„Das Gift ist überall“

Victor Klemperers Essaysammlung „LTI“, neu gelesen

Von Evgenij UnkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evgenij Unker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Tagebücher

In diesem Paradoxon steckt das ganze Drama der Existenz Victor Klemperers (1881-1960): Er war ein Jude, der sich mit allen Kräften von dem Judentum seines Vaters befreien, der deutsch und nur deutsch sein wollte. In der Retrospektive seiner Autobiografie „Curriculum vitae“ fasst er den eigenen deutschen Patriotismus wie folgt zusammen: „Wir, wir Deutschen, waren besser als die andern, freier im Denken, reiner im Fühlen, ruhiger und gerechter im Handeln. Wir, wir Deutschen, waren das wahrhaft auserwählte Volk.“

Auch der zeittypischen und verheerenden Militärbegeisterung entgeht er in seinen jungen Jahren nicht. Rückblickend bescheinigt er sich „ahnungslose Begeisterung für einen Diktator“, Napoleon nämlich. Dem Ersten Weltkrieg begegnet er nach eigenem Bekunden mit einer – für einen über Dreißigjährigen allerdings schon erstaunlichen – „vaterländischen Begeisterung und der vollkommenen Überzeugtheit von Deutschlands schneeweißer Unschuld, von Deutschlands berechtigtstem Anspruch auf die Vorherrschaft in Europa“. Er hat ein schlechtes Gewissen, dass er für sein Land nichts tut, und meldet sich schließlich als Freiwilliger. (Zu seiner „Entschuldigung“ und der Vollständigkeit halber sei zugegeben, dass Klemperer es erst dann tut, als ohnehin schon der Einberufungsbefehl im Raum steht, und weil er durch eine freiwillige Meldung die freie Wahl der Ausbildungsstätte erwirkt.)

Als Klemperer all diese jugendlichen Irrtümer mit einer erstaunlichen Ehrlichkeit und völlig schonungs- und beschönigungslos niederschreibt, lebt er schon längst im nationalsozialistischen Dresden, als Jude seiner Professur beraubt, sozial ausgegrenzt, juristisch immer mehr in seinen Rechten beschränkt. So darf er keine Bibliotheken mehr benutzen und wird dadurch von seinen literargeschichtlichen Studien zurückgeworfen auf seine eigene Vergangenheit, die er in Form der Autobiografie zu bewältigen sucht, und die sich immer bedrohlicher entwickelnde Gegenwart, über die er ausführlich in seinem Tagebuch berichtet. Dass er es kann und nicht deportiert wird, hat er vor allem seiner „arischen“ Frau zu verdanken – und dann, in letzter Minute, als auch die letzten in Mischehe lebenden Juden deportiert werden sollen, dem Bombardement der Stadt durch die Engländer, die für Klemperer die Rettung bedeutet.

Warum Klemperer nicht – wie so viele Juden – ins Ausland flieht? Aus lauter Verbundenheit mit Deutschland, versteht sich. Aber auch aus Angst, als Philologe im Ausland nicht Fuß fassen zu können. Und aus Rücksicht auf die Ehefrau, die an dem gerade im Bau befindlichen Haus hängt. „Ich muß hier leben und hier sterben“, heißt es im Tagebuch am 9. Juli 1933. Dieser Tenor bleibt auch in den Tagebuchnotizen der folgenden Jahre unverändert. Noch 1941, als es ohnehin so gut wie unmöglich geworden ist auszuwandern und die Judenvernichtung im vollen Gange ist, ringsum Krieg und elendster Hunger herrschen – auch da findet Klemperer ein Gegenargument gegen die Auswanderung, etwa in die USA zu seinem Bruder, dem berühmten Arzt Georg Klemperer: Dort wären er und seine Frau – man höre und staune – „zeitlebens abhängige Bettler“ (28. November 1941).

Kurz, wer sich in die Zeit des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung der Jahre 1933 bis 1945 – und das in authentischer biografischer Form – hineinversetzen will, der ist mit Victor Klemperers Tagebüchern aus jener Zeit gut beraten. Dem historisch Interessierten kann man neben der erwähnten Autobiografie „Curriculum vitae“ auch die Tagebücher der Weimarer Epoche sowie der ersten Nachkriegs- und DDR-Zeit wärmstens ans Herz legen. Denn auch das gehört zum Drama Klemperers, dass er, kaum beginnt die Freude über die Rettung von den Bedrohungen des „Dritten Reichs“ aufzukommen, gleich sehenden Auges Gefangener des „vierten Reichs“, wie er es nennt, der DDR, wird. Dass Klemperer aber auch diesmal nicht auswandert und eine solche Flucht als „Verrat“ empfände, wird wohl kaum jemanden verwundern. Zumal er in der DDR nach einigen Querelen wieder Professor wird und zu einem gewissen Ruhm gelangt.

Ein extensiver Leser von Klemperers Tagebüchern wird wahrscheinlich noch die zahlreichen und aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen vorgenommenen Kürzungen der ohnehin schon Tausende Seiten umfassenden Bände bedauern. Er wird aber schnell den Eindruck gewinnen, der Professor sei ein recht mittelmäßiger Stilist, ein – vielleicht sogar, wird sich dieser Leser denken, nicht ganz zu Unrecht – gescheiterter Literat, ein bloßer Tagesprotokollant und ein dankenswerterweise ehrlicher, aber nicht gerade intellektuelle Geistesfunken sprühender Chronist. So, als hätte sich hier aller Esprit in getreue Historizität sublimiert, in ein sehr wertvolles, einmaliges zeitgeschichtliches Dokument – aber doch nicht jedermanns Sache. Der ein oder andere wird sich womöglich ganz von der schieren Menge des Tagebuchtextes, mit all seinen bei solcherart Schriften unvermeidlichen Längen und Wiederholungen, abschrecken lassen.

Die „LTI“

„Notizbuch eines Philologen“ heißt im Untertitel das Buch, das einem solchen Urteil Hohn spricht und zu seiner Revision geradezu zwingt. Es ist eine 1947 zuerst erschienene Sammlung von Essays zu den unterschiedlichsten Aspekten der „Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reichs“, kurz „LTI“. Den Sprachbegriff fasst Klemperer dabei recht weit. Von linguistischer Suffixanalyse und lexikalischen Exkursen bis hin zu ideologischen und psychologischen Indoktrinationsmitteln des Faschismus durchleuchtet er mit einer erstaunlichen Genauigkeit unterschiedliche Schichten und Erscheinungsformen des nationalsozialistischen Denkens und Sprechens. Interpunktionszeichen werden von ihm nicht weniger kritisch hinsichtlich ihrer Instrumentalisierung durch die Propagandamaschinerie des Nationalsozialismus analysiert als die Pervertierung des Sports oder des Christentums zum Zwecke der Massensuggestion.

Der Essay ist die vielleicht schwierigste Form des reflexiven Schreibens. Er ist das Schibboleth unter den explorierenden Textsorten, an ihm zeigt sich der Meister. Was das Gedicht für den Dichter, das ist der Essay für den Denker. Man ergänze: auch für den Historiker, Kritiker, Seelenforscher und natürlich den Linguisten, in der Wortwahl Klemperers eben den „Philologen“. Sehr naiv wäre, wer glaubte, Klemperer habe die einzelnen Essays oder gar die „LTI“ insgesamt aus seinen Tagebüchern kurzerhand zusammengestellt. Abgesehen von einem einzigen Kapitel – das auch so heißt: „Aus dem Tagebuch des ersten Jahres“ – finden sich im „LTI“ nur ganz wenige wörtliche Exzerpte aus den Tagebüchern. Im Diarium finden sich nämlich allzu häufig nur kurze Stichworte, Materialsammlungen, Alltagsbeobachtungen, manche eindrucksvoll für sich sprechend, andere für den Außenstehenden ohne die erhellenden Ausführungen Klemperers, die erst die „LTI“ liefert, schlicht langweilig oder unverständlich.

Klemperers „LTI“-Essays haben eine Form, sie sind auf das Wesentliche reduziert, meiden die tagebuchtypische Redundanz, haben eine Richtung, die sie – gelegentlich zu Nebenthemen abirrend – beharrlich verfolgen. Sie verbinden Literatur, Sprach- und Kulturkritik mit dezent gesetzten biografischen Einsprengseln. Und das Schönste: Während man über einige – wie man aus der Höhe seiner historischen Warte vermeint – konservative, naive oder schlicht falsche Urteile Klemperers bei der Tagebuchlektüre schockiert den Kopf schüttelt, machen in der Essayform dieselben Urteile gerade den besonderen Reiz aus, weil der Essay im Gegensatz zum Tagebuch in seiner Dialektik zum Widerspruch reizen darf, sogar reizen soll.

Diskussionspotential bieten etwa die Behauptungen Klemperers, „die deutsche Wurzel des Nazismus heißt Romantik“, oder Adolf Hitler sei ideologisch beim Begründer des politischen Zionismus (!) Theodor Herzl in die Schule gegangen.

Der Kommentar

Nun liegt zum ersten Mal eine von Elke Fröhlich besorgte sehr ausführlich kommentierte Ausgabe der „LTI“ vor. Wer fundierter Hintergrundinformationen oder eines Stellenkommentars zu diesem im Trubel der 1990er-Jahre um die Tagebücher Klemperers etwas vergessenen Buch des Autors bedurfte, musste bisher zu der – an Stofffülle überwältigender, aber dafür auch sehr hilfreichen – Dissertation Kristine Fischer-Hupes aus dem Jahr 2001 greifen. Dank Fröhlich kann jetzt jeder Leser ohne Tagebuchkenntnis und ohne erdrückende Sekundärliteratur einen überreich kommentierten Einblick in Klemperers Sprachkritik erhalten.

Natürlich ersetzt Fröhlichs Kommentar nicht den Fischer-Hupes. Er geht zwar an manchen Stellen weiter als jener, in den meisten Fällen wird sich aber für besonders Interessierte nach wie vor ein Blick in den ausführlicheren Kommentar lohnen. Dieses Weitergehen Fröhlichs gerät mitunter gar zum Manko ihres Kommentars: Manche recht bekannte und für das „LTI“-Verständnis eher untergeordnete Begriffe oder Persönlichkeiten (wie Fjodor Dostojewskij) erhalten so in ihrem Kommentar bis zu einer halben Seite kleinstgedruckten Kommentars à la Brockhaus mit vielen Daten und Fakten, die man in Internetzeiten mit wenigen Mausklicks eruieren könnte. Dafür fehlen an einigen anderen Stellen wichtige, speziell auf den Autor bezogene Anmerkungen. Etwa zum Essay „Wenn zwei dasselbe tun…“, in dem Klemperer eine ganze Reihe Parallelen zwischen der LTI und der DDR-Propaganda aufzeigt, letztere allerdings wohlweislich sehr opportunistisch mit der ganz anderen Motivation und Zielsetzung – bei der LTI verbrecherisch, bei der DDR entsprechend hehr – rechtfertigt. Wer Klemperers Tagebücher nach 1945 kennt, weiß, in welch schwierigem Dilemma sich der zu der Zeit nicht mehr ganz so naive und sich selbst durchaus darüber Rechenschaft gebende Verfasser befindet. So heißt es etwa in der Tagebuchnotiz vom 25. Juni 1945: „Ich muss allmählich anfangen, systematisch auf die Sprache des vierten Reiches zu achten. Sie scheint mir manchmal weniger von der des dritten unterschieden als etwa das Dresdener Sächsische vom Leipziger.“ Und schon am 21. Juni 1945: „Und ich fürchte, man macht hier genau den Fehler der Gegner […]“. Wenigstens ein kurzer Kommentar in dieser Sache wäre angebracht. Sonst könnte der uninformierte Leser leicht denken, Klemperer habe nun doch nichts in seinem Leben dazugelernt.

Die sehr ausführlichen Anmerkungen Fröhlichs, die speziell die NS-Zeit betreffen, nimmt man aber dankend zur Kenntnis. Sie bilden eine fundierte Erläuterung zu den von Klemperer an manchen Stellen nur angedeuteten Sachverhalten und helfen, die Epoche im Geiste für sich zu rekonstruieren.

Ein solcher enzyklopädischer Kommentierungseifer führt allerdings auch gelegentlich zu philologischen Kurzschlüssen. In seiner Tagebuchnotiz vom 20. April 1933, die Klemperer auch in der „LTI“ anführt, zitiert er Stimmen von einem nationalistischen Wiener Ärztekongress, bei dem trotz aller Xenophobie die Leistungen der „‚Fremden‘ Wassermann, Ehrlich, Neißer“ anerkannt würden. Paul Ehrlich und Albert Neisser erkennt und kommentiert Ehrlich ganz richtig als die bedeutenden Mediziner und Forscher ihrer Zeit, August Paul von Wassermann verwechselt sie allerdings mit dem populären jüdischen Schriftsteller Jakob Wassermann und liefert zu ihm einen kontextfremden, geradezu eines Biografielexikons würdigen Artikel.

Auch die sonst recht zuverlässigen Kommentare Fischer-Hupes, die Fröhlich häufig zur Grundlage ihrer Anmerkungen nimmt, erweisen ihr nicht immer einen guten Dienst. So folgt sie jener in der Behauptung, den Begriff „Eintopf“ habe es vor 1933 nicht gegeben, er sei folglich von den Nationalsozialisten zu Propagandazwecken erfunden worden. Kaum eine Minute ist nötig, um nach kurzer Recherche eines Besseren belehrt zu werden. Den Ausdruck gibt es schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts, unter anderem bei Karl Kraus.

Leider, leider – die deutschen Geisteswissenschaftler haben immer noch nicht begriffen, dass die Zukunft im Internet liegt. Dissertationen werden in Kleinstauflagen gedruckt, womöglich noch durch staatliche Stipendien finanziert, um auf immer in Bibliotheksarchiven an entlegenen Orten zu verschwinden. Bloß nicht, dass sie jemand liest! Philologisch zuverlässige Klassikerausgaben kosten gerne Tausende Euro, und meist hat auch hier der Steuerzahler für ihr Entstehen zuvor schon bezahlt. Gut, wenn ein verirrter Student in der Mittagspause alle Jubeljahre einmal reinblättert. Und währenddessen erscheinen in nicht gerade für ihre Fortschrittlichkeit bekannten Ländern wie Russland hundertbändige, dem neusten Forschungsstand entsprechend herausgegebene und kommentierte und vor allem urbi et orbi zugängliche Tolstoj-Ausgaben im Internet. Völlig legal und staatlich unterstützt.

Aus der Geschichte lernen

Klemperer hätte so eine Publikationsart sicher goutiert, muss er sich doch unter größter Lebensgefahr im nationalsozialistischen Deutschland Bücher und Zeitungen besorgen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Da er sich aber während der NS-Zeit speziell – im Dienste seiner „LTI“ – für faschistische Bücher interessiert, andere aber auch nicht leicht zu erlangen sind, wird er selbst Opfer eines Phänomens, dem er den Namen „Sprache des Siegers“ gegeben hat. „Das Gift ist überall. Im Trinkwasser der LTI wird es verschleppt, niemand bleibt davon verschont.“ Auch an den Opfern und dezidierten Gegnern des Nationalsozialismus geht die nationalsozialistische Propaganda demnach nicht spurlos vorbei.

Während man die titelgebende Abbreviatur „LTI“ noch bei wohlwollender Auslegung als eine Parodie auf den nationalsozialistischen Abkürzungswahn und die Vorliebe der Nationalsozialisten für nur wenigen verständliche, dafür aber umso imposantere Fremdwörter interpretieren kann (alles Aspekte, die Klemperer in seinem Buch aufdeckt), so kommt man durch keine noch so kasuistische Exegese der Behauptung, der Faschismus sei „eine spezifisch deutsche Krankheit, eine wuchernde Entartung deutschen Fleisches“, um die Feststellung herum, dass der Autor hier im vollkommenen Ernst vielleicht die nationalsozialistischen Klischees schlechthin bedient: Es fängt mit dem Wörtchen „Entartung“ an, geht weiter mit der Metapher der „Krankheit“ und des „Fleisches“, und endet mit dem Verweis auf das Deutschtum.

Von solchen bemerkenswerten Zitaten gibt es noch mehr im Tagebuch: „Wenn es einmal anders käme und das Schicksal der Besiegten läge in meiner Hand, so ließe ich alles Volk laufen und sogar etliche von den Führern, die es vielleicht doch ehrlich gemeint haben könnten und nicht wußten, was sie taten. Aber die Intellektuellen ließe ich alle aufhängen, und die Professoren einen Meter höher als die andern; sie müßten an den Laternen hängen bleiben, solange es sich irgend mit der Hygiene vertrüge.“ (Tagebucheintrag vom 16. August 1936) Oder: „Wer kein Todfeind der Nazis ist, kann mir nicht Freund sein.“ (Silvester 1936)

Man braucht nur das Vorzeichen zu wechseln – beim ersten Tagebuchzitat nicht einmal das –, schon könnten die Zitate von überzeugten Hitleranern stammen, die ihre Gegner ja wirklich an Laternen erhängten und auch den Evangelien-Spruch „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“ allzu gern missbrauchten. Und ist es klug und sinnvoll, ja überhaupt ungefährlich, von Deutschtum und Nicht-Deutschtum zu reden, sei es im positiven, sei es im negativen Sinn? Kann man sagen, was deutsch oder nicht-deutsch ist?

Das Vorzeichen ist schnell geändert, dann bleibt nur der enorme, alles nierderwalzende Hassimpetus, der pure Nationalismus, die nackte Tyrannei. Wozu das führt, hat nicht zuletzt auch – gestützt auf durchaus im gewissen Rahmen berechtigte Forderungen der sozialen Gerechtigkeit – die russische Oktoberrevolution mit ihren Säuberungsaktionen gezeigt, die immer selbstständiger und unkontrollierter wurden.

Muss man also um jeden Preis den Absolutbetrag des Protest- und Veränderungselans möglichst gering, auf dem Sparflammenniveau, halten? Immer den evolutionären, nie den revolutionären Weg einschlagen? Die Geschichte scheint es zu lehren. Oder sollte Klemperer am Ende in seiner Tagebuchnotiz vom 22. Juni 1943, über die man zuvor noch entrüstet den Kopf geschüttelt hat, Recht haben? „Niemand kann aus der Geschichte lernen, weil sich nichts wirklich und ganz und ohne Variante wiederholt. Vielleicht ist Geschichtskenntnis geradezu schädlich: sie macht befangen. Vielleicht ist es mit dem Geschichtswissen wie mit der Askese: beide machen unfrei.“

Klemperer verfolgt mit seiner „LTI“ nicht nur wissenschaftliche, sondern ausdrücklich auch pädagogische Zwecke. Was lässt sich nun daraus lernen? Klemperer sagt es selbst: „Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag.“ Die Askese-Metapher ist im obigen Tagebuchzitat nicht zufällig. Für den an Hunger leidenden Klemperer liegt sie 1943 nahe. Es ist allerdings erzwungene Askese, keine freiwillige. Wie könnte sie auch frei machen? Ähnlich wird es mit der oktroyierten, nicht verarbeiteten, unreflektierten, gar durch Propaganda und unüberlegte Sprachanwendung gefälschten Geschichtskenntnis sein.

Frei machen kann nur die bewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte, nur das luzide Geschichtsverständnis. Victor Klemperers Schicksal und Werk, dokumentiert nicht zuletzt durch sein „Notizbuch eines Philologen“, kann viele gedankliche und literarische Impulse dazu geben.

Titelbild

Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen.
24., völlig neu bearbeitete Ausgabe. Nach der Ausgabe letzter Hand herausgegeben und kommentiert von Elke Fröhlich.
Reclam Verlag, Ditzingen 2010.
416 Seiten, 23,90 EUR.
ISBN-13: 9783150107430

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