Neunzehn verweht
In den Schuhen von Betti Lauban: Erdmöbel-Sänger Markus Berges gibt sein Romandebüt
Von Stefan Höppner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseOb Markus Berges wirklich „neben Rolf Dieter Brinkmann der andere große Kölner Dichter“ ist, wie die „Süddeutsche Zeitung“ einmal schrieb, mag dahingestellt bleiben. Da kann man im Namen einiger Übergangener, Lebender wie Toter, nun doch protestieren. Was Markus Berges aber tatsächlich ist: einer der großen Lyriker der deutschsprachigen Popmusik, der mit superben Metaphern und verwirbelter Syntax, „mit einer Stunde Schlaf und zwei Stunden Gin drin“ meisterhafte Songminiaturen drechselt, die dann von der Band Erdmöbel in filigranen Arrangements zum Leuchten gebracht werden. Das ist seit Gründung der Band vor etwa 15 Jahren so, wie auch das neueste, bisher dichteste Album „Krokus“ (2010) beweist. Das wäre aber noch nicht unbedingt ein Fall für die Literaturkritik, würde der 1966 geborene Berges damit nicht auch gleich sein Romandebüt auf den Markt bringen, „Ein langer Brief an September Nowak“.
Im Grund passiert nicht viel in dieser sommerlichen Road-Novel: Die neunzehnjährige Betti Lauban aus Westfalen besucht in Südfrankreich ihre Brieffreundin September Nowak. Leider stimmt an der gar nichts – sie ist keine glamouröse High-Society-Tochter aus dem nahen Monaco, sondern ein dickliches Mädchen aus armen Verhältnissen und heißt in Wirklichkeit Nicole. Die Fürstenresidenz kennt sie nur, weil ihre Mutter dort putzt. Betti fühlt sich betrogen und reist auf eigene Faust weiter, schließt sich der deutschen Hypnosekünstlerin Ingrid und deren Sohn an, die sie bis nach Port Bou mitnehmen (den spanischen Grenzort, in dem sich Walter Benjamin 1940 das Leben nahm). Dort angekommen, wendet sie sich wieder zurück. Mit der Deutschen Christine und deren Kindern fährt sie ins französische Carpit, nur dass sie jetzt zu September Nowak geworden ist und sich die bereits „gefälschte Identität“ der Brieffreundin angeeignet hat. Der hohe Anspruch an Aufrichtigkeit weicht dem offenen Spiel mit der Biografie. Am Ende und nach einer Affäre mit Christines Mann Marinus „Rien“ Schmidt kehrt sie müde und mit einem reichen Schatz an Erfahrungen zurück. Das liest sich leicht und macht Spaß, obwohl (oder weil?) Berges auf das euphorische Metaphernflirren seiner Songtexte verzichtet.
Hauptfigur Betti ist allerdings eine der jungen Frauen, wie sie Berges’ Songtexte des Öfteren bevölkern: „In den Schuhen von Audrey Hepburn“, „Au Pair Girl“ oder „Gesine aus der Nachtindustrie“ – urbane, selbstbewusste, melancholische und manchmal etwas verhuschte Mädchen zwischen Zwanzig und Dreißig in Porträts, von denen man nicht weiß, ob das, was liebevolle Hommage sein soll, nicht doch gelegentlich im Klischee erstarrt. Die Figur September Nowak zeigt vielleicht, dass Berges das vielleicht sogar weiß. Hier wird ja nicht nur eine falsche Glamour-Biografie inszeniert, im poetischen Namen schwingt auch die Hollywood-Ikone Kim Novak mit. Zu dieser Erkenntnis, dass das gefälschte Leben allemal interessanter sein kann als das wahre, gelangt Betti dann ja auch, mit allen guten wie schlechten Folgen. Vielleicht kann man sich Betti wie das Covergirl auf „Krokus“ vorstellen, das mit seiner Kamera auf der Rückseite mitten auf der Kölner Domplatte steht, beim Fotografieren fotografiert – eine Doppelbelichtung.
Aber es sind noch mehr doppelte Böden eingezogen. Zum einen liest Betti während ihrer Reise in E.T.A. Hoffmanns genialem „Meister Floh“, wo es ja auch um zweifache, wahre und falsche Identitäten und um den Doppelcharakter des Seins überhaupt geht. Betti wird nicht nur auf ihrer Reise Mitte der 1990er-Jahre festgehalten, sondern auch bei einem neuerlichen Besuch 2002. Und wenn das Zusammentreffen von Betti Lauban und „Rien“ Schmidt keine Hommage an den zeitweilig im schlesischen Lauban lebenden Arno Schmidt ist, dessen Roman „Kaff auch Mare Crisium“ mit den Worten „Nicht Niemand Nirgends Nie“ beginnt, schwört der Rezensent feierlich, demnächst einen Besen verzehren zu wollen.
Was die Qualität des Buches ausmacht, ist allerdings, dass alle diese Verweise nicht zum Ratespiel für Vielleser verkümmern, sondern über das Motiv der doppelten, fiktionalisierten Existenz eine Funktion bekommen (ob Walter Benjamins Sterbeort wirklich das gelungenste Symbol für Bettis Identitätswechsel ist?). Dazu passt auch, dass die Umrisse des Erzählers verschwimmen – mal kann er Bettis Innere blicken, mal behauptet er, genau das nicht tun zu können. Muss man ihm daher auch das abnehmen, was er ansonsten zu wissen behauptet?
Gerade die Dopplungen und kleinen Unstimmigkeiten sind es aber, die „Ein langer Brief an September Nowak“ letztlich gelingen lassen und über seine Oberfläche hinaus katapultieren. Dass Berges der „zweite deutsche Popmusiker sei, der auch als Literat überzeugt“ (Die Welt), ist wohl auf Sven Regener gemünzt. Aber der Vergleich hinkt. So wie Element of Crime und Erdmöbel völlig unterschiedliche Bands sind, so sind auch Regener und Berges völlig unterschiedliche Autoren. Aber dass Erdmöbel und Berges ähnlichen Erfolg haben wie die Berliner, kann man ihnen nur wünschen. Vor allem wird es spannend sein, den Prosaautor Berges weiter zu verfolgen. Um einen eigenen Romankosmos zu begründen, ist „Ein langer Brief an September Nowak“ ein guter Anfang.
|
||