Zurück in die Vergangenheit
Beatrice Weber unternimmt den Versuch, Vergewaltigungsmythen zu entlarven und wärmt nebenbei die Genderdebatte der 1980er-Jahre wieder auf
Von Sabine Lüdtke-Pilger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEinleitend stellt Beatrice Weber dem Leser die Frage, wie wirklich die Wirklichkeit ist. Sie will diesem kritisch vor Augen führen, dass die Wirklichkeit nicht immer das ist, was sie scheint, sondern vielmehr eine soziale Konstruktion – oder einfach gesagt: Wirklichkeit ist Interpretationssache. Diese wenig originelle Erkenntnis soll den Leser bis an das Ende des Buches begleiten. Gerne benutzt Weber hier kleine Denkspiele, die dem Leser vor Augen führen, wie subjektiv doch manchmal die eigene Wahrnehmung sein kann.
Unabhängig von dem etwas zähen Einstieg, der durch ungelenke Formulierungen wie „die idealtypische Vergewaltigung“ oder „das mediale Darstellungsinteresse eines Vergewaltigungsopfers“ glänzt, kristallisiert sich schon nach den ersten Seiten der Lektüre eine wesentliche Grundproblematik heraus: Sperriges Soziologendeutsch trifft auf eine schwer nachvollziehbare inhaltliche Struktur. Es stellt sich unmittelbar die Frage, wen Weber mit ihrem Buch adressiert. Es ist fraglich. inwiefern das Gros der Leser mit soziologischen Sprachtermini vertraut ist. Wendet sich Weber an ein sozialwissenschaftliches Fachpublikum, verlagert sich das sprachliche Problem unwillkürlich auf ein inhaltliches. Schließlich ist es keine bahnbrechende Erkenntnis, dass Wirklichkeit ein soziales Konstrukt ist, sondern die originäre Existenzberechtigung für die Sozialwissenschaften schlechthin.
Statt auf die soziale Rolle von Mann und Frau in der Gesellschaft einzugehen und den Mythenbildungsprozess hieran beispielhaft aufzuzeigen oder aber die jahrtausende alte Tradition von Vergewaltigungsmythen in Literatur und Kunst zu beleuchten, widmet sich Weber zunächst den Themen Attraktivität, Schönheitsideal und Status. Ist die Autorin immer wieder darauf bedacht, den Leser für Mythenbildung durch Umwelt und Medien zu sensibilisieren, vergisst sie scheinbar, dass auch sie eine Gefangene des kritisierten Gender-Netzes ist. So ergänzt sie die These „Die Umsetzung des Schönheitshandelns, hinsichtlich des Attraktivitätsstrebens ist jedoch abhängig von der Stellung innerhalb von sozialen Beziehungsgefügen“ mit folgendem realitätsbezogenen Beispiel: „Etwa wird eine Millionärsgattin eher schönheitschirurgische Eingriffe durchführen können, als eine Hartz-IV-Hilfe-Empfängerin“. Inwiefern Weber bei der Wahl ihres Beispiels selbst einer medialen Inszenierung von Wirklichkeit aufgesessen ist, darüber kann nur spekuliert werden. Dass sich jeder Feministin bei diesem plakativen Beispiel die Nackenhaare aufstellen dürften, ist hingegen eine Tatsache.
Nach einem kurzen Exkurs zur medialen Opferinszenierung, der die Frage aufwirft, warum dieser Themenpunkt als Exkurs abgehandelt wird – ist doch die mediale Inszenierung unmittelbar mit einer sozialen Wirklichkeitskonstruktion verquickt – arbeitet Weber zwei Realitätsbegriffe heraus, die es ihr ermöglichen sollen, den Vergewaltigungsmythos der eigentlichen Vergewaltigungsituation gegenüberzustellen: „Realität sui generis I“ und „Realität sui generis II“. Im folgenden Verlauf des Buches wird jedoch nicht klar, warum es dieses Modell braucht, verkompliziert es doch eigentlich nur unnötig einen Sachverhalt, für den es schlichte Begriffe wie „subjektiv“ und „objektiv“, „Konstruktion“ und „Dekonstruktion“ gäbe.
Ob weiblicher Masochismus, männlicher Sexualtrieb oder die Versprechen der Pornografie – Weber gelingt es nicht, interdisziplinär zu arbeiten und augenscheinliche Zusammenhänge herzustellen. Interessant wird das Buch lediglich an den Stellen, wo dem Leser durch reale Fallbeispiele Einblicke in die Opfer- und Täterperspektive gewährt werden.
Der Erkenntnisgehalt bleibt am Ende leider gering: Nein, nicht nur schöne junge Frauen werden vergewaltigt, auch die Meidung von bestimmten Orten zu einer bestimmten Uhrzeit können Vergewaltigungen nicht per se verhindern. Ein weiterer aufgedeckter Mythos: Frauen wollen nicht vergewaltigt werden – auch wenn Sigmund Freud und Hardcore-Pornografie dies behaupten.
Letztendlich steht die patriarchale Gesellschaft für die Bildung von Vergewaltigungsmythen in der Verantwortung, da sie dem weiblichen Opfer manchmal latent, manchmal offensichtlich eine (Mit-)Schuld unterstellt. Das ist denn auch Webers zentrales Fazit, welches sich vornehmlich auf die zum Ende sehr ausführliche Auseinandersetzung mit der Sex-Gender-Debatte stützt. Ganz klassisch bemüht sie in ihrer Schlussfogerung noch Simone de Beauvoir: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es!“ Doch damit nicht genug. Ihr Buch schließt mit folgendem Zitat: „Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.“ Jetzt hat es bestimmt auch der letzte Leser verstanden. Vorausgesetzt, er hat sich bis zum Schluss durch das Dickicht soziologischer Termini und obsoleter Erkenntnismomente geschlagen.