Wir sind immer die Betrogenen

In ihrer Erzählungssammlung „Schneckenkönig“ widmet sich Eugenie Kain den Sehnsüchten aneinander vorbei lebender Menschen aus den Randbezirken von Linz

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass „Das Leben ein Fest“ ist, wie der Titel der zweiten Erzählung behauptet, davon spürt man weder in ihr noch in den anderen acht im Band „Schneckenkönig“ versammelten Geschichten besonders viel. Bei den meisten der handelnden Personen geht es im Leben nämlich eher darum, davonzukommen. So auch bei Mädi, die eigentlich Maria heißt, „mit sechzehn Mutter geworden“ ist und mit 50 keine feste Anstellung, sondern nur einen fixen Dienstplan hat, nach dem sie „auf dem Tankschiff im Hafen […] Dosenbier, Wodkaflaschen, Schokoriegel und Zeitschriften mit nackten Frauen“ verkaufen soll. Sie wird ihr „Leben lang nicht in Pension gehen“ können. Daher verwundert es nicht, wenn sie, statt „an fehlende Versicherungszeiten“ zu denken, lieber von ihren Liebesabenteuern mit rumänischen Schleppschiffmatrosen träumt, die sie während Hochwasser bedingter Fahrverbote auf der Donau kennen lernt. Kein Ehering schreckt sie ab. Denn für Mädi zählt die Gegenwart.

Das tut es auch für Rosa Estl, um die es in „Just another city“, der letzten Erzählung des Buches, geht. Nur der Grund ist ein anderer. Sie hat Lungenkrebs und befindet sich deswegen in Frühpension. Doch zuhause hält sie es nicht aus. Hier sitzt ihr nämlich die „Angst im Nacken“. Dadurch wird „eine Ruhelose“ aus ihr. Sie flieht „ans Ufer der Donau“, ist dort als „ehrenamtliche Vogelbeobachterin“ unterwegs, durchstreift täglich das Hafengelände und die Industriezeile. Denkt sie dabei an die Zukunft, gerät sie in ein „Gedankengestrüpp“ und verfängt sich „in einer Schlinge aus Sterben und Tod“.

Rosa kämpft „ums Überleben, ganz normal, ohne Scheinwerfer und Mikrofon“, wie so viele, besonders alte Menschen, die mit dem Notwendigsten auskommen müssen. Da reicht es oft nur für einen „Gabelbissen und zwei Dosen Bier [im] kostenlosen Plastiksackerl von der Gemüseabteilung“.

Sehr häufig ist etwas Notwendiges nicht vorhanden oder rar: Geld, Liebe, Gesundheit, Verständnis. Mit größeren sozialen Sicherheiten ausgestattet ist in den neun Erzählungen niemand. Im Gegenteil: Man hadert mit dem Leben, muss mit unangenehmen Situationen und Benachteiligungen fertig werden, hat ein Schicksal zu tragen.

Dementsprechend sind es in Zurückhaltung geübte, bescheidene, einfache, leise, genügsame Menschen, denen Eugenie Kain, die im Jänner 2010 nach langer schwerer Krankheit 49-jährig verstorben ist, in ihren zwischen realistischer, surrealistischer und dokumentarischer Erzählweise wechselnden Texten eine Stimme gibt. Menschen, die von klein auf darin geübt sind, „sich schmal zu machen“.

Und wenn dann so jemand doch einmal Urlaub am Meer machen kann, wie in „Funkenflug“, tauchen andere Widrigkeiten auf: die Bora – Fallwinde an der Küste, ein Gichtanfall, ein unverschämter Fremder. Eigentlich haben zwei Buben und ihre Eltern „auf dem Auto-Camp in Zablace“ nur „den Ferienbeginn feiern“ wollen. Doch dann wirft eine Windbö den Koffergrill um, fällt das Messer auf das Schlauchboot, sieht man beim Schnorcheln statt Fischen, Muscheln und Seegraswiesen „die Karosserie eines Militärjeeps […], riesige Autoreifen“ und einen aufgerissenen, rostigen Betteinsatz und dann trinkt ein Fremder erst das ganze Dosenbier aus und will sich dann auch noch „das Geld für seine Stellgebühr am Campingplatz“ leihen.

Und wenn dann die Großmutter aus der Erzählung „Schneckenkönig“ behauptet: „Wir sind immer die Betrogenen“, dann scheint dies alles andere als aus der Luft gegriffen, ja ein Abbild der Alltagsrealität von Menschen zu sein, die mit Außenseitertum und sozialer Benachteiligung zurecht kommen müssen. „Scheinwerfer und Mikrofon“ stehen den Protagonisten auf dieser gesellschaftlichen Bühne natürlich nicht zur Verfügung. Auch dem „Schneckenkönig“ nicht, obwohl er etwas ganz Besonderes ist. Zumindest in der Tierwelt. Hier bezeichnet man als solchen (dem Volksmund nach) jene Weinbergschnecke, die ein links gewundenes Haus und so auch seitenverkehrte Organe hat, was äußerst selten (im Verhältnis 1:10.000 bis 1:100.000) vorkommt.

In der gleichnamigen Geschichte wird diese Besonderheit verunglimpft, gerät die Bezeichnung „Schneckenkönig“ zum Spottnamen für einen Jungen, der Schneckenhäuser sammelt. Dass er sich von seiner Umgebung abhebt, das will keiner sehen, geschweige denn würdigen. Die Menschen dort, die „zwischen Autobahn und Hafen“ leben und „im Schlachthof, in den Kühl- und Lagerhäusern“ arbeiten, sind leider zu oberflächlich, zu blind und zu unsensibel. Daher wird der in dieser sozialen Randlage aufwachsende Junge nur verhöhnt, als er meint, einmal „Schneckenforscher“ werden zu wollen. „Für diesen Beruf kommt er eindeutig aus der falschen Ecke der Stadt“.

Auch in der Hauptschule bekommt er zu spüren, dass da, wo er wohnt, „keine Gegend für Schnecken und Schneckenforscher“ ist. Es verwundert daher kaum, dass dem Jungen „die Welt zu eng“ wird. Aber nicht nur ihm. Auch der Frau in „Sehnsucht nach Tamanrasset“ ist sie das; diese kleinbürgerliche Welt zwischen Wohnung, Supermarkt und Kindergarten mit ihren ständigen Streitereien, die nicht einmal vor der Frage halt machen, wie man Socken richtig übereinander stülpt. Eines Tages setzt sie ihr Forschungsprojekt schließlich um, verlässt Mann und Kind und zieht „mit Nomaden durch die Sahara“, um „Lieder und Lyrik der Tuaregfrauen zu sammeln“.

Das Unterwegssein, ob es nun tatsächlich oder nur in der Vorstellung, im Traum passiert, erweist sich als die fast logische Konsequenz auf eine enge, perspektivarme Lebenssituation, die zusätzlich noch beeinträchtigt wird von einer auf ökonomischen Interessen basierenden Erneuerung des Stadtbilds. Immer wieder spricht die Autorin bauliche Veränderungen an, die zumeist über die Bedürfnisse der Anwohner hinweg entschieden werden: So verwandelt sich der Garten der Großmutter mit seinen Beeten und Stauden in „eine pflegeleichte Rasenfläche“, das alte Haus in einen Betonkomplex mit „Büros, Wohnungen und einer Tiefgarage“. Statt Hollerstauden sind plötzlich Baugruben da. Es verschwindet sogar „ein Bach von der Stadtoberfläche“ und ständig wachsen neue „Wohntürme in den Himmel“. Rundum ist „Grabeland“, wo nichts als umgegraben wird. Man steht dem allerdings machtlos gegenüber, kann nur zuschauen. Denn auch das Sammeln von Unterschriften „gegen die Verstümmelungen der Linden“ führt zu nichts.

Verstümmelungen aller Art, ob in der Natur, am Menschen oder an der Stadt: sie sind es, die Eugenie Kain auf vielschichtige Weise in ihren Erzählungen thematisiert. Teilweise legt sie diese sogar von „den Schichten des Vergessens“ frei. Sie konzentriert sich immer auf das Wesentliche, ist sachlich genau und kritisch, verzichtet auf Spektakel, spart lieber ein und verknappt, wenn sie Selbsterlebtes, Erfundenes und Beobachtetes zu einem authentischen Ganzen verwebt.

Die Ernsthaftigkeit dieses Erzählens manifestiert sich auch in den Hinweisen über ihr Schreiben, die Kain ab und an in einen Text einfließen lässt. Sie will auf keinen Fall von den Sätzen abrutschen „wie von glitschigen Steinen“. Ihr geht es vielmehr darum, „leichthändig“ zu schreiben, damit die „Geschichte zu schwingen beginnt“. Genau das ist Eugenie Kain in den in „Schneckenkönig“ versammelten Erzählungen ganz wunderbar geglückt.

Titelbild

Eugenie Kain: Schneckenkönig. Erzählungen.
Otto Müller Verlag, Salzburg 2009.
134 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783701311583

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