Ein weites Feld
Henry Rousso, ‚der‘ Vichy-Experte, legt ein wissenschaftliches Selbstporträt vor
Von Daniel Krause
Henry Rousso hat maßgebliche Schriften zum Regime von Vichy vorgelegt, das als Frankreichs Regierung de facto oder de iure – aus Not oder eigenem Antrieb seiner reaktionären, technokratischen oder faschistischen Eliten – mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierte, den englischen Verbündeten ‚verriet‘ und zehntausende Juden, darunter französische Staatsbürger, an Deutschland, in die Vernichtungslager, auslieferte. Zugleich mag es Vichy in Teilen gelungen sein, Frankreich Handlungsspielräume zu wahren, die im Zuge einer sofortigen und vollständigen Besetzung des Landes zerstört worden wären – folglich durch Zugeständnisse Schlimmeres zu verhüten. So lautet der Anspruch Marschall Pétains und seiner Apologeten. Zwischen genuinem Rassismus, Modernisierungstechnokratie autoritären Gepräges und tragisch angehauchtem Selbstopfer um des Vaterlands willen eröffnet sich ein weites Feld oft schuldhafter, selten heroischer Verstrickungen.
Noch ambivalenter ist die Wirkungsgeschichte Vichys im französischen Nachkriegsbewusstsein: Mochten die Hauptverantwortlichen, gleichsam als Sündenböcke, abgeurteilt worden sein, konnte von einer zufrieden stellenden Auseinandersetzung vor Gerichten oder im öffentlichen Gespräch keine Rede sein. De Gaulle, Verkörperung des ‚freien‘, unbefleckten Frankreichs, verordnete nationale Versöhnung – wie der traumatische Verlust Indochinas und Algeriens musste die Schande der ‚Großen Nation‘ im Interesse der Selbsterhaltung beschwiegen werden. Die Front des Schweigens bröckelte jedoch: Noch in den 1990er-Jahren hielten Prozesse gegen große und kleine Vichy-Funktionäre Frankreich in Atem: Kollaborateure vom Schlage Maurice Papons, Paul Touviers und René Bousqets verkörpern die Nachtseite einer Gesellschaft, die sich allzu bereitwillig mit Lichtgestalten wie Jean Moulin, dem Haupt des Widerstands, identifiziert hatte, ohne sich deren Martyrium zu eigen machen zu müssen. Wenn ein Papon, verantwortlich für Deportationen, in Ministerrang aufsteigen kann, Bousquet jahrelang freundschaftliche Kontakte mit François Mitterand pflegt, der seinerseits ein durchaus uneindeutiges Verhältnis zu Vichy unterhält, wird sichtbar, wie tief das juste milieu Frankreichs in deutsche Verbrechen verstrickt ist.
„Frankreich und die ‚dunklen Jahre‘“ ist in Folge einer Jenenser Gastprofessur Henry Roussos im Sommersemester 2009 herausgebracht worden. Es werden mehrere Texte zum Thema versammelt, deren längster auf rund hundert Seiten den wissenschaftlichen Werdegang Roussos rekonstruiert, welcher dermaßen eng mit Vichy verknüpft ist, dass dieser Essay zur tour d’horizon des Forschungsfelds taugt. Drei kürzere Beiträge fassen je einen Aspekt in den Blick: die „Wurzeln der Holocaust-Leugnung in Frankreich“, Komplikationen des „Mythos der Einzigartigkeit Frankreichs“ als ‚Landes der Menschenrechte‘ und „Schlachtfelder der Erinnerung“, will sagen: offiziöse Vergangenheitspolitik zwischen de Gaulle und Sarkozy.
Es kommen einige solcher Gesichtspunkte zur Sprache, die von Überblicksdarstellungen vernachlässigt würden: Die Universität Lyon III als Soziotop der Holocaust-Leugner, darunter – als bekanntester und bizarrster der Art – Robert Faurisson, der als Literaturwissenschaftler – ausgerechnet – über Lautréamont, Nerval und Rimbaud, poètes maudits, Erzbösewichter der Literatur, gearbeitet hat. Die eminente Bedeutung staatlicher, unter Regie Sarkozys zusehends vulgarisierter Erinnerungsrituale, die in typisch französischer Manier alle zivilgesellschaftlichen Initiativen überformen. Eine aus Deutschland vertraute Konkurrenz der Opfergruppen, verstärkt vom egalitären Pathos der französischen Revolution. Nicht zuletzt die seit etwa zwanzig Jahren akute Tendenz, Erinnerung mit Hilfe von lois mémorielles, Gedenkgesetzen, juristisch zu reglementieren – Henry Rousso, beileibe kein Revisionist, sieht diese Entwicklung mit Skepsis.
Kurzum: Dies ist keine systematische Darstellung Vichys und will es nicht sein. Ebenso wenig ist es Rousso um eine Gesamtschau der Folgen Vichys und der Forschungsgeschichte zu tun, wenngleich sich hierzu zahlreiche lohnende Stichworte finden. „Frankreich und die ‚dunklen Jahre‘“ ist eine mundgerecht portionierte Ansammlung von Einzelaspekten, ad hominem auf den Autor hin perspektiviert, darum bei weitem konsumabler als im strengen Sinn wissenschaftliche Darstellungen. Wer sich niemals mit Vichy auseinandergesetzt hat, findet eine brauchbare Hinführung zum Thema. Wer längst im Bilde ist, wird unvertraute Details erfahren.
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