Der Meisterleser

George Steiner schreibt seine "Bilanz eines Lebens"

Von Bernhard SetzweinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Setzwein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Leben voller Errata, die nun doch noch berichtigt werden sollten: Ist es das, was uns George Steiner, der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feiert, nahelegen will mit seiner "Bilanz eines Lebens" untertitelten Autobiographie, die eben genau jenen leicht maliziösen Titel trägt, "Errata"? Das verwundert nicht wenig bei einem Mann, dem immer wieder attestiert wird, letztes, gewissermaßen makelloses Exemplar einer Gattung zu sein, die längst ausgestorben ist: die des Universalgelehrten nämlich. George Steiner füllt die Rolle des polyglotten Alleswissers mit solchem Esprit, mit solcher Brillanz aus, daß es schier unverständlich erscheinen muß, wo in einer solchen, von vielen bewunderten Biographie "Druckfehler", Errata eben, zu finden sein sollten.

Doch Steiner ist gnadenlos mit sich selbst. Er, der mit drei "Mutter"sprachen aufwuchs (Deutsch, Französisch, Englisch) und noch manche Sprache dazugelernt hat, klagt sich, allerdings mit milder Strenge, an, warum er es nicht auch dahin gebracht habe, die große russische Literatur im Original lesen zu können. Er, den alle (wissenschaftliche) Welt ob seiner immensen Belesenheit und seiner spielend leicht vorgebrachten Verknüpfungen der verschiedensten Wissensbereiche bewundert, sagt von sich selbst: "Ich habe meine Kräfte verzettelt und dadurch vergeudet."

Vergeudet an ein Werk, das von provozierender Universalität ist, weshalb grämliche Fachspezialisten ihm immer wieder am Zeug flicken wollten, erfolglos letzten Endes, Steiner triumphiert ja doch als der polyglotte Enzyklopädist, der er ist. Er hat zu semiotischen Fachfragen ebenso Geistreiches beigetragen wie zum "Mythos der Antigonen", er hat die ersten Anstöße zu einer "Theorie des Übersetzens" (in dem Buch "Nach Babel") gegeben, sich aber auch immer wieder mit Grundsatzfragen nach dem Wesen der Musik beschäftigt ("ich weiß von keinem tieferen Rätsel in den sciences de l'homme"). Er hat eine ganze Studie Martin Heidegger gewidmet, er hat über Schach geschrieben und die Frage, was Jüdischsein heute bedeuten kann, es gibt einen Roman von ihm (mit einem alle seine Tage Errata tilgenden Korrektor als Hauptfigur), er hat Hunderte von Buchkritiken für den "New Yorker" geschrieben, und wie und wann er dabei auch noch den Komparatistik-Lehrstuhl der Oxford University innehaben konnte, ist nur eines von vielen Rätseln dieses unvorstellbar produktiven und reichen Lebens.

Steiner hat es nun auf 220 Seiten bilanziert. Das fällt nicht nur deshalb so knapp aus, weil er auf fast alle persönlichen Mitteilungen aus seinem - vielleicht ja auch nicht sehr aufregenden - Gelehrtenleben verzichtet und dafür noch einmal, sehr konzise und prägnant, die intellektuellen Problematiken seines lebenslangen Lesens auflistet - und es war fast nur ein Lesen, dieses Leben, ein Lesen im "Objekt des Universums Le Livre", wie es Steiner, der sich gerne als maître de lecture versteht, in seiner Apotheose des "ungewöhnlichen Lesers" ausdrückt. Es sind dies Fragen wie: Was ist ein Klassiker? Wieso hat der Mensch Zukunft (weil er, so Steiner, die Grammatik hat!)? Was bedeutet der Tod einer Sprache? Was ist die gegenwärtig unbestreitbar wirkmächtigste Weltreligion? (Antwort: der Fußball!)

"Errata" ist die Autobiographie einer Geisteswelt und nicht einer lebenspraktischen Alltagswelt. Nur ganz scheu, ganz verhalten streift Steiner zwei, drei Episoden aus seiner Biographie, zum Beispiel, wie er als junger Student von einem ehemaligen Fallschirmspringer in ein Etablissement eindeutig zwielichtiger Provenienz mitgenommen wird, die Initiation zum Manne scheint dem Erfahreneren unumgänglich: "Ein so offensichtlich verhätscheltes, behütetes, förmlich ausstaffiertes, buchlastiges Geschöpf wie ich war ihm noch nie unter die Augen gekommen." Und ein paar Zeilen weiter heißt es: "Meine Jungfräulichkeit war für Alfie ein Ärgernis."

An solchen, man mag's bedauern, sehr raren Stellen zeigt sich, daß George Steiner auch ein hinreißender Schilderer sogenannt prallen Lebens sein könnte ... wenn er wollte. Er aber erzählt lieber von seiner Lektüre (mit fünf Jahren die "Ilias" mit dem Vater im altgriechischen Original!) und wie er seine ungeheure Lektürebesessenheit zur Profession machte und fortan an andere Menschen weitervermittelte. Und das begann schon, als er zum ersten Mal seinen Kommilitonen, weil sie ihn danach fragten, James Joyces Geschichte "Die Toten" aus den "Dubliners" nach allen Kunstgriffen der Philologie zergliederte. Als er fertig war mit seiner enthusiastischen Interpretation, schaute er auf: "Ich versuchte absurde Tränen zurückzuhalten. Bis ich sie auf einigen jener unrasierten Gesichter sah. Jetzt wußte ich, daß ich andere dazu verlocken konnte, Sinn zu finden."

Dazu stiftet Steiner an: Sinn zu finden in "der realen Gegenwart" des Kunstwerks, ob in Musik, Malerei und Literatur, um noch einen weiteren berühmten Buchtitel zu nennen, der Steiner vor allem seiner dort ausgebreiteten Polemik des "Sekundären" wegen manche Kritiker einbrachte. Letzten Endes ist er selbst nur ein solcher Sekundärverwerter, eine Einsicht, die ihn zeitlebens melancholisch und demütig stimmte. Und dennoch: Es gibt wohl nur wenige Meisterleser wie ihn, die einerseits- ganz altmodisch - die Ehrfurcht vor dem Kunstwerk lehren und andererseits mit literarischer Verve und einem ungeheuren Fundus an Erlebnissen und Anekdoten davon erzählen können, wie wirkliches Lesen ein Leben ändern kann.

Titelbild

George Steiner: Errata. Bilanz eines Lebens.
Carl Hanser Verlag, München 1999.
240 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3446196641

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