Fesselnde und gut lesbare Beiträge

Versierte Sigmund Freud-Kenner äußern sich über „Freud und die Antike“

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sigmund Freud hat auf seinen Reisen nach Italien und Griechenland viele bedeutende antike Stätten besucht und darüber berichtet. Daneben hat er zahlreiche antike Schätze gesammelt, so dass seine Wohnung bald wie ein Privatmuseum für antike Kleinkunst wirkte. So ist es eigentlich kein Wunder, dass die Antike dann zu einem konstitutiven „Resonanzboden“ für die von Freud begründete Psychoanalyse wurde und als letzte Neugründung einer Wissenschaft in der Moderne ihre Gründungsakte der Antike entnahm. Diese These wird zumindest in dem Band „Freud und die Antike“ vertreten, in dem in 18 Beiträgen anerkannte Wissenschaftler und versierte Freud-Kenner die Bedeutungen der Archäologie, des Traumes und des Mythos sowie der prähistorischen und klassischen antiken Kulturen für die Genese der Psychoanalyse herausstellen.

Das Buch selbst wiederum geht auf eine internationale Tagung zurück, die im September 2009 im Pergamon-Museum veranstaltet worden war. Mehrere Beiträge stellen bislang übersehene Mythen und Kontexte für die psychoanalytische Theoriebildung vor. Andere weisen auf antike Quellen hin, die Freud nur peripher im Blick hatte. Der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt jedoch auf Freuds eigenen Werken und Sammlungen und seinen diversen Auseinandersetzungen mit der Antike. Dabei ergeben sich brisante Fragen, etwa die, inwiefern die Psychoanalyse selbst als transformierte Antike zu verstehen sei, oder ob in ihr eine neue Antike entdeckt werden könne? Gefragt wird auch nach dem Verhältnis von Mythos und Moderne, ferner ob das Unbewusste die Matrix aller Kulturen und die Psychologie eine Archäologie der Seele sei, so dass man Freud, der selbst ein glühender Verehrer des berühmten Archäologen Heinrich Schliemann war, als einen psychologischen Schliemann betrachten könne?

Wie dem auch sei, der Rückgriff auf das klassische Kulturerbe durchdringt das gesamte Werk von Freud, wie Paola Traverso in ihrem Beitrag feststellt. Ebenso schenkte er den Traumbüchern der Alten mehr Glauben als den wissenschaftlichen Abhandlungen seiner Kollegen der Medizin.

Kein Zweifel, die antike Mythologie und Philosophie hatten für Freuds Psychoanalyse eine große Bedeutung. Gestalten wie Ödipus, Narziss, Zeus und Kronos, Medea, Prometheus sowie Aristoteles, Platon, Empedokles und viele andere Gestalten aus der griechischen Mythologie und Philosophie hat er für die Ausarbeitung seiner theoretischen Konzepte der Psychoanalyse benutzt, da er der Meinung war, dass die freigelegten Urlandschaften der Seele – sei es in Träumen, in kathartischen Erinnerungen, Mythen, Märchen, Sagen oder Tragödien – mehr an menschheitlicher Vergangenheit enthalten als die materiellen Relikte der Antike.

Die Gegenwart wird mithin aus einer mythischen, wesentlich ins kollektive Unbewusste gesunkenen Vorzeit gesehen und gedeutet, wobei historische und kulturelle Unterschiede ins Abseits geraten, denn Freud geht von allgemeinen menschlichen Trieben und Strebungen aus, die sich, abgesehen von den jeweiligen kulturellen Überformungen und Ausdeutungen, mehr oder weniger in allen Kulturen und Epochen wiederfinden.

Sogar antike Emotionstheorien erfahren psychoanalytische Transformationen, erklärt Thomas Anz in seinem Beitrag, in dem er sich vor allem mit Freuds Kriegsschriften auseinandersetzt, die sich ebenfalls auf die Antike beziehen. Anz weist darauf hin, dass Freud den Krieg eng gekoppelt sah „mit den am Traum, an Neurosen, am Seelenleben der Wilden (,Totem und Tabu‘), an kollektiven, durch Mythen, Literatur und Kunst freigesetzten Phantasien und an allen Zuständen, in denen die Kontrolle des Bewusstseins und die im Prozess der Zivilisation mühsam angeeignete Modellierung der Affekte, insbesondere aggressiver und destruktiver (,Wut‘, ,Erbitterung‘, ,Hass‘, ,Abscheu‘) weitgehend außer Kraft gesetzt sind.“

Der Krieg, so hatte der Begründer der Psychoanalyse dargelegt, streife dem Menschen alle Kulturauflagen ab und lasse den Urmenschen wieder zum Vorschein kommen. Sowohl in der Antike als auch in der Psychoanalyse finden sich Ansätze zu einer Theorie emotionaler Kommunikation. Freud konzentrierte sich auf die Koexistenz von Liebe und Hass und ihre ambivalenten Vermischungen, wohlwissend, dass man die menschliche Aggressionsneigung nicht völlig deaktivieren kann. Für den Pazifisten Freud, der die Kultivierung der Emotionen vorantreiben wollte, kam es ganz darauf an, die menschlichen Aggressionen so weit abzulenken, dass die Gegner, statt sich physisch zu vernichten, verbal miteinander streiten.

Selbst aus der Archäologie hat Freud etliche Begriffe entlehnt. Schließlich haben es beide, sowohl die Psychoanalyse als auch die Archäologie, mit Verschüttetem zu tun. Während der Archäologe an real Zerstörtem arbeitet, bemüht sich der Analytiker um etwas noch real Lebendiges an einem Objekt, das sehr viel komplizierter ist als die Materie des Archäologen.

Im Ödipuskomplex liegen nach psychonanalytischem Verständnis die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst. Vor allem aber bildet er den Kern aller Neurosen, erläutert Gail Finney in seinem Beitrag „Ödipus in Hollywood. Familientrauma im zeitgenössischen Film“ an verschiedenen amerikanischen Filmen. Auch der von William Shakespeare geschaffene Hamlet scheitert im Ödipus-Komplex an der realen Welt.

In den 1930er-Jahren hat sich Freud, wie Hartmut Böhme ausführt, von der klassischen Antike abgewendet, um sich angesichts des Faschismus mit dem alten Judentum zu identifizieren. Es erfolgte gleichsam eine Wendung von der Akropolis zum Sinai. Denn Freuds Tragödienheld heißt jetzt nicht mehr Ödipus, schreibt Liliane Weisberg, sondern Moses, der nicht wie Ödipus aus dem Land der thebanischen Sphinx kommt, sondern aus dem der ägyptischen. Er soll ebenfalls Antwort finden auf eine Frage, jetzt nicht nach dem Wesen des Menschen, sondern nach der Konstitution des jüdischen Volkes. In Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ begeht eine ganze Horde kollektiven Vatermord. Als Folge ihres Schuldbewusstseins entsteht das jüdische Volk. Dessen ethische Identität sei nichts anderes als das Resultat der Verdrängung dieser Tat, legt Weisberg dar. So werde die Geschichte des Ödipus in eine jüdische Legende verwandelt.

Gleichwohl nimmt, laut Böhme, in Freuds Psychoanalyse die funktionale Ausdifferenzierung von Gesellschaft und die systematische Organisation von Wissensfeldern in der griechischen Kultur ihren Ausgang und nicht in Israel. „Die Aufklärung, an der Freud bis zu seinem Lebensende unverbrüchlich festhält, beruht auf zwei Säulen, der griechischen und der jüdischen – wobei beide Kulturen wesentliche Bestimmungen durch Ägypten erfahren haben.“

Geradezu aufregend liest sich der Beitrag von Claudia Benthien über antikes Schuldbewusstsein und psychoanalytische Mythologie. Schließlich nimmt in Freuds Kulturtheorie Schuld eine zentrale Rolle ein. Ein großer Teil des Schuldgefühls ist unbewusst und zusammen mit der Entstehung des Gewissens eng an den Ödipuskomplex geknüpft. Es gibt aber auch Schuldbewusstsein ohne faktische Schuld. Freuds Ausführungen „kreisen um der artige ambivalente Modalitäten und Seinszustände zwischen unbewusst und bewusst sowie zwischen einer Schuld ohne Schuldgefühl und einem Schuldgefühl ohne Schuld.“ Ödipus zum Beispiel erlebt das höchste denkbare Unglück und wird ohne eigentliche Schuld schuldig. Unwissentlich lädt er Schuld auf sich und wird damit zu einem schuldlos schuldigen Helden. „Schuldbewusstsein und Gewissen“, schreibt die Autorin, „fungieren als Leit vokalen Freuds, um die Tragödie der Kultur und des modernen Individuums im Spiegel der Antike zu deuten […] Freud erklärt sich quasi zum Erben einer jüdisch-christlichen Gefühlsökonomie.“

In der christlichen und jüdischen Theologie des 20. Jahrhunderts wurde freilich Freuds pauschale These, wonach Religion auf einem ödipalen Schuldgefühl beruht und von diesem zu erlösen verspreche und damit als kollektive Neurose dem Einzelnen die neurotische Erkrankung erspare, äußerst kritisch bewertet.

In der Theoriebildung und Kultur des 20. Jahrhunderts wiederum erfuhr das Schuldbewusstsein selbst – in Deutschland trotz oder wegen seiner Kollektivschuld der Shoa – einen nachhaltigen Prozess der Verdrängung.

Andere Beiträge befassen sich mit „Pompeji und das Problem der Zeitlichkeit bei Freud“ (Heinz Weiss), mit der „Gradiva rediviva“, der Gipskopie eines im Vatikanmuseums hängenden Reliefs, die 1903 Gegenstand eines Fantasiestücks des Schriftstellers Wilhelm Jensen war. Welche Rolle sie dann in der Psychoanalyse spielte, erläutert Andreas Mayer.

Benigna Gerisch untersucht „Transformationen antiker Suizidszenarien in psychoanalytischen Konzeptualisierungen“ und äußert sich über Freuds Thesen zum Suizid. Thilo Held geht auf abweichende Charaktere in der Psychoanalyse ein, Liliane Weissberg auf griechische Tragödien von Aischylos, Sophokles, Euripides, und Hermann Beland nimmt „Die politische Funktion der sophokleischen Tragödien“ unter die Lupe und wagt eine psychoanalytische Interpretation.

Eine Leerstelle in der Psychoanalyse von Freud nimmt Elektra ein, hat hingegen Julia Freytag herausgefunden. Trotzdem seien Freuds Hysterikerinnen als Elektra-Figuren erkennbar. Elektra selbst indes entziehe sich im Gegensatz zu Ödipus, der für spezifische unbewusste Wünsche steht, die deutbar und entschlüsselbar sind, einem psychoanalytischen Zugang und offenbare damit in gewisser Weise, nach dem Dafürhalten der Autorin, die Grenzen der Freudschen Psychoanalyse, ihre blinden Flecken und Wünsche.

Nicht nur die Psychoanalyse, auch die von Freud inspirierten Kulturwissenschaften haben eine fortgesetzte Spurensuche betrieben, deren ultimatives Ende nicht absehbar ist. Offensichtlich kann man auch von einer postfreudianischen Antike sprechen. Sie findet sich außerhalb der Psychoanalyse etwa in den Forschungen von Aby Warburg, Eric Robertson Dodds, Bruno Snell, Georg Picht und in manch anderen.

Die Autoren sind nicht nur mit dem Werk von Sigmund Freud wohl vertraut, sondern auch mit der umfangreichen Sekundärliteratur, wie die ausführlichen und anregenden Anmerkungen verraten. Ihre klugen und differenzierten, aber durchaus verständlichen und gut lesbaren Ausführungen weisen auf bislang vernachlässigte Hintergründe und Aspekte in Freuds Psychoanalyse hin, zeigen aber ebenfalls mehr oder weniger indirekt ihre Entwicklungsmöglichkeiten und Grenzen auf.

Titelbild

Claudia Benthien / Hartmut Böhme / Inge Stephan (Hg.): Freud und die Antike.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
474 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835307865

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