Ein Philosoph wird demontiert

Taureck macht Nietzsches Entnazifizierung wieder rückgängig

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nietzsches Philosophie wurde wiederholt politisch missbraucht. Bereits 1904 benutzte sie der Psychologe G. Stanley Hall, um nachträglich den Völkermord an den Indianern zu rechtfertigen. Ein Jahrzehnt später rechnete man den Philosophen außerhalb Deutschlands zu den Mitschuldigen am Ersten Weltkrieg. Dann setzten ihn die Faschisten Italiens und Deutschlands auf ihre Fahnen. Nach 1945 war Nietzsche für Konservative und Linke einer der wichtigsten Vordenker der faschistischen Unrechtsherrschaft. Doch in keinem Text von Nietzsche tauchen Wörter wie Faschismus oder faschistisch auf. Kein anderes politisches Projekt habe dem Philosophen näher gestanden als das des Faschismus, behauptet der an der Technischen Universität Braunschweig lehrende Philosophiedozent Bernhard H. F. Taureck in seiner Studie "Nietzsche und der Faschismus" (sie erschien mit einem anderen Untertitel bereits 1989 und wurde inzwischen erweitert). Sein brutales Pathos sei geradezu prädestiniert gewesen für die Hetzreden charismatischer Demagogen.

Nietzsche habe, so Taureck, in den Sozialisten die Bedroher seiner Zeit gesehen. Er sei ein Gegenspieler des Marxismus gewesen und habe mit Demokratie, Liberalismus und Gleichberechtigung nicht viel im Sinn gehabt. Stattdessen suchte er nach "Endlösungen für die Sicherung der Ungleichheit der Menschen untereinander" und erging sich, vor allem im Spätwerk, in maßlose Ausrottungsphantasien gegenüber allem, was ihm missraten, entartet und parasitär erschien. Nietzsche sprach von Massenliquidationen im Dienst der Höherzüchtung und zur Sicherung von Ungleichheiten, damit Metaphysik nicht mehr möglich und Nihilismus nicht mehr nötig sei. Von Anfang an plädierte er für eine Kultur, zu deren Bedingungen "Sklaverei" und zu deren Zielen eine Rang- und Kastenordnung mit einem Typus von Herrscher gehören, der eine Art Anarchie von oben lebt. Alle diese Ideen habe sich der Nationalsozialismus später zunutze gemacht, meint Taureck, ohne zu verkennen, dass Nietzsches Denken widersprüchlich war. Auf der einen Seite trat er für Krieg und Machiavellismus ein, auf der anderen Seite war er Pazifist und befürwortete eine politikferne Individuation. Zudem war er ein Feind der Antisemiten, erwärmte sich aber zugleich für eine, von den meisten wenig beachtete politische Rassenontologie.

Taureck vergleicht, wobei er sich auch auf Ernst Nolte bezieht, Nietzsches Ansichten mit Äußerungen von Mussolini, Goebbels und Hitler, den er den "germanofaschistischen Führer" oder den "Nekrophilen aus Braunau" nennt, und entdeckt bei Nietzsche mehr Züge des Protofaschismus als bei allen anderen Denkern, auf die sich die Nazis beriefen. Zudem stellt der Autor Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsche und Machiavelli fest und versucht zu beweisen, dass Nietzsche ausgerechnet Gobineaus dubioser Rassenlehre auf den Leim gegangen sei und viele seiner Rede- und Denkweisen mit übernommen habe. Obwohl doch Nietzsche, dieser Einwand sei hier eingeworfen, den Antisemiten und Anhängern von Gobineaus Rassenlehre, die in ihm einen guten Bundesgenossen vermuteten, eine klare Absage erteilt und in seinen Notizen gemahnt hatte: "Mit keinem umgehen, der an den Rassenschwindel glaubt!" Nietzsche habe, legt der Autor weiter dar, zwar eindeutig für die Herrschaft weniger über viele votiert, aber auf die Begründung verzichtet - ein Privileg, das Ortega y Gasset sarkastisch den Faschisten zusprach, merkt Taureck an. Außerdem wollte er eine unzertrennliche Einheit von "Verbrechertum" und "Vollkommenheit". Wer jedoch normative Zerstörung fordert, folgert Taureck, spreche primär einem Täter das Recht zum Zerstören zu und setze die Opfer als rechtlose Objekte der Destruktion voraus.

Der Autor betont, dass es ihm nicht um Schuldzuweisungen gehe, er räumt ein, dass Nietzsche für den Faschismus nicht haftbar zu machen sei; und er verdeutlicht, dass er die produktive Nietzsche-Rezeption fortsetzen möchte und auch nach antifaschistischen Potentialen des Denkers Ausschau gehalten habe. Doch man wird bei der Lektüre seines Buches den Verdacht nicht los, dass es ihm in erster Linie darauf ankam, der Reinwaschung Nietzsches von faschistischen Ansätzen und seiner bisherigen "Entnazifizierung" ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, auch wenn er zahlreiche Argumente und Gegenargumente prüft und sich allem Anschein nach redlich bemüht, anhand diverser Textstellen aus Nietzsches Gesamtwerk seine eigenen Thesen präzise zu belegen, wobei er viele Umwege zurücklegt und sich die Sache wahrlich nicht leicht gemacht hat. Taureck hat von Dühring bis Habermas eine Fülle von Sekundärliteratur gesichtet und den französischen Nietzscheanismus und viele Urteile über Nietzsche und den Faschismus zusammengetragen, um belegen zu können, dass die Zahl jener, die eine Übereinstimmung zwischen Nietzsche und dem Faschismus hervorheben, überwiegt. Diese hätten die stärkeren Argumente, während die andere Seite nicht in der Lage sei, Nietzsches politische Philosophie schlüssig vom Faschismus abzugrenzen, da die antifaschistischen Potentiale bei Nietzsche eher aus ihm gefolgert als bei ihm selbst gefunden werden könnten. Taureck verhehlt nicht seine offensichtlich von Anfang an feststehende Absicht, die Nietzsche-Apologeten zu widerlegen und das Wort von Emmanuel Lévinas "Auch Hitler selbst wird man bei Nietzsche wiederfinden" zu bestätigen. Ziehe man, merkt Taureck an, E. M. Ciorans Aperçu hinzu, dass das 21. Jahrhundert "Hitler und Stalin als Chorknaben betrachten werde", so erscheinen Nietzsches Vernichtungsvisionen umfassender als die Aktionen des abgelaufenen Säkulums.

Taureck beklagt ferner, dass Nietzsches Antijudaismus allgemein verkannt werde, ohne zu bedenken, dass der Philosoph beim Judentum immerhin drei Phasen unterschieden hat: das von ihm stets lobend erwähnte alte Israel in der Zeit des Königtums, das von ihm weniger geliebte jüdische Priestertum, aus dem das Christentum hervorging mit all den von Nietzsche immer wieder angeprangerten negativen Erscheinungen, sowie das Judentum der Diaspora, das, wie Nietzsche stets rühmend hervorhob, dem verdunkelnden Christentum das "Banner der Aufklärung" entgegenhalte. Merkwürdig, dass Taureck, obwohl er doch so genau und umsichtig zu argumentieren vorgibt, diese gravierenden Unterschiede nicht sieht und dabei unterschlägt, dass sich Nietzsche immer dagegen gewehrt hat, mit dem Antisemitismus in Verbindung gebracht zu werden. An seine Schwester nach Paraguay, die mit dafür gesorgt hat, dass ihr Bruder von den Nazis in Beschlag genommen werden konnte, schrieb er: "dass ich nichts dagegen zu tun vermag, dass in jedem antisemitischen Korrespondenzblatt der Name Zarathustra gebraucht wird, hat mich schon mehrere Male beinahe krank gemacht."

Vielleicht hätte sich der Verfasser an Thomas Manns Ausspruch nach dem Zweiten Weltkrieg halten sollen: "Wer Nietzsche eigentlich nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren." Möglicherweise wäre dann sein Urteil über den Philosophen weniger unnachsichtig und weniger unbarmherzig ausgefallen. Thomas Mann sah wie Ernst Jünger in Nietzsche einen Diagnostiker seiner Zeit, der, laut Jünger, die nahenden Katastrophen geistig erfasste und daran zerbrach. "So zu zerbrechen war das Schicksal Nietzsches" - Taureck zitiert hier Jünger wörtlich -, "den zu steinigen heute zum guten Ton gehört. Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen. Man kann jedoch die Barometer nicht für die Taten büßen lassen, falls man nicht zu den Primitiven zählen will." Das ist klar, deutlich, unmissverständlich und auch heute noch gültig. "Was kann Nietzsche dafür, dass die Politiker nachträglich bei ihm ihr Bild bestellten?", gab Benn seinerzeit zu bedenken. Aber all dies will Taureck nicht gelten lassen. Er stellt Nietzsche nicht nur als Diagnostiker und Unheilspropheten, sondern auch als Unheilsbringer und Unheilsverursacher an den Pranger, weil der "Alleszermalmer" keine Alternativen antizipiert habe, sondern auf einen Globalfaschismus fixiert geblieben sei. Taureck ist, wie er gegen Ende seines Buches zu erkennen gibt, keineswegs blind für die anderen Gesichter Nietzsches. Aber der knappe Hinweis darauf nimmt sich nach all den furios vorgetragenen Argumenten und Überinterpretationen doch recht matt und kläglich aus.

Bedenkenswert sind allerdings Taurecks zum Schluss noch angestellten Überlegungen: Nietzsches Forderungen umfassender Destruktion, so der Verfasser, "dessen, was parasitisch und entartet ist", lassen sich durchaus auch an sozialistische und ebenso an kapitalistische Konzepte anschließen. Selbst die ungehinderte Globalisierung durch Wettbewerb könnte Nietzsche, wie schon geschehen, neben Hobbes und Darwin als dritten Vordenker globalisierten Wettbewerbs in Anspruch nehmen. Denn Nietzsches "normativer Destruktionsdiskurs bleibt strukturell substanzlos." Es komme nun darauf an, "zu verhindern, dass dieses Gespenst aus seiner Vergangenheit in die Gegenwart abwandert wie jener Geist von Hamlets totem Vater." Aber liegt nicht, so wäre zu überlegen, die Verantwortung letztlich immer bei denen, die Ideen in die Praxis umsetzen?

Nach dieser für viele Leser und Nietzsche-Kenner sicherlich höchst ärgerlichen Demontage des Philosophen bleibt die Frage nach dem eigenen Urteil über dessen Verhältnis zu Nationalsozialismus und Faschismus. Unbestritten ist wohl, dass der Philosoph Friedrich Nietzsche Wege eröffnet hat, die er selber nie gegangen wäre und nie gut geheißen hätte. Gewiss ist auch, dass ein großer Teil der verhängnisvollen Gedanken von Nietzsche, die von antisemitischen Autoren, Politikern und Demagogen bis hin zu Hitler und seiner Gefolgschaft zur Vorbereitung eines Weltenbrandes missbraucht wurden, mit der Humanität, die der Philosoph in seinem Werk immer wieder bezeugt hat, nicht zu vereinbaren ist. Überdies war der menschenscheue Skeptiker und extreme Individualist Nietzsche mit seinen wenig staatstragenden Ideen, mit seiner Abneigung gegenüber Gemeinschaftsmythos, Kriegskult, Nationalismus und Antisemitismus alles andere als ein Propagandist der NS-Ideologie und schon gar kein Bewunderer der von den Nazis hochgeschätzten Germanen.

Titelbild

Bernhard H. F. Taureck: Nietzsche und der Faschismus.
Reclam Verlag, Leipzig 2000.
304 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 337901687X

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