbild

Raymond Federman: Psst! Geschichte einer Kindheit.
Übersetzt aus dem Französischen von Andrea Spingler.
Weidle Verlag, Bonn 2008.
240 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783938803103

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Titelbild

Raymond Federman: Eine Liebesgeschichte oder so was.
Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2010.
224 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783882216820

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