Die Närrin und der Präsident
Charlotte Roche versucht sich als Judit
Von Dirk Kaesler
Ich gestehe es, ich bin positiv voreingenommen. Obwohl ich sie nie persönlich erlebt habe: Ich mag Charlotte Elisabeth Grace Roche, verheiratete Keß.
Ob sie tatsächlich „die beste Musikjournalistin dieses Planeten“ ist (Martin Spieß in literaturkritik, Nr. 06/2008), kann ich nicht beurteilen. Ich freute mich einfach an ihrer unverblümten Art bei ihren vielfältigen Auftritten im Fernsehen, die „Queen of German Pop Television“ (Harald Schmidt) ist mir immer sowohl eine visuelle als auch eine intellektuelle Freude. Die Trägerin des Adolf-Grimme-Preises von 2004 unterhielt mich vergnüglich mit ihrer Sendefolge bei „3sat“, in der sie Vertreter verschiedener Berufsgruppen bei ihrer Arbeit begleitete: unvergessen ihr Besuch bei einem Bestattungsunternehmen. Und auch ihre Auftritte in der Talkshow „3 nach 9“ mit Giovanni di Lorenzo waren es wert, gesehen und gehört zu werden, schon ihretwegen. Als dann im Februar 2008 ihr Roman „Feuchtgebiete“ erschien, las ich ihn und hörte darin mehr die Stimme eines sehr traurigen Scheidungskindes als die einer weiblichen Provokateurin, die mit Themen wie Intimhygiene, Analverkehr, Masturbationstechniken und Prostitution auf sich aufmerksam machen wollte. Ich gönne ihr das Geld, das sie damit verdient hat, ihr Leben war nicht gerade leicht gewesen. Ich sympathisierte mit ihrem Kampf gegen die schamlose Berichterstattung der „BILD“-Zeitung über den Autounfall ihrer schwerverletzten Mutter und ihrer drei Brüder, die dabei ums Leben kamen. Ihre Auftritte mit bewusst getragenem Achselhaar verstand ich als Versuch, den Frauen dabei zu helfen, den Terror der Enthaarungs-Industrie zu entlarven und Widerstand zu leisten. Ich war betrübt, als sie dann doch kapitulierte und sich dem Diktat der Barbie-Ästhetik aus dem Heidi-Klum-Universum unterworfen zu haben schien.
Das Angebot
Warum schreibe ich das? Weil ich durch eine Meldung, die durch (fast) sämtliche deutsche Medien verbreitet wurde, zum Schreiben dieser Glosse animiert wurde: Charlotte Roche, langjähriges engagiertes Mitglied bei „attac“, machte im Zusammenhang mit der noch ausstehenden Unterschrift des Bundespräsidenten unter das „Gesetz zur Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken“ in einem „SPIEGEL“-Interview dem Herrn Bundespräsidenten ein Angebot. Charlotte Roche sagte: „Christian Wulff muss dem Gesetz zur Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke seine Unterschrift verweigern. Ich würde anbieten, mit ihm ins Bett zu gehen, wenn er es nicht unterschreibt.“ Die „SPIEGEL“-Reporter fragten nach: „Sie tauschen Sex gegen Unterschrift?“ Ihre Antwort lautete: „Genau. Mein Mann ist einverstanden. Muss nur noch die First Lady zustimmen. Ich habe auch Tattoos.“
Soweit die Ausgangslage, die bei mir zu folgenden drei Nach-Denklichkeiten führt, an denen ich Sie teilhaben lassen möchte.
Das Amt und die Person
Kann es reiner Zufall sein, dass einen Tag nach dem „SPIEGEL“-Beitrag mit dem Beischlafangebot Charlotte Roches die Bundeskanzlerin glaubte, den wesentlich von ihr selbst designierten Bundespräsidenten öffentlich in Schutz nehmen zu müssen? Auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe hatte sie zuerst Horst Köhler, über dessen unerwarteten Rücktritt als Bundespräsident sie damals wenig amüsiert war, zum Opfer von SPD und Grünen stilisiert, um dann drohend – vor allem in Richtung der Pressevertreter – zu äußern: „Ein solcher Umgang mit einem Staatsoberhaupt darf sich nie mehr wiederholen.“ Das sei keine Lappalie gewesen, „sondern das ist von größter staatspolitischer Bedeutung für die Zukunft unseres Landes.“ Wo sie recht hat, hat sie recht, die energische Chefin im Bundeskanzleramt.
Die Frage dabei ist jedoch auch, ob ein Staatsoberhaupt wie der Bundespräsident nicht gut beraten gewesen wäre, sich beispielsweise das öffentliche Kokettieren mit seiner jetzigen Ehefrau zu sparen, als er gefragt wurde, ob ihr auffälliges Tattoo bei offiziellen Auftritten ein Problem sein könne: „Es ist kein Problem, es ist cool.“ Und genau darauf bezieht sich nun Charlotte Roche, woher sollte sie denn sonst wissen, dass die „First Lady“ tätowiert ist?
Es soll nicht zu spießig und altbacken klingen, aber diese trophäenartige Präsentation seiner Frau verärgerte mich. Und als dann in der „F.A.Z.“ – nicht in der „Bunten“ oder „Gala“ – nachzulesen war, dass es sich bei dem Oberarm-Tattoo von Bettina Wulff um „eine Mischform aus Tribal und Flammen“ handelt, die „etwas Aufstrebendes“ signalisiere, wie die dazu befragte Privatdozentin Dr. Aglaya Stirn, Abteilungsleiterin für psychosomatische Medizin der Frankfurter Universitätsklinik interpretierte, wunderte ich mich nur noch mehr. Diese praktizierende Spezialistin für „Körpermodifikationen“ (Spezialgebiet Schamlippenkorrektur) sagte in dem einschlägigen, ausführlichen Text unter der Überschrift „Die Flammen der Frau Wulff“: „Eine Bedeutung hat eine Tätowierung aber immer. Oft steht es für eine bestimmte Zeit im Leben, eine Körperbiografie. Etwas, das man an seinem Körper festmachen kann.“
Müssen wir das wissen? Was bedeutet es, dass derartige Informationen uns heute ungefragt über die Ehefrau des obersten Repräsentanten dieses politischen Gemeinwesens aufgedrängt werden? Was wussten wir über Elisabeth („Elly“) Heuss-Knapp, die Ehefrau des ersten deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss, außer, dass sie die Gründerin des Deutschen Müttergenesungswerks war? Auch hier sorge ich mich, dass meine Fragen zu reaktionär klingen, aber wie soll Respekt vor dem Inhaber dieses Amtes (noch) entstehen, wenn der zehnte Bundespräsident sein Privatleben mit detailfreudigen Homestories in alle Öffentlichkeit trägt? Muss ich wirklich wissen, unter welchen Umständen er die damalige Pressereferentin der Continental AG in Großburgwedel, Bettina Körner, in Südafrika kennenlernte, wie es ihm mit dem von ihr in die Ehe mitgebrachten Sohn geht, wie es sich anfühlt, einen kleinen, „eigenen“ Sohn zu haben, nach der Tochter aus seiner ersten Ehe?
Über Charlotte Roche und ihr „unmoralisches Angebot“ regen sich nun so manche (wollüstig? neidisch?) auf, aber die öffentliche Präsentation des Familienglücks im Schloss Bellevue wundert kaum jemanden. Auch in der „F.A.Z.“ musste ich lesen, dass es nun doch nichts wurde mit der Einlösung des Weihnachtsgeschenks an seine Frau – zwei Karten für das Konzert der irischen Rockband U2 in Hannover –, weil die Sicherheitsbegleiter das nicht mehr für ratsam hielten. Und dass der gemeinsame Sohn im Amtszimmer Wulffs eine „Spielecke“ eingerichtet bekommen hat. Selbst die jeweilige Kleidung der „großgewachsenen Frau, die sich mal elegant kleidet, mal lässig in Jeans“ („F.A.Z.“) wird regelmäßig kommentiert, wobei die Frage, ob man das flammende Tattoo sehen kann oder nicht, im Vordergrund zu stehen scheint: Die helle durchsichtige Bluse, mit der sie einstmals fotografiert wurde, hat sie schon länger nicht mehr getragen – vielleicht ist es derzeit einfach auch zu kalt.
Wer an die Überlegungen Max Webers bei den Beratungen über die Weimarer Reichsverfassung zur Funktion eines (plebiszitär gewählten) Reichspräsidenten als Nachfolgefigur des Deutschen Kaisers denkt, wer die Kette der Bundespräsidenten nach Theodor Heuss (Amtszeit 1949-1959) vor dem inneren Auge Revue passieren lässt (Heinrich Lübke 1959-1969, Gustav Heinemann 1969-1974, Walter Scheel 1974-1979, Karl Carstens 1979-1984, Richard von Weizsäcker 1984-1994, Roman Herzog 1994-1999, Johannes Rau 1999-2004, Horst Köhler 2004-2010) kann nicht gut verhindern, über einen Niedergang der Politischen Kultur in Deutschland zu sinnieren. Hätte Charlotte Roche ihr „Angebot“ einem dieser Vorgänger im Amt gemacht, einer Gesine Schwan etwa, einem Joachim Gauck? Es liegt gewiss nicht nur am Alter dieser anderen Personen, dass mir diese Möglichkeit unvorstellbar ist: Würde und Respekt sind keine einseitige Angelegenheit, sie bedingen sich wechselseitig.
Das Frauenopfer
Es ist ein altes Motiv: Eine (Jung-)Frau opfert sich für die Rettung eines Gemeinwesens. Für unseren Kulturkreis bringt es das „Buch Judit“ am eindrücklichsten zum Ausdruck: Die schöne und gottesfürchtige Witwe Judit geht unbewaffnet in das Heerlager des nebukadnezaischen Oberbefehlshabers Holofernes und enthauptet ihn mit seinem eigenen Schwert. Judit übernimmt dadurch indirekt die Rolle des Mose und rettet das Volk Israel. Judits mutige Tat ist keine Glorifizierung des Mordes oder Krieges, sondern eine gerade den mörderischen Krieg kompromisslos verurteilende Handlung. Das „Buch Judit“, das sich wie ein Roman liest, schildert die spätere Mörderin so: „Sie hatte eine schöne Gestalt und ein blühendes Aussehen. […] Niemand konnte ihr etwas Böses nachsagen; denn sie war sehr gottesfürchtig.“
Auch heute noch liest sich die Geschichte mindestens so spannend wie die derzeit so marktgängigen Fantasy-Romane: Wie Judit und „die Ältesten“ miteinander diskutieren („Alles, was du gesagt hast, kam aus einem edlen Herzen und es gibt niemand, der deinen Worten widersprechen kann.“), wie sie sich mit ihrer Dienerin in das Lager des Holofernes begibt („sie wusch ihren Körper mit Wasser und salbte sich mit einer wohlriechenden Salbe. Hierauf ordnete sie ihre Haare, setzte ein Diadem auf und zog die Festkleidung an […] Auch zog sie Sandalen an, legte ihre Fußspangen, Armbänder, Fingerringe, Ohrgehänge und all ihren Schmuck an und machte sich schön, um die Blicke aller Männer, die sie sähen, auf sich zu ziehen.“) und wie es dann zur Mordtat kommt („Judit stand auf, legte ihr bestes Kleid und ihren ganzen Schmuck an. […] Darauf trat Judit ein und nahm Platz. Holofernes aber war über sie ganz außer sich vor Entzücken. Seine Leidenschaft entbrannte, und er war begierig danach, mit ihr zusammenzusein. Denn seit er sie gesehen hatte, lauerte er auf eine günstige Gelegenheit, um sie zu verführen. […] Dann ging sie zum Bettpfosten am Kopf des Holofernes und nahm von dort sein Schwert herab. […] Und sie schlug zweimal mit ihrer ganzen Kraft auf seinen Nacken und hieb ihm den Kopf ab“).
Diese Geschichte von der für ihr Volk mordenden Judit hat die Fantasie vieler Maler (am heute bekanntesten die Darstellungen von Caravaggio, Peter Paul Rubens und Gustav Klimt), Komponisten (Domenico Scarlatti, Antonio Vivaldi) und Dichter (Friedrich Hebbel, das Erstlingswerk „Die Bibel“ des 15jährigen Bertolt Brecht) befeuert. Die einschlägigen Blogs über die Sex-Offerte von Charlotte Roche – bei „SPIEGEL“-online am Tag des Beginns dieses Textes waren 611 Beiträge verzeichnet – zeigen, wie sehr die heutigen Fantasien entzündet werden können. Was soll der Präsident mit diesem Angebot nun machen?
Im „Buch Judit“ steht nicht, dass es zwischen Judith und Holofernes zu sexuellen Aktivitäten kam – schon weil der Feldherr offensichtlich viel zu betrunken war, wozu ihn Judit animiert hatte – und auch Roche hat nur angeboten, mit Wulff „ins Bett zu gehen“. Alle Leserreaktionen zeigen jedoch, dass es für sie ausgemacht ist, dass es zu Sex zwischen den beiden kommen würde, allein die Einschätzung der Qualität dieses Angebots variiert: Von „Ich würde lieber unterschreiben!“ und „Das war sicher eher eine Drohung der Atomlobby!“ bis hin zu „Frau Roche, weiter so! Gerade die jungen Leute brauchen Vorbilder wie Sie, die ihren Protest nicht nur damit ausdrücken, indem sie ein Pappschild hochhalten.“ Und: „Endlich jemand, der sich für einen guten Zweck opfert. Frau Roche zählt sicherlich mit zu den ehrlichsten Mitbürgern unserer Zeit.“ Selbst die (ehemals) so seriöse „ZEIT“ titelt „Der Beischlaf der Gerechten“ und verdammt die „Moralapostel“, die einem jeden Spaß verdürben, wenn sie Roche nun verurteilen.
Wulff ist nicht Holofernes, Roche ist nicht Judit, Mord steht nicht zur Debatte. Ist es als Opfer für das unverstrahlte Gemeinwesen (ernst) gemeint? Auf der symbolischen Ebene könnte man es, mit einem Augenzwinkern, so verstehen. Wenn ich Christian Wulff wäre, würde ich – selbstverständlich nach eingeholtem Einverständnis der „First Lady“ – eine Einladung an das Ehepaar Kreß-Roche aussprechen. Vielleicht sollten die beiden Ehepaare sich einfach mal in der Adventszeit im Schloss Bellevue bei flackerndem Kaminfeuer zusammensetzen, ohne Presseberichterstattung. Und über AKWs reden, über Kindererziehung (Charlotte Roche ist Mutter einer 8-jährigen Tochter), über Tattoos und Achselhaare, über Scheidungskinder (sowohl Roche als auch Wulff), über Trennungen (da haben alle vier was beizutragen), über U2 (Roche war Mitbegründerin der Garagenrock-Band „The Dubinskis“) und über die Rolle der Medien, unter besonderer Berücksichtigung der „BILD“-Zeitung. Es könnte ein guter und unterhaltsamer Abend werden, für alle vier.
Von Narren an Höfen
„Hofnarren gab es im Altertum, im Mittelalter und weit in die Neuzeit hinein an fast sämtlichen Höfen – bei Kaisern und Sultanen, Päpsten und regierenden Bischöfen, Königen und Fürsten. Sie rekrutierten sich aus dem unerschöpflichen Reservoir der Volksnarren des platten Landes. ‚Seiten-Einsteiger‘, nicht selten Ritterbürtige oder Akademiker, verpflichteten sich freiwillig durch Verträge zu närrischem Dienst am Hof, in der Hoffnung auf weiteren Aufstieg.“ In der hier zitierten, lesenswerten Abhandlung „Von Narren an Höfen“ von 1991 hat der ehemalige Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, Clemens Amelunxen (1927-1995), eine bezaubernde kleine Geschichte der Hofnarren vorgelegt. Das Rechtsprivileg des offenen Wortes und der Redefreiheit, auf dem die historische Bedeutung des Hofnarrentums beruht, war ursprünglich ein religiöses Tabu, denn aus dem „Wahnwitzigen“ sprach Gott. Wo selbst mächtige Höflinge schweigen müssen, darf der Narr seine Meinung sagen, und bisweilen hört der Monarch allein auf ihn.
Es ist ein immer noch verbreiteter Irrtum, dass alle Hofnarren Krüppel, missgestaltete Zwerge, Geistesschwache oder gar Geisteskranke gewesen seien. Die großen geschichtlichen Figuren dieser Zunft waren das keineswegs. Es befinden sich unter ihnen eminent kluge Männer, die sich bewusst unter der Narrenkappe tarnen und verstecken, weil sie sonst ihre Botschaft nicht verkünden, ihren Einfluss nicht gezielt ausüben könnten. Der bewusste Anschein der Torheit bringt sie ans Ziel. Der Narr als Warner, der dem Fürsten den Spiegel vorhält, ist eine ehrenwerte, wenn auch heute wenig geachtete Figur.
Vielleicht braucht es heute eher die Figur der provozierenden Närrin, damit die Fürsten nach- oder besser vorausdenken.
Anmerkung der Redaktion: Seit Juli 2009 erscheinen monatlich in literaturkritik.de Dirk Kaeslers „Abstimmungen mit der Welt“.