Ein Stück herausgerissenes Leben

Eine literarische Wiederentdeckung Wolfdietrich Schnurres

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfdietrich Schnurre gehörte zu den wichtigsten und vielseitigsten Autoren der Nachkriegsgeneration. Der 1920 in Frankfurt am Main geborene und in Berlin aufgewachsene Autor war Mitbegründer der legendären „Gruppe 47“ und hat unzählige Erzählungen, Fabeln, Aphorismen, Gedichte, Hörspiele, Kinderbücher und Romane geschrieben. 1989 starb er in Kiel.

Nach dem Krieg war eine neue Welt entstanden: aus Schutt, Asche und Ruinen. Und so sollte auch die Literatur kahl und engagiert sein. Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur wie Wolfgang Borchert, Heinrich Böll oder eben Schnurre verarbeiteten ihre Erfahrungen der Kriegsjahre in kurzen und prägnanten Kurzgeschichten. Die Texte, die vor diesem Hintergrund entstanden, wurden kurz ,Kahlschlag-Literatur‘ genannt.

Lange Zeit in Vergessenheit geraten, liegen mit dem Sammelband „Funke im Reisig“ nun nach 33 Jahren, pünktlich zum 90. Geburtstag des Autors am 22. August 2010, Schnurres frühe Erzählungen aus den Jahren 1945-1965 wieder in Buchform vor. Neben der schonungslosen Darstellung der Nachkriegsrealität ist diese Kurzprosa als Warnung vor der Wiederkehr von Barbarei und Krieg zu verstehen. Dabei sind die Texte oft grotesk, voller Sarkasmus und Zynismus.

In der literaturgeschichtlich bedeutsamen, beinahe legendären Kurzgeschichte vom Begräbnis Gottes (1946) ist das Muster eines ,Kahlschlagtextes‘ überaus deutlich. Gott erhält ein armseliges Begräbnis mitten in der Nacht, die Sargkiste kommt ins Rutschen, der Pfarrer verliert nur ein paar Floskeln und schließlich wird der Verstorbene kommentarlos versenkt. Sein Tod weckt keinerlei Interesse, denn die Welt kommt sich gottverlassen vor.

Die 31 Kurzgeschichten des Bandes sind nach drei Schaffensperioden des Autors unterteilt. Das erste Kapitel mit dem exemplarischen Titel „Man sollte dagegen sein“ versammelt die frühen Nachkriegstexte. Das zweite Kapitel „Eine Rechnung, die nicht aufgeht“ präsentiert vorrangig Texte aus den 1950er-Jahren, während das Schlusskapitel „Funke im Reisig“ seine wohl bekanntesten Geschichten beinhaltet, die seinen Ruf als einen der bedeutendsten deutschen Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg festigten.

Schnurre erzählt schnörkellose Geschichten, deren Stil von Edgar Allan Poe und Ernest Hemingway geprägt ist. Ihre Stärke liegt in der Knappheit, im Weglassen. Er definierte die Kurzgeschichte einmal selbst als ein „Stück herausgerissenes Leben“. Seine Helden sind meist vom Krieg gezeichnete, desillusionierte Menschen, geschunden und schuldbeladen, die ihr Zuhause und alle Hoffnung verloren haben. Verfasst wurden die Geschichten in einer schmucklosen Alltagssprache, mitunter im Jargon, aber niemals banal. Sie erzählen nicht nur eine Geschichte, sondern immer auch ein Gleichnis, das unter der Oberfläche des Textes zum Vorschein kommt. Wolfdietrich Schnurre ist beileibe kein vergessener Schriftsteller, sondern eine Wiederentdeckung wert.

Titelbild

Wolfdietrich Schnurre: Funke im Reisig. Erzählungen von 1945 bis 1965.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
410 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783827009388

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