Religion als System, Kirche als Modell

Franz Schultheis und Stephan Egger geben Pierre Bourdieus religionssoziologische Schriften heraus

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Herausgeber der Schriften Pierre Bourdieus, Franz Schultheis und Stephan Egger, haben sich einiges vorgenommen. In einer auf vierzehn Bände angelegten Reihe der UVK Verlagsgesellschaft möchten sie das Werk des bedeutenden französischen Soziologen themenorientiert aufarbeiten. Das Projekt in Zusammenarbeit mit der Stiftung Bourdieu und dem Suhrkamp Verlag steckt noch in den Anfängen: Erst zwei Bände sind erschienen.

Im 2009 erschienenen Band 13 („Schriften zur Kultursoziologie 5“) geht es um die Religion. Die disparat vorliegenden religionssoziologischen Arbeiten Bourdieus werden darin auf etwa 250 Seiten zugänglich gemacht und durch einordnende Kommentare ergänzt. Es ist zwar der vorletzte Band in der Reihe und der letzte, der Quellentexte verarbeitet (Band 14 wird einen Apparat aus Register und Bibliografie enthalten), aber aus gutem Grund erschien er zu Beginn der ambitionierten Edition: Die religionssoziologischen Gedanken liegen in den Schriften Bourdieus einigermaßen überschaubar vor und sind verhältnismäßig deutlich abzugrenzen von denen zu anderen „symbolischen Systemen“, mit welchen Bourdieu die Gesellschaft verstehen will. Die für das Thema „Religion“ entscheidenden Passagen lassen sich rascher und zielsicherer in den einschlägigen Quellen identifizieren als dies bei den eng miteinander verzahnten Systemen „Kunst“, „Kultur“, „Sprache“, „Politik“, „Ökonomie“, „Bildung“ und „Wissenschaft“ der Fall ist.

Als Soziologe betrachtet Bourdieu die Religion wie Weber und Durkheim als gesellschaftliches Phänomen, also rein funktionalistisch. Es ist ein System unter vielen, nach eigenem Dafürhalten „nicht schwieriger zu analysieren als ein anderes“, doch zugleich mit der Eigentümlichkeit, dass in ihm der Glaube inhaltlich eine entscheidende Rolle spielt, so dass der sich diesem System nähernde Soziologe, der ihm nicht angehört und selbst auch nicht religiös ist, Gefahr läuft, die Besonderheit des religiösen Glaubens unberücksichtigt zu lassen, also die Ebene des Glaubens, die hinter der des Glaubens an das System liegt (also etwa den Glauben an die Bedeutung der Institution Kirche), nämlich den eigentlichen Glauben (also den Glauben an Gott, eine heilige Schrift, ein Dogma). Religion ist ein Glaubenssystem, in dem es um den Glauben geht. Diese zirkuläre Selbstbezüglichkeit macht die Sache analytisch schwierig.

Obgleich Bourdieu das Problem der extern bleibenden religionssoziologischen Beschreibung und einer der Selbstbeschreibung religiöser Menschen querliegenden Reduktion auf Äußerliches erkennt und obgleich er damit zugesteht, dass man Genese, Phänomenologie und Bedeutung von Religion nicht allein mit dem Blick auf Genese, Phänomenologie und Bedeutung ihrer Institutionalisierung und ihrer Systeme erschöpfend erklären oder gar hinreichend verstehen kann, verbleibt er selbst im Paradigma und stolpert über diese Außenseiter-Rolle, indem er die tiefere Ebene des Glaubens, der religiösen Erfahrung, der persönlichen Spiritualität ausblendet und analytisch auf der institutionellen Ebene verbleibt. Die katholische Kirche wird wie ein Objekt unters Mikroskop gelegt und mit den Augen des Soziologen von außen und von oben herab betrachtet, um alles Aufgefundene „ins grelle Licht der Diesseitigkeit“ zu ziehen (so Egger über Bourdieus Methodik in „La distinction“). Verstanden wird die Kirche so jedoch nicht. Und Religion schon gleich gar nicht. Die übergeordnete Frage wäre, ob Religionssoziologie überhaupt ein Verständnis von Religion erlangen kann, ohne Einbeziehung historischer, philosophischer, theologischer und psychologischer Erkenntnisse und – das ist entscheidend – ohne wirkliche Beschäftigung mit dem Glauben selbst.

Dennoch kann die Religionssoziologie wichtige Befunde zur Situation des Systems „Kirche“ und deren Vertreter in der Gesellschaft liefern (was erst mal wenig mit Religion und gleich gar nichts mit religiösem Glauben zu tun hat) – und auch über sich selbst aufklären. Die Beobachtungen Bourdieus sind in dieser Hinsicht wertvoll – etwa, wenn er feststellt, dass „sich die Stellung des Geistlichen tendenziell von einer dominanten in eine dominierte“ gewandelt habe, zugunsten von „Intellektuellen, die unter Berufung auf die Wissenschaft Wahrheiten und Werte durchsetzen“, die „offensichtlich häufig nicht mehr und nicht weniger mit Wissenschaft zu tun haben als die der religiösen Autoritäten der Vergangenheit“. Ein Schelm, wer dabei an Religionssoziologen denkt. Bestätigt hat sich unterdessen seine These aus „La dissolution du religieux“, nach der es „eine Entmonopolisierung kirchlicher Autorität in Glaubensfragen“ gebe, durch ein neues „Feld der Seelenheilung“.

Wer sich mit Bourdieu als Religionssoziologen näher befassen möchte, für den bietet Stefan Egger am Schluss eine „werkbiographische Skizze“, die das Werden der Ideen Bourdieus zum Thema Religion erläutert und auf dessen Erfahrungen eingeht, auf seine (prägende) Zeit im kolonialen Algerien, auf seine Weber-Lektüre, auf die Überwindung und Ausweitung Webers zentraler Ideen („vom Habitus zum Feld“) und auf den Versuch, damit zu einer „Objektivierung des Universums der Praxisformen“ und letztlich zu einer „Theorie der sozialen Welt“ zu gelangen. Wer das kennt, kann auch besser verstehen, warum sich Bourdieu mit Religion selbst nicht so lange aufhalten kann und will: Religionssoziologie ist ihm „kein Selbstzweck“, sie liefert ihm nur den Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft, sieht Bourdieu die phänomenologisch erfahrbare Religion (also in Frankreich: die katholische Kirche) doch bloß als ideales Beispiel für die Bedingungen und Mechanismen der „Sublimierung sozialer Herrschaft und ihrer symbolischen Gewalt“, eine Art Modell, in dem die Symbolträchtigkeit (etwa in Gestalt der „Weihe“) schärfere Konturen aufweist und ihre Konsequenzen klarer ersichtlich sind als in anderen sozialen Systemen. Die Distanz, die bei dieser Arbeit am Modell deutlich wird und die in anderen Forschungsfragen gerade die Güte der Ergebnisse garantieren würde, wirkt sich dabei negativ aus, weil sie die Hintergründe im Dunkeln lässt: Es geht eigentlich nur um religiöse Institutionen; die Religion selbst bleibt bei Bourdieu unverstanden.

Titelbild

Pierre Bourdieu: Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5.
UVK Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2009.
278 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783867641951

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch