Die Ur-Graphic Novel
Über Will Eisners Frühwerk „Ein Vertrag mit Gott“
Von Fabian Kettner
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Fast ein körperlicher Schock“ war es, erinnert sich der Comic-Autor und Schöpfer des „Sin City“-Universums Frank Miller, als „A Contract with God“ 1978 herauskam. Für Will Eisner war es ein großes Wagnis, sagte er in einem ebenso informativen wie umfangreichen Gespräch mit seinem Kollegen Miller. Er war bereit, sich der Möglichkeit zu stellen, dass dieses Vorhaben ins Nichts laufen und dass niemand es haben wollen könnte. „A Contract with God“ war in dreifacher Hinsicht unerhört: Es war die erste Graphic Novel überhaupt; sie erschien nicht bei einem Comic-Verleger, sondern in einem renommierten Verlagshaus; Eisner war über 20 Jahre lang nicht mehr aktiv in der Comic-Szene gewesen.
Eisner wurde 1917 auf der Überfahrt seiner Eltern in die USA geboren. Sein Vater war ein jüdischer Immigrant aus Österreich, seine Mutter eine Österreicherin rumänischer Abstammung. Gemeinsam lebten sie in Brooklyn. Eisner absolvierte eine Ausbildung zum Zeichner und veröffentlichte mit 18 Jahren seinen ersten Comic-Strip in einer High-School-Zeitung. Im folgenden Jahr kam sein erstes Comic-Buch namens „Wow!“ heraus.
Ebenfalls 1936 gründete er zusammen mit Jerry Iger den ersten so genannten „comic shop“, eine neuartige Produktionsweise: Zum einen wurde Zeitungen erstmalig eine komplette Comic-Beilage als wöchentliche Sonntagsseite angeboten und zum anderen wurde bei der Comic-Produktion eine Arbeitsteilung zwischen Zeichnern, Tuschern, Colorierern, Textern und Schreibern eingeführt. In dieser Zeit entwickelte Eisner auch ein vorher nicht dagewesenes Format. Existierten Comics bis dahin nur als räumlich fest umrissener Strip auf einer Zeitungsseite, so kreierte er nun das Comic-Heft, mit dem ganze Seiten komponiert und eine eigene Erzählweise erfunden werden konnte.
Dann nahm er aber das Angebot an, für eine große Zeitung seine eigene Serie zu produzieren. Ab 1940 schrieb Eisner an „The Spirit“, in der er bis 1952 viele ästhetische Elemente und graphische Erzählweisen ausprobierte und in den Comic-Kosmos einführte. 1942 wurde er zum US-Militär eingezogen, wo er zunächst Armee-Zeitungen illustrierte und dann didaktische Comics herstellte, Gebrauchsanleitungen für Angehörige der Armee. Diese Arbeit führte er nach dem Krieg mit der Gründung des Magazins „American Visuals“ fort.
Im Jahr 1972 nahm er einen Lehrauftrag an der New Yorker Visual School of Arts an und besuchte etwas, das es zu seiner Zeit als Comic-Zeichner noch nicht gegeben hatte: Comic-Conventions. Eisner sagt im Rückblick, er habe sich wie Rip Van Winkle gefühlt, die populäre Figur des US-amerikanischen Schriftstellers Washington Irving, der zur Zeit der englischen Kolonialzeit in den Bergen New Yorks in einen 20-jährigen Zauberschlaf fällt und nach der Revolution von 1776 als US-Bürger wieder aufwacht. „Ich spürte, dass die Dinge anders liefen. Junge Menschen waren emsig in der Comic-Szene und Comics wurden in Comic-Bücherläden verkauft, was ich zuvor noch nie gesehen hatte.“ In der Zeit, die Eisner nicht in der Comic-Szene aktiv war, hatte sich diese komplett verändert. Vor allem durch den so genannten Underground-Comic, der sich in den 1960er-Jahren in den USA entwickelt hatte, emanzipierte sich das Medium von seiner urprünglichen Form des Strip in einer Zeitung. Sie waren aber nicht nur länger und größer, vor allem waren ihre Inhalte anstößiger und radikaler geworden. Der Comic hatte sich als eigenständiges Medium zu etablieren begonnen. Seinen Minderwertigkeitskomplex, nicht als Kunstform akzeptiert zu sein, hat er bis heute nicht verloren – oder trägt ihn auch als Ehren-Label vor sich her. Und Eisner profitierte nicht einfach von einer Veränderung, der er – untergründig, aber jenseits des Undergrounds – mit seinem „Spirit“ massiv vorgearbeitet hatte. Er führte sie mit „A Contract with God“ zur Revolution.
Im Rückblick sagt Eisner, dass ihm dies nicht bewusst gewesen sei. Er wusste zwar, dass das, was er tat, anders war, weil er etwas anderes schaffen wollte, und er habe auch zu einem ganz anderen Leser gesprochen als früher. Er überlegte sich, dass die 14- oder 15-jährigen Jungs, für die er Ende der 1930er-Jahre schrieb, nicht immer noch „Superman“-Geschichten lesen wollten, sondern auf etwas anders warteten, auf etwas Ernsteres. Laut Miller sehen viele der jüngeren Comic-Zeichner „A Contract with God“ als Wendepunkt an. Denn sie fingen an, sich selbst nun als Romanautoren anzusehen. Es war, als hätte Eisner mit seiner Ur-Graphic Novel gesagt, dass sie gemacht sei, um zu überdauern.
Diese Graphic Novel war ursprünglich ein Werk von rund 180 Seiten, die aus vier lose miteinander zusammenhängenden Geschichten besteht. Der vorliegende Band enthält außerdem die Geschichtensammlungen „A Life Force“ (1988) und „Dropsie Avenue: The Neighborhood“ (1995). In ihnen ist die komplette Eisner-Welt enthalten: Das Leben in einer harten Großstadt, historische Veränderungen und die Gewalt, mit der diese über die Menschen hinwegfegen, das Problem jüdischer Identität in der Moderne, das Verhältnis von Tradition und Wandel sowie die Suche nach Glück, Erfolg, Liebe und Anerkennung.
Die erste Geschichte gab dem Band seinen Namen und sie beginnt mit dem, was der Comic-Zeichner und Gründer des „Mad“-Magazins, Harvey Kurtzman, den „Eisnershpritz“ nannte. Bei seinen europäischen Kollegen von der ligne claire ist Regen immer – egal ob in Hergés „Tim und Struppi“, in Jean-Michel Beuriots und Philippe Richelles „Unter dem Hakenkreuz“ oder in dem Auschwitz von Eric Heuvel, Ruud van der Rol und Lies Schippers in „Die Suche“ – immer mild und harmlos, säubert die Welt, bereitet sie für den Glanz unter der Sonne nach dem Regen vor und unterstreicht die Reinlichkeit der eigenen Bilder. Wenn es bei Eisner regnet, dann so, als sollte die Welt ersäuft werden. Durch diesen Regen stapft Frimme Hersh, ein streng orthodoxer Jude, als er von der Beerdigung seiner Adoptivtochter Rachele nach Hause kommt. Dieser Frimme hatte als Zehnjähriger im Russland der 1890er-Jahre einen Vertrag mit Gott geschlossen. Die Dorfältesten, die die Pogrome überlebt hatten, hatten ihn von ihrem letzten Geld in die USA geschickt. Auf der Reise ritzte er in einen Stein einen Vertrag mit Gott – den er durch den Tod seiner Adoptivtochter von Gottes Seite aus gebrochen sah. Er spuckt auf den steinernen Vertrag und wirft ihn aus dem Fenster, rasiert seinen Bart ab, schlüpft aus seinem Kaftan in einen Anzug und kauft von der Bank das Mietshaus No. 55 in der Dropsie Avenue. Er steigt zu einem rücksichtslosen Geschäftemacher auf, der mit miserablen Mietshäusern und Immobilienspekulationen zu einem reichen Mann mit einer hübschen, vollbusigen und wesentlich jüngeren Frau wird. Doch seine Tradition kann er nicht abschütteln. Er kehrt zu seiner Gemeinde zurück und lässt sich von ihren Schriftgelehrten gegen reiche Bezahlung einen neuen Vertrag mit Gott aufsetzen. Sobald er diesen in seinen Händen hält, stirbt er an einem Herzinfarkt. Weder verherrlicht noch verteufelt Eisner Tradition und Herkunft um ihrer selbst willen. Dass man ihnen nicht entkommen kann, darin lässt er seine Figuren nicht sich schicken, aber er demonstriert an ihnen, dass man sie nicht einfach abschütteln kann, sondern sie reflektiert in seinen Lebensentwurf aufnehmen muss.
Der Vertrag mit Gott geht weiter. Nach Frimmes Tod muss Shloime Kreks, ein neu zugewanderter jugendlicher orthodoxer Jude in traditioneller Tracht, sich gegen die Jungs der Nachbarschaft wehren, die ihn mit einer Tracht Prügel willkommen heißen wollen. Unter den Steinen, die er aufhebt, um sie zu vertreiben, findet Shloime den Stein, auf den Frimme einst seinen Vertrag ritzte und den er nach dem Tod seiner Tochter aus dem Fenster warf. Er setzt seinen Namen unter den Frimmes.
In Eisners Geschichten steckt ein dostojewskihaft-dramatisch existenzielles Ringen. Seine Figuren bekommen etwas Shakespearhaftes, sie sind überzeichnet-lebendig, ihr Verhalten ist mitunter burlesk und theatralisch-ausladend in Gestik und in Mimik. Und in der Tat ist für Eisner jede Seite seiner Graphic Novels wie eine Szene aus dem Theater. Das gesamte Buch sei eine Abfolge von einzelnen Szenen, so Eisner im Gespräch mit Miller, jede Seite sei eine eigene Sequenz, die einen Anfang und ein Ende habe. Comics sind in seiner Sicht statisch. Er nehme „die alte Charlie-Chaplin-Perspektive“ ein, wo die Kamera sich nie bewege. Gleichzeitig ist der Comic für ihn neben dem Theater die einzige andere Form der Unterhaltung, die eine wirkliche, lebendige Verbindung zwischen dem Betrachter und dem Darsteller etabliert. Beide erforderten die Teilnahme des Betrachters.
Dies wird durch den Inhalt der zweiten Geschichte befördert. Denn hier zieht Joe, ein Mann mittleren Alters, durch die Hinterhöfe, um für Geld zu singen. Eines Tages bittet ihn eine Frau zu sich in die Wohnung. Einst war sie Opernsängerin, und nun will sie sich dafür einsetzen, dass Joes Talent entdeckt wird. Ihr designierter Zögling sieht sich schon als Star, ist aber erstmal weiterhin nur Alkoholiker, runtergekommen, arbeitslos und schlägt Frau und Baby im Suff. Aus seiner Karriere wird nichts, da er nicht zu seiner Fördererin zurückkehren kann, weil er sich ihre Adresse nicht gemerkt hat.
Die Menschen in diesen Geschichten sind häufig heruntergekommen, pathetisch, scheitern und quälen sich gegenseitig. Wenn er sich an seine Leser wendet, so Eisner, dann wolle er ein Schluchzen hören. Er wolle ihnen eine Geschichte erzählen. „Ich will meine Leser am Kragen packen und ich will sie zum Denken bringen und ich will sie zum Weinen bringen durch das, was ich ihnen erzähle.“ Dass ihm dies ausgerechnet in der dritten Geschichte gelingt, zeigt sein enormes Talent im Zeichnen wie im Geschichten Erzählen. Gleichzeitig wird hier sichtbar, was Eisner und Miller verbindet, die nicht nur auf den ersten Blick unterschiedlichen Welten anzugehören scheinen.
„Der Super“ ist ein Hausmeister in einem Mietshaus, groß, massig, grimmig, rücksichtslos, gemein, brutal und fies – genauso wie seine Dogge. Er wird zugrunde gerichtet durch Rosie Farfell, die frühreife Tochter einer Mieterin. Mal sieht sie aus wie ein Mädchen, dann wie eine Jugendliche, dann wie eine Lolita, dann wieder wie ein reifer Vamp. Sie geht von sich aus in die Kellerwohnung des Super und bietet ihm an, dass er gegen Bezahlung unter ihren Rock schauen darf. Danach vergiftet sie unbemerkt seinen Hund und stiehlt ihm sein Geld. Als er sie verfolgt, rufen die anderen Mieter die Polizei, woraufhin er sich in seiner Wohnung verbarrikadiert. Herzergreifend hält er seinen toten Hund im Arm und erschießt sich, als die Polizei seine Wohnung stürmt.
Durch fast alle Geschichten des gut 500 Seiten starken Bandes zieht sich als gemeinsames Band die Dropsie Avenue, eine imaginäre Straße in New York. Die letzte Erzählung ist eine gut 180 Seiten lange Historie dieser Straße, von 1870 an, als das Gebiet, das später die Bronx werden sollte, noch aus holländischen Bauernhöfen bestand, bis in die Gegenwart. Eisner zeigt, wie verschiedene Einwanderer-Kreise einander sukzessive ablösten: Auf die Holländer folgten die Iren, auf sie die Deutschen, dann die Italiener, die Juden, die Latinos, die Schwarzen, die Puerto Ricaner und dann wieder die Juden. Autos übernehmen das Straßenbild, durch die wenige Jahrzehnte später Hippies und Yippies gegen den Vietnam-Krieg ziehen. Schließlich verfällt das Viertel vollkommen, in ihm vegetieren nur Obdachlose und Junkies, und wird neu aufgebaut. Jede neue ethnische Gruppe wurde einst von der vor ihr verachtet, sie etablierte sich und verachtete dann die nächste Welle von Einwanderern. Die Straße und die Menschen, die in ihr wohnen, sind einer ständigen „schöpferischen Zerstörung“ (Joseph A. Schumpeter) und Erneuerung unterworfen. Bei aller unpersönlichen Macht der Verhältnisse gibt es in Eisners Stories aber immer Individuen, die diese Verhältnisse positiv verändern können. Ihre Erfolge werden wieder zunichte gemacht, aber die Möglichkeit zum Besseren ist gegeben. Die Bedingungen für ein Gelingen sind soziales Verantwortungsgefühl, Ehrlichkeit, Engagement und das erfolgreiche Funktionieren des melting pot. Die Menschen mögen ihre Herkunft und ihre Traditionen haben, aber sie müssen sich als Individuen für eine gemeinsame soziale Sache einsetzen.
Als Erbschaft, die er weitergeben könnte, würde er gerne erinnert werden als der, der einen Weg in den Wald geschlagen hat, wünschte sich Eisner. Er hat eine ganze Schneise geschlagen und dabei einen neuen Wald geschaffen.
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