Ein Thema schon, aber noch kein Begriff

Ein von Gerhard Lauer herausgegebener Sammelband versucht sich an der Profilierung des Generationskonzeptes aus literaturwissenschaftlicher Perspektive

Von Philipp HammermeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Hammermeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Trotz allem beklagten Hang zu unbedingtem Individualismus, Egoismus und Konkurrenzdenken scheint das Bedürfnis nach Vergemeinschaftung eine starke anthropologische Konstante zu sein. Die postmoderne Unverbindlichkeit fordert den Einzelnen zu einer selbstbestimmten Positionbestimmung in der Gesellschaft auf, da sie vormals natürlichen Beziehungen und Einbindungen in Kollektive erschüttert hat. Doch welche Bezugsgrößen bieten sich dem Individuum bei seiner Suche nach Identität stiftender Verankerung in Raum und Zeit an?

Die Nation ist in Deutschland aufgrund der Historie diskreditiert. Die Klasse bietet als überholtes soziologisches Konstrukt kein Identifikationspotenzial mehr und ihrem Nachfolger, dem Milieu, fehlt es an Trennschärfe und Verbindlichkeit, um eine fundierende Rolle bei der Herausbildung der Persönlichkeit übernehmen zu können. Die traditionelle kleinbürgerliche Familie schließlich befindet sich seit Jahren im Wandel und damit, wie oft behauptet, in der Krise. So bleibt noch die Generation und mit ihr die Verortung in der Gemeinschaft der Gleichaltrigen, die einen Zusammenschluss über geteilte Erfahrungen und Lebensstile und damit gleichzeitig auch eine Abgrenzung von Älteren und Jüngeren erlaubt.

Tatsächlich ist Generation ein in der Populärkultur der letzten Jahre immer häufiger anzutreffendes Schlagwort. Wenn die Proklamation einer „Generation Golf“ um die Jahrtausendwende noch einen revolutionären Gestus besaß, weil diese sich weniger über Abstammung oder Erfahrung denn über Lebensstil und Konsumverhalten definierte, hat sich die gemeinschaftsstiftende Nabelschau einzelner Jahrgänge mittlerweile zu einem beliebten, weil gut verkäuflichen Konzept auf dem Buchmarkt entwickelt. Marktschreierisch Titel wie „Generation Geil“, „Generation Doof“ oder „Generation Umhängetasche“ sind dabei die jüngsten, nicht aber die skurrilsten Folgen dieser Entwicklung.

Mit dem Konzept der Generation aus wissenschaftlicher Perspektive beschäftigt sich bereits seit einigen Jahren ein Graduiertenkolleg an der Universität Göttingen. Historiker und Ethnologinnen, Politologinnen und Literaturwissenschaftler bemühen sich dort um eine Profilierung des „notorisch mehrdeutig[en]“ Generationenbegriffes, welche einerseits die spezifische Verwendung des Konzeptes in den einzelnen Disziplinen verfolgt und andererseits die Herausbildung einer integrale Generationentheorie erlauben soll, um diese disziplinäre Grenzen wieder zu überwinden. Mittlerweile liegen die ersten Publikationen dieses Kollegs vor, und der hier vorgestellte Sammelband von Gerhard Lauer widmet sich dem Generationenphänomen erstmals ausschließlich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive.

Ausgangspunkt ist die von der Literaturkritik behauptete Konjunktur der Generationenromane. Diese folgen einem wohl typisch deutschem Erzählmuster, demzufolge sich die Enkel mit der vom Nationalsozialismus geprägten Geschichte der eigenen Großeltern auseinandersetzen, um sich von ihrem familiären Ursprung her neu zu denken und zu entwerfen. Aber ist denn dieses Erzählmuster wirklich so neu, dass es die von der Literaturkritik behauptete Konjunktur rechtfertigen würde? Und lassen sich von einigen Romanen und wenigen Autoren Rückschlüsse auf größere gesellschaftliche Entwicklungen ziehen?

Gerhard Lauer bezweifelt dies. In seiner programmatischen Einleitung des Bandes beklagt er die vorschnelle Verkopplung von Generation, Gesellschaft und Literatur, die er primär einer buchmarktorientierten Literaturkritik anlastet. Deren systematisch unscharfer Gebrauch des Generationenbegriffs strahle aber auch auf die Literaturwissenschaft ab. Und während sich die Politik- und die Geschichtswissenschaft, die Soziologie und die Psychoanalyse in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein spezifisches Generationenkonzept erarbeitet hätten, stehe diese Arbeit für die Literaturwissenschaft noch aus. Die hier von ihm versammelten Aufsätze könnten diese Forschungslücke zwar nicht füllen, sie sollten aber zeigen, wie breit das Spektrum literaturwissenschaftlicher Beiträge zur Generationsforschung ist. Als Beleg für diese Bandbreite sollen im Folgenden drei Aufsätze genauer vorgestellt werden, die sich dem Generationenkonzept von verschiedenen Seiten her annähern. Im Zentrum stehen zunächst die Leser, dann die Autoren und schließlich die Figuren.

Gudrun Weiland wendet sich in ihrem Beitrag einer von der Literaturwissenschaft bisher nur stiefmütterlich beachteten Gattung zu: dem populären Heftchenroman. Diese „sterbliche Literatur“, die schon aufgrund ihrer Materialität und Ästhetik eher auf einmaligen Konsum als auf dauerhafte Tradierung und Kanonisierung ausgelegt ist, kann trotz allem auch eine dauerhafte Wirkung entfalten – im nostalgischen Erinnern ihrer Leser und Sammler. Der Austausch über die Serienhelden der eigenen Kindheit wie Tom Shark, den König der Detektive, oder Frank Allan, den Rächer der Enterbten und vor allem über die Art und Weise, wie man sich als Jugendlicher diese Schundliteratur erst heimlich besorgen musste und unter welchen Bedingungen man sie überhaupt nur lesen konnte, bietet die Möglichkeit, noch im Nachhinein eine Generation zu konstatieren. Aus dem individuellen Erleben der Heftchenromane im Moment des Lesens wird in der Retrospektive eine kollektive Erinnerung. Dabei ist die verbindende Erfahrung des wilden Lesens unter der Schulbank genauso wichtig wie der widerständige Gestus dieser Lektüre gegen die Autorität der Eltern und Lehrer: generationelle Prägung fußt nicht nur auf der Gleichzeitigkeit, sondern immer auch auf der Ungleichzeitigkeit von Erfahrungen.

Anhand von Michael Thompsons „rubbish theory“ zeigt Weiland, dass es auch die doch eigentlich minderwertige Materialität der Heftchen ist, die ihren Wert für den Vergemeinschaftungsprozess ausmachen kann. Als billig produzierte Massenware durchlaufen sie nämlich einen Prozess der emotionalen Wertsteigerung. Der an sich wertlose Lesestoff wird nach der Lektüre entsorgt und erst mit zeitlichem Abstand zum affektiv besetzten Erinnerungsstück für den Liebhaber und Sammler, der dann bereit ist, auch ein Vielfaches des ursprünglichen Preises zu zahlen, um seine Sammlung und damit seine „materiale Autobiographie“ zu vervollständigen. Die Zeitlichkeit der Heftchenroman lässt sich mit der Lebenszeit ihrer Leser verknüpfen und die Erinnerung an bestimmte Helden (bei gleichzeitiger Nichterinnerung an andere) kann generationelle Zugehörigkeit begründen.

Der Beitrag von Ingo Irsigler und Kai Sina sollte unbedingt im Zusammenhang mit jenem von Markus Neuschäfer gelesen werden, da in ihnen eine Entwicklung des Verhältnisses von Individuum und Familie von der Nachkriegsliteratur bis in die Gegenwart nachgezeichnet wird. Irsigler und Sina untersuchen, wie ein Elitewechsel im literarischen Feld der späten 1950er-Jahre mit Veränderungen im literarischen Generationenkonzept einherging. Dem metaphysisch-deterministischen Geschichtsbild der älteren Mitglieder der Gruppe 47, für die das Individuum unausweichlich in das Schicksal der Familie und den Gang der Geschichte eingebunden blieb, begegneten jüngere Autoren um Dieter Wellershoff mit der Poetik des „Neuen Realismus“: Gegen das Allgemeine und Abstrakte ihrer Vorgänger setzten sie eine sinnlich-konkrete Schreibweise und einen genauen Blick für die störanfälligen Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft. Zwar scheitern in den hier untersuchten Texten von Ingeborg Bachmann, Peter Weiss und Dieter Wellershoff die Kinder noch regelmäßig an der Loslösung von ihren Eltern und der eigenen Familiengeschichte, doch werden dabei zumindest die Bedingungen offen gelegt, unter denen eine solche Emanzipation funktionieren könnte.

Für Bachmann muss sich der neue Mensch einer neuen Sprache bedienen, um sich aus seiner generationellen Einbindung in die Tradition lösen zu können. Für Weiss kann nur radikale Introspektion und andauernde Selbstbefragung einen Rückfall in die Verhaltensweisen der Eltern verhindern. Und für Wellershoff liegt der Schlüssel zu einer erfolgreichen Überwindung der lähmenden Prägung durch die Familiengeschichte in einer möglichst genauen Rekonstruktion der Wirklichkeit. Seine Leser sollen in seiner sinnlich-konkreten Darstellung ihre eigenen generationellen Erfahrungen und Probleme erkennen und in der Wirklichkeit vollziehen, was auch in seiner Literatur noch scheitern muss: den Bruch mit der Generation der Eltern und deren verdächtiger Geschichte.

Hieran arbeiten sich auch die Protagonisten im Familienroman ein halbes Jahrhundert später immer noch ab. Zwar sind an die Stelle der Kinder mittlerweile die Enkelkinder getreten, die Bindekraft der Familie scheint aber auch für die dritte Generation noch zu gelten. Markus Neuschäfer liest Romane von Tanja Dückers, Stefan Wackwitz und John von Düffel vor dem Hintergrund von Familiensoziologie und Psychoanalyse und kann feststellen, dass diese Texte dem eigentlich überholten kritischen Familiendiskurs der 1970er-Jahre folgen, die Prägekraft der Familie aber nicht mehr grundsätzlich infrage stellen. Vielmehr geht es nun darum, zu zeigen, wie sich die anfangs noch auf ihrer Autonomie beharrenden Enkel dem deterministischen Einfluss der Familie und der damit verbundenen „Einflussangst“ (Harold Bloom) stellen, um daraus neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung für sich zu entwickeln. Ihr Ziel ist es, durch die Konfrontation mit der eigenen Herkunft einem unbewussten Wiederholungszwang zu entgehen: „Die Hanno Buddenbrocks der Gegenwart begeben sich gewissermaßen auf die Couch einer narrativen Selbsttherapie, um ihre Vergangenheit im selbstkreierten ‚Behandlungszimmer‘ der Familienerzählung zu vergessen.“ Das eigentlich „vernutzte Genre“ (Sigrid Löffler) des Familienromans erlebt damit nicht bloß eine erneute Konjunktur, sondern laut Neuschäfer auch eine Weiterentwicklung: Ein Austritt aus der scheinbar unausweichlichen Familienkontinuität ist möglich. Er erfordert aber gerade nicht den offenen Bruch, sondern – im Gegenteil – eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft.

Die von Gerhard Lauer gesuchte genuin literaturwissenschaftliche Generationsforschung steht auch nach diesem Sammelband weiterhin aus. Ein Modell, welches es erlauben würde, Autorengenerationen, Textgenerationen und Lesergenerationen in einen systematischen Zusammenhang zu stellen, können auch die von ihm hier versammelten Beiträge nicht liefern. Sollen sie aber auch gar nicht. Die Aufgabe der Autoren und Autorinnen dieses Bandes war es vielmehr, zu zeigen, wie fruchtbar, lehrreich und anregend eine Analyse verschiedener literarischer Aspekte unter dem Gesichtspunkt der Generation sein kann. Dies ist ihnen gelungen.

Titelbild

Gerhard Lauer (Hg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
207 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835305717

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