Kriminale Bildungsreise

Viktor Iros Budapestreiseführer gibt sich als Krimi aus

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lesen bildet – das ist keine neue Erkenntnis, sondern dem Lesen nun einmal eingeschrieben. Denn wer sollte etwas notieren wollen – und seien es nur Zahlen –, wenn er nicht davon ausgehen würde, dass ein anderer das nicht nur zur Kenntnis nimmt und es zu entziffern weiß, sondern auch noch daraus lernt. Zum Beispiel wie voll das Lagerhaus ist und wo Weizensack Nr. 5241 lagert.

Kriminalromane haben sich diese Eigenheit des Schreibens und Lesens zu Herzen genommen und das Subgenre des mehr oder weniger elaborierten habituellen Reiseführers ausgebildet. Da lernen wir die Eigenheiten eines rechtschaffen durchgeknallten Ermittlers kennen, seine Lebens- und Liebesgewohnheiten, was er gern isst und vor allem trinkt. Das füllt Seiten und ist meist schlimm, aber die Leute wollen das.

Ohne Donna Leon sähe etwa das Venedig-Bild des Rezensenten ganz anders aus und es würde etwas an Amsterdam fehlen, wenn man nicht die wunderbaren Krimis von Janwillem van der Wetering gelesen hätte.

Und so reisen wir durch die Krimiwelt und lernen neue Scheinwelten und Reiseziele kennen. Viktor Igo kommt jetzt hinzu und führt uns in postsozialistische Budapest ein.

Anlass – und viel mehr ist es auch nicht – ist der geheimnisvolle Tod eines ungarischen Europapolitikers, der erschossen in einem Thermalbad gefunden wird. Da die örtlichen Verantwortungsträger einen terroristischen Hintergrund vermuten – was damit als wohlfeil daherkommen kann – wird ein erfahrener, ungarisch sprechender Ermittler von Europol hinzugezogen, der Exil-Ungar Antal Peringer, der gemeinsam mit einer ehrgeizigen „Nachwuchskommissarin“ – ja, so wird sie genannt – Viki Kiss, den Fall lösen soll und lösen wird. Peringer nun, der aus Ungarn in den 1950er-Jahre geflohen ist, kehrt damit endlich, endlich in seine alte Heimatstadt zurück. Und das ist natürlich Motor der eigentlichen Geschichten, die Viktor Iro zu erzählen hat. Denn Peringer ist eine derart synthetische Gestalt, dass sie schon wieder interessant wird. Ein alter Mann, der dahin zurückkehrt, woher er kommt, wird sicherlich vor allem alle Ort, Straßen und Wege aufzählen, die er früher einmal gegangen ist und nun wieder findet. Er wird das mit Genuss einzuholen versuchen, was er damals zurückgelassen hat. Eine Zeitreise, was sonst?

Iro legt seinen Krimi auf verschiedenen Ebenen an, und anzunehmen ist, dass er damit jeden bedient, der ein solches Buch in die Hand nimmt: den Krimileser und denjenigen, den die Stadt interessiert, das Essen, den Wein und nicht zuletzt die Geschichte. Denn Iros Roman arbeitet in seinem Krimi an mehreren Linien entlang, und die Ermittlung ist nur eine davon. Die wichtigste ist dabei jene, die am Ambiente der alten ungarischen Metropole interessiert ist. Und als ob der Text es nicht sowieso hergeben würde: Dem Krimi ist sogar ein Stadtplan beigefügt, in dem der Schauplatz und alle Wege wieder auffindbar sind.

Iro führt durch Budapest – Straßennamen und Plätze bilden das Orientierungsraster. Die Szenerie übernimmt das Kommando. Daneben ist Iros Krimi natürlich auch ein kulinarischer Führer. Leser lernen ungarische Weine kennen, Gerichte, deren Zubereitung und ihren Geschmack. Das ist hübsch und appetitanregend, aber in einem blutigen Genre wie dem Krimi? Vielleicht als Kontrast zum Verbrechen gedacht? Die heile touristische Oberfläche? Unwahrscheinlich und zu kompliziert gedacht für einen solchen Text.

Aber natürlich wird einem noch mehr geboten als das: Ein Einblick in die Biografien und Karrieren der Ermittler erhält man auch. Die junge Frau Kiss ist zudem ehrgeizig und zugleich verkannt, der alte Herr Peringer ist genusssüchtig und erinnerungsselig. Das darf er auch, solange er so gut isst. Nun muss er aber auch ermitteln, und damit kommt eine weitere Linie in Iros Krimi zum Vorschein. Denn der Text führt eben außerdem in die Basics der Nachkriegsgeschichte ein, zu der nicht zuletzt die Flucht Peringers gehört. Er hat damals Freunde zurückgelassen, die unter dem Regime gelitten haben. Und jetzt kommt er nach all den Jahren zurück.

Ja, das ist ein erschütternder Augenblick, der zugleich etwas mit dem Verbrechen zu tun hat. Aber er ist eben auch nur Anlass für den historischen Rückblick, für einen kurze erzählerischen Abriss der ungarischen Nachkriegsgeschichte, der zugleich die Brüche und Kontinuitäten nach 1989 thematisiert.

Das ist ganz hübsch gemacht, und wie die Fäden immer wieder zusammengeführt werden, um so etwas wie ein Gesamtensemble zu bilden, spricht für Iros Vorhaben. Nicht zuletzt der angenehm leise Ton, in dem er seinen Krimi inszeniert. Nur: Als Krimi wirkt er dadurch überladen und überfordert. Was man schade finden oder ignorieren kann. Letzteres ist für Budapest-Freunde sowieso die beste Wahl.

Titelbild

Viktor Iro: Tödliche Rückkehr. Kommissar Peringer ermittelt.
Piper Verlag, München 2010.
214 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783492258142

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