Wer erzählt hier eigentlich welche Geschichte?

Michael Köhlmeier denkt in seinem Roman „Madalyn“ über die erste Liebe und das Glück des Beschreibens nach

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach den eindrucksvollen Nacherzählungen antiker Mythenstoffe und dem monumentalen Jahrhundertepos „Abendland“ (2007) gilt das Hauptinteresse Michael Köhlmeiers in den letzten Jahren offenbar wieder Geschichten, die nebenbei und zwischendurch passieren, aber nie belanglos wirken. Da ist die anrührende Novelle „Idylle mit ertrinkendem Hund“ (2008), in der emotionaler Analphabetismus und menschliche Verletzlichkeit kunstvoll aufeinander bezogen werden. Die meisterhaft komponierte Geschichte von der herumstreunenden „schwarzen Bestie“ und dem vornehm zurückhaltenden Lektor Dr. Beer mit seiner Hunde- und wohl Menschenphobie ist auch ein Versuch, sich mit dem Tod der bei einer Bergwanderung verunglückten Tochter literarisch auseinanderzusetzen. Da sind dann die bekannten, aber auch einige bisher unveröffentlichte Erzählungen; aufgelesen „Mitten auf der Straße“ (2009) über das Leben; Belanglosigkeiten und Bekenntnisse, erzählt zwischen Gulaschsuppe und Würstchen oder ganz einfach am Telefon. Man kennt sie, man liebt sie.

In die Reihe dieser großen kleinen Geschichten, deren Lektüre uns in unserer schnelllebigen Zeit den willkommenen Grund zu einem kurzen Innehalten liefert, gehört auch Köhlmeiers neuer Roman „Madalyn“. Er erzählt von den Freuden und Schmerzen der ersten Liebe eines Nachbarkindes des Schriftstellers Sebastian Lukasser, den der Leser aus dem Roman „Abendland“ kennt. Nach seinem letzten Buch arbeitet er an einer neuen Geschichte über einen Mann, der in den Jugendjahren einen Mord begangen hat, und will mit nichts zu tun haben, „was sich außerhalb [s]eines Kopfes abspielt“. Zwar denkt Madalyn, dass er für sie verantwortlich ist, weil er ihr vor Jahren das Leben gerettet hat, doch Lukasser ist gerade mit der Wahl einer adäquaten Erzählperspektive beschäftigt und auch sonst ein „eigenbrötlerischer Egoist“.

Madalyn Reis ist vierzehn und hoffnungslos in ihre pubertären Abnabelungsversuche verstrickt: Sie hasst ihren Familiennamen, ihr gedichtloses Zuhause und ihre Eltern. Sie sollen Gerüchten aus dem Treppenhaus zufolge irgendeiner christlichen Sekte angehören, aber vielleicht sind sie ganz einfach nur gefühlskalt, vermutet Lukasser. Verliebt ist Madalyn in Moritz Kaltenegger, von dem sie zunächst nur ein Gedicht kennt. Die Deutschlehrerin hat es ihnen in der Klasse vorgelesen. Man könnte bei einer Exkursion nach Weimar ungezwungener zusammen sein, doch sie darf – oh elterliche Willkür! – nicht mit. Der Schriftsteller lehnt wiederum ab, bei der ihm unsympathischen Mutter Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn die Verantwortung dem Leben gegenüber besteht für ihn seit kurzem darin, „das eigene Erleben so gering wie möglich zu halten, weil ich das Glück des Beschreibens für unvergleichlich größer empfand […]. Ich hatte mir so fest vorgenommen, mich nie wieder – nie wieder! – in die Angelegenheiten anderer Menschen einzumischen.“ Der Junge hat einen miesen Ruf, behandelt die Kleine schlecht, sodass er bald – ob er will oder nicht – am Gefühlschaos teilhaben wird.

Dass Moritz ein notorischer Lügner ist, stellt sich schnell heraus. Er hat nicht nur das Gedicht im Internet abgeschrieben, sondern auch das Sieben-Meter-mal-fünf-Meter-Graffito an der Kaimauer des Donaukanals ist das Werk von jemand anderem. Als Madalyn die Widmung „Für Claudia“ entdeckt, gesteht Moritz, dass nur diese von ihm stammt, doch mit dem Mädchen aus der Parallelklasse will er nichts mehr zu tun haben. Es ist alles längst aus und vorbei. Oder doch nicht? Die feinfühligen Schilderungen der ersten Wochen der Verliebtheit, die zu den schönsten Passagen des Buches gehören, werden immer rarer und schließlich vom großen Zittern abgelöst: Madalyn fantasiert sich nicht mehr als glückliche junge Frau und auch die Anthologie mit den modernen Liebesgedichten, die angesichts der Intensität der eigenen Gefühle abschätzig als Nichts tituliert wurden, wird in der Buchhandlung zurückgegeben, um eine Wertkarte fürs Handy kaufen zu können. Er hat nämlich achtmal angerufen und nicht zurückrufen können, es ist „wie im Gefängnis zu sein“.

Eines Tages stehen sich der pubertierende Betrüger und der professionelle Lügner gegenüber. Sie sind sich nicht unähnlich, weiß Lukasser, denn beide brauen ihre Parallelwelten aus Dichtung und Wahrheit zusammen. Gewiss, ihre Beweggründe sind anders, aber „[w]ie viele Bücher würden wir verabscheuen“, heißt es, „wenn wir die Geschichte ihrer Entstehung wüssten“. Dieses ist das Ergebnis einer ungewollten Einmischung. Hätte man nicht, entgegen jeder Vernunft, den beiden die eigene Wohnung für die erste Liebesnacht zur Verfügung gestellt, müsste man sich jetzt nicht wegen des Verschwindens des Mädchens sorgen und es später vom Balkongeländer holen. Doch die Teilhabe am Zauber, den sie über all die Dinge legt, und die Sorge um sie, daran lässt Köhlmeier keinen Zweifel, sind allemal besser als ein Leben im Abseits. Denn gerade dorthin hat sich Lukasser in den letzten Jahren hineinmanövriert.

Die kurze Geschichte endet so wie sie ihren Anfang nahm: prosaisch. Bald wird Madalyn in Hongkong leben, wo ihr Vater, ein Computerfachmann, eine neue Stelle bekam. Sie wird von Moritz und ihrem früheren Ich Abstand nehmen. Was ihr bleibt, sind die Erinnerungen und – wie beim Leser – die Sehnsucht nach einem reinen, unverfälschten Gefühl: Das der ersten Liebe. Michael Köhlmeier ist einen kurzen Roman lang ihr würdiger Chronist gewesen.

Titelbild

Michael Köhlmeier: Madalyn. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
176 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235977

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