Ein langer Brief zum Abschied

Signe von Scanzoni über Erika Mann

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Im Gegensatz zu mir haben Sie noch ein langes Leben vor sich und müssen sich wiederfinden. Und das Letzte, was Sie noch für sie tun konnten, haben Sie noch schön organisiert, die Trauerfeier in der kleinen Kilchberger Kirche.“ Das schrieb Katia Mann am 29. September 1969 an Signe von Scanzoni, einen Monat nach dem Tod ihrer Tochter Erika. Vorausgegangen waren fünf lange Monate der Qual und des elenden Sterbens der Vierundsechzigjährigen in einem Zürcher Krankenhaus, während deren die Freundin Signe täglich viele Stunden am Bett der Todkranken verbrachte. Sie war auch zugegen, als Erika Mann starb.

Begreiflich also, dass die um zehn Jahre Jüngere sich nach dieser Erfahrung „wiederfinden“ musste. In den folgenden Monaten schrieb sie, als Musikjournalistin im Schreiben nicht ungeübt und nicht ohne literarische Ambition, einen „Bericht über Erika Mann“, eine in Form fiktiver Briefe an Erika Mann gefasste Rekapitulation zweier Lebenserfahrungen und des gescheiterten Versuchs, ein Zusammenleben zu organisieren. Der Obertitel „Als ich noch lebte“ geht auf Erika Mann zurück. Sie verweist damit auf die Einbuße an eigenem Leben, die sie als „Nachlaßeule“ ihres Vaters, des „Zauberers“ Thomas Mann, erlitt. Scanzoni bezieht das Diktum wohl auf sich, um ihr nach dem Tode Erikas geschwächtes Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen. „Ich werde mich noch eine Zeit im Nichtleben üben“, hatte sie am Ende des Vorworts geschrieben, das sie später offenbar verwarf, wie sie überhaupt sich nicht überwinden konnte, diese „Geschichte einer Passion und eines Irrtums“ zu ihren Lebzeiten zu veröffentlichen.

Der sorgsam edierte und kommentierte sowie mit einem überaus instruktiven Nachwort versehene Text folgt dem Typoskript, das sich in Signe von Scanzonis Nachlass – sie starb 2002 – zusammen mit etwa 100 Briefen und Telegrammen Erikas und vier Briefen Katia Manns an sie fand. Ihre Gegenbriefe fehlen gänzlich, was die in Sachen Erika Mann erfahrene Herausgeberin Irmela von der Lühe („Erika Mann. Eine Biographie“, 1993) durchaus plausibel „planvolles Handeln“ vermuten lässt. Ihr Blick fällt dabei auf die „Sekretaria“, womit nur die seit 1955 im Hause Mann tätige Anita Naef (1924-2000) gemeint sein kann, die sowohl ihr wie Inge und Walter Jens für „Frau Thomas Mann“ (2003) als Gewährsfrau zur Verfügung gestanden hat. So erklärt sich vermutlich, warum der Name Signe von Scanzoni in Verbindung mit Erika Mann in beiden Biografien nicht vorkommt.

Die Vermutung in Bezug auf die Sekretaria gibt eine Ahnung von der intrigen- und eifersuchtsschwangeren Atmosphäre im Kilchberger Haus der Manns in den 1960er-Jahren, wo „Du ein limitiertes, kontrolliertes und kommentiertes Privatleben hast“. Andererseits, Erika selbst überhäuft sich mit Arbeit, so vor allem mit der dreibändigen Edition der Briefe Thomas Manns, die zwischen 1961 und 1965 erscheint, „für welche Du aber die Hilfe ‚der Mitglieder Deines Hauses‘ nicht in Anspruch nehmen würdest, selbst wenn sie diese anböten. Immer bemängelst Du, dass sie alle ‚ruchlos‘ nur ihre eigenen Ziele verfolgten und wenig Verantwortung gegenüber Zauberers Hinterlassenschaften zeigten. ‚Die Mamma ausgenommen.‘“

Signe beobachtet die Lage in der „Kilche“ misstrauisch und mit Vorsicht und widersetzt sich lange dem Werben Erikas um Zuwendung und Mitarbeit, zumal sie deren ganzer Familie reserviert gegenübersteht: „So war es denn der Ballast des Clanhaften, das [sic] mich doch ziemlich lange von Dir fernhielt. Hier lagen, das war bald zu erkennen, Deine Schwierigkeiten, Zwänge und Plagen.“ Besonders stört sie die an Versteinerung grenzende Förmlichkeit der Mann-Familie: „Jede direkte, unstilisierte Aussage von Schmerz, Lust oder Liebe entspricht nicht dem Gefühlsklima der Familie“, ihre Mitglieder umgäben sich mit einem „Schutzwall der preziösen, pointierten Sprache“ (das hindert die Verfasserin jedoch nicht, sich gelegentlich in solcher Sprache zu versuchen, mit eher mäßigem Erfolg). Erst in den drei letzten Jahren ihrer seit 1957 bestehenden Beziehung begannen die beiden Frauen sich einem gemeinsamen Projekt zuzuwenden, einer gemeinsamen Wohnung – zuletzt war dafür Klosters vorgesehen – als „Fluchtziel für Dich und neue Heimstätte für mich“, womit dann ihre jahrelangen gelegentlichen „Höhlenexpeditionen“ in Hotels und Ferienwohnungen ein Ende gefunden hätten.

Scanzoni schreibt keineswegs ‚selbstlos‘, unter Absehung von ihrer Person, über die Freundin, vielmehr bringt sie immer wieder ihre eigene Art, ihre Gedanken und Ansichten, auch ihr Herkommen und ihren Werdegang zur Sprache – letzteren so ausführlich, dass man an der reinen Selbstverständigungsabsicht ihrer Aufzeichnung zweifelt; die Veröffentlichung post mortem scheint doch ihrem innersten Wunsch zu entsprechen.

In den Gesprächen – „Der Gespräche sind Legion.“ –, von denen sie eingehender berichtet, geht es hauptsächlich um kontroverse Themen wie die Emigration während der Nazizeit und das Verhalten von Künstlern im „Dritten Reich“ wie Gustaf Gründgens sowie, damit verbunden, Klaus Manns Roman „Mephisto“. Hier trafen die beiden Biografien heftig aufeinander, denn Signe von Scanzoni stand auf Seiten der Künstler, die in Deutschland geblieben waren (statt „neurotische[] Emigrant[en]“ zu werden), zu denen sie insbesondere den Dirigenten Clemens Krauss und den Komponisten Richard Strauss rechnete; mit beiden hatte sie engeren beruflichen Kontakt gehabt. Dazu Erika: „Aber ich bitte Dich, MUSIKER! Die sind doch politisch nicht zurechnungsfähig.“

Die sonst so vehemente Erika scheint die ihr widerstehenden Ansichten der Freundin nicht weiter übel genommen zu haben, zumal man sich in anderen politischen Fragen wie der des Kalten Krieges, zum Beispiel zur CSSR 1968, weil gemeinsam „zwischen den Stühlen“ sitzend, einig war. Kennzeichnend für das allgemeine Bestreben der Autorin, ihr Licht neben der brillanten Erika nicht ganz unter den Scheffel zu stellen , ist die Ausführlichkeit, mit der sie über die Musikgespräche berichtet, in denen Erika ihr bereitwillig die Oberhand zuerkannte.

Trotzdem ist sich Signe von Scanzoni der Qualitäten und des Außerordentlichen der Persönlichkeit Erika Manns bewusst und bringt das in immer wieder neuen Anläufen zum Ausdruck. So heißt es gleich zu Anfang: „Deine Genialität verwendet ‚manikalischen Fleiß‘ nicht auf den Erwerb von Fähigkeiten, sondern auf die Darbietung des Angeborenen. Du bist steter Glanz, immerwährende Präsenz, und es eignet Dir eine unerschöpfliche Fähigkeit zu inspirieren.“ Und später: „Dein fascinans ist der Gegensatz zwischen der hochgezüchteten Intellektualität und der – wesensbestimmenderen – echten Naivität, einer besonderen Art von Kindlichkeit, die sich Deinen Auserwählten offenbart.“ Als Erika Manns innersten Antrieb erkennt sie: „Du hast immer weit über Deine Kraft gelebt, gegen Deine Substanz gewütet, im unermüdlichen Drang zu geben Dich erschöpft, in Rastlosigkeit Dich verzehrt, immer auf der Suche nach der großen, tiefen Lust der restlosen Befriedigung Deines Liebesanspruchs.“ – Was daran falsch, richtig oder überzeichnet ist, mag dahingestellt bleiben. Es genügt zu wissen, dass Erika Mann, die als schroffe Hasserin und Megäre Verschrieene, als Person und Mensch wahrgenommen und nicht ungeliebt gestorben ist.

Nach eigener Aussage hatte Scanzoni an Erikas Krankenbett immer den Schreibblock in Reichweite. Als diese beim Aufwachen aus der Narkose vom Operateur gefragt wird, ob sie die neben ihm stehende Person, Signe, kenne, antwortet sie „mit dem Versuch eines Lächelns“: „Seit meinen jüngsten Tagen.“ Proben der „Leichtigkeit und Wendigkeit Deines Geistes“ hat Scanzoni etliche mitzuteilen, wenn auch weniger von Erikas Krankenlager als aus ihrer Erinnerung an die letzten Jahre (die Gespräche dieser Zeit will sie immer unmittelbar darauf aufgezeichnet haben). So soll Erika einmal, um ihr das letzte Wort zu lassen, auf den Vorwurf, sie rauche zuviel, repliziert haben: „Ach komm, ich bin doch unzerstörbar, mir schadet nichts, und wenn ich auch wüsste, daß es mir schadet, würde ich doch erst recht nichts dagegen tun. Ich tue nichts zu meiner Erhaltung, nur ein wenig zur Verbesserung der Gesamtlage.“

Titelbild

Signe von Scanzoni: Als ich noch lebte. Ein Bericht über Erika Mann.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Irmela von der Lühe.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
242 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835307650

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