„Fruchtbare Anomalien“

Einige Überlegungen zur Entwicklung der deutschsprachigen interkulturellen Gegenwartsliteratur

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Es ist gar nicht so lange her, dass ein anerkennendes Raunen durch die deutsche Medienlandschaft ging: Die Jury des Deutschen Buchpreises, mit dem der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seit 2005 zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den besten deutschsprachigen Roman der letzten zwölf Monate kürt, hat bei ihrer Auswahl 2010 auf die kulturelle Vielfalt gesetzt. Fast die Hälfte der nominierten Titel der Longlist stammte von Autorinnen und Autoren, die außerhalb des deutschen Sprachraums, zumeist in Ost- oder Südosteuropa geboren worden sind. Zwar gab es unter den Nominierten immer wieder vereinzelt Autoren, die einen Sprachwechsel vollzogen haben – Saša Stanišic und Ilja Trojanow 2006, Sherko Fatah 2008, Feridun Zaimoglu sogar in beiden Jahren –, doch die Shortlist mit Melinda Nadj Abonji, Doron Rabinovici und Jan Faktor hat die Annahme bestätigt, dass dies tatsächlich „ein eigenwilliger Buchpreis-Jahrgang“ ist. „Über Liebe schreiben, reicht nicht mehr. Die Globalisierung ist im deutschsprachigen Literaturbetrieb angekommen!“, kommentierte die Online-Ausgabe der Wochenzeitung „“Die Zeit“ die Bekanntgabe der Finalisten, „komplizierte Herkunftsgeschichten und Geschichten über den Einbruch politischer Katastrophen ins Private sind zeitgemäßer und rocken besser“.

Nun hat sich der Medienrummel um die Preisträgerin Melinda Nadj Abonji und ihren Roman „Tauben fliegen auf“ (Jung & Jung) etwas gelegt, gekommen ist die Zeit der nüchtern(er)en Analysen. Ob die letztjährige Entscheidung über die Wahrnehmung einer „klaren Tendenz“ der Internationalisierung des deutschsprachigen Buchmarktes hinaus, die man übrigens nicht mehr ignorieren kann, auch wenn man wollte, tatsächlich die Akzeptanz und Normalisierung der Einwanderungssituation (zumindest) im Literaturbetrieb bedeutet, bleibt fraglich. Zwar setzt eine immer größer werdende Leserschaft unverkennbar Signale, wenn es um humoristische literarische Inszenierungen interkultureller Konfliktsituationen in der Intimsphäre der Familie geht, doch – dem ästhetischen Voyerismus dieser Art alle Ehre – es gibt so viel mehr, was diese Schriftsteller und Bücher an Themen, Schreibweisen und Lesegenuss bieten können.

Denn eins steht fest: Autoren wie Terézia Mora, Dimitré Dinev, Rafik Schami, Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoglu, Ilija Trojanow, Saša Stanišic, Yoko Tawada, María Cecilia Barbetta, Irena Brežná, Ilma Rakusa, José F. A. Oliver, Zafer Senocak, Catalin Dorian Florescu (und man könnte diese Aufzählung inzwischen seitenlang fortsetzen!) haben über die Tatsache hinaus, dass sie Deutschland, Österreich und die Schweiz zu ihrem Lebensmittelpunkt und das Deutsche zu ihrer Arbeitssprache gewählt haben, sonst nichts, und wirklich gar nichts, gemeinsam. Ihr Kultur- und Sprachwechsel prägt ihre schöpferischen Imaginationen ohne Zweifel nachhaltig, dies aber jeweils auf spezifische Weise. Und mögen die Autoren selbst das anders sehen, es gibt sie, die „fruchtbaren Anomalien“ (Saša Stanišic), die man vielleicht einmal zu oft gönnerhaft als „Bereicherung“ gefeiert hat. Dass „der Tumult des Kopforchesters“ (Ilma Rakusa) das Bedürfnis generiert, sich als Schriftsteller stets neu zu erfinden, ist ebenfalls ein Umstand, der der Gegenwartsliteratur in jeder Hinsicht zugute kommt. Wo ist aber die Selbstverständlichkeit, mit der man in Großbritannien, Frankreich, Kanada und den USA herausragenden Büchern dieser Art Aufmerksamkeit schenkt?

Als vor mehr als drei Jahrzehnten die damals nicht nur deutschsprachige Literatur der Migration Heimatlosigkeit, kulturelle Verlusterfahrungen und Identitätskrisen thematisiert hat, war sie noch die Angelegenheit engagierter Sozialarbeiter. Mit dem Etikett „Gastarbeiterliteratur“ versehen wurde ihr die Daseinsberechtigung als ästhetisches Phänomen abgesprochen und für lange Jahre der Stempel des Exotismus und Dilettantismus aufgedrückt. Mit ihrer zunehmenden Institutionalisierung seit den 1980er-Jahren wuchs das politische Bewusstsein der Autoren, die die Ausgrenzungen (auch aus dem Literaturbetrieb) nicht mehr hinnehmen wollten. Doch auch dies erwies sich als Sackgasse: Ein Jahrzehnt später haben angesichts des zögernden Hineinwachsens in eine durch die Globalisierung rasant wandelnde Wirklichkeit beziehungsweise der Neuimaginationen der Deutschen als Multikultur gesellschaftspolitische Aussagen Vorrang gegenüber Lesarten gehabt, die die „poetische Alterität“ (Norbert Mecklenburg) oder das Sprachperformative in den Blick fassten.

Nicht ganz unschuldig an der Misere sind Literaturkritik und Literaturwissenschaft, wenn auch letztere im Rahmen einer interkulturellen, kulturwissenschaftlich orientierten Germanistik einen beträchtlichen Teil der stilistisch oft einzigartigen und hochkomplexen Texte zum Gegenstand zahlreicher Einzeluntersuchungen und systematisierenden Überblicksdarstellungen gemacht hat. Nur eine allgemeingültige Bezeichnung fehlt nach wie vor für das Phänomen. Gegen Begriffe wie „Literatur von Ausländern“, „Gastliteratur“ oder „eine deutsche Literatur von außen“ haben sich die Autoren von Anfang an mit Recht verwahrt, doch auch die neueren Benennungen „Migranten-“ oder „Migrationsliteratur“ stoßen bei ihnen mit der Begründung, dass Migration und Multikulturalität nicht ihr ausschließliches Thema sei, auf wenig Beifall.

In den Augen des gewöhnlichen Lesers, der von der wachsenden Welthaltigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur angezogen wird, scheint diese Behauptung wenig zutreffend, häufen sich doch seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts ethnografische Fiktionalisierungen der Migrationsgeschichte der Elterngeneration oder werden eigene Migrationserfahrungen verarbeitet. Doch nach der (zumeist ersten) Veröffentlichung ist vor der Veröffentlichung, und immer mehr Autoren vertrauen ihren schriftstellerischen Instinkten, wenn es um die Erschließung neuer – weltoffener, vielschichtiger – Themen geht. Eine Entwicklung, die an der Liste der Chamisso-Preisträger und ihrer ausgezeichneten Werke abzulesen ist.

Es wird sie geben, die Nino Haratischwilis, die das deutsche Theater aufmischen, die José F. A. Olivers, die den Heimatdichtern den Kosmopolitismus lehren, die Galsan Tschinags, die die Geschichte ganzer Völker in der deutschen Sprache verwahren wollen. Als „Agenten der Weltläufigkeit und Mehrsprachigkeit“, wie Ilija Trojanow formulierte, werden sie dafür sorgen, dass die deutschsprachige Literatur ins Weltliterarische hineinwächst. Man kann sich dagegen sperren oder die Entwicklung als den Lauf der Dinge annehmen.

Die Zeitschrift literaturkritik.de widmet den Neuerscheinungen der (nicht nur deutschsprachigen) interkulturellen Gegenwartsliteratur ihren aktuellen Schwerpunkt. Vielleicht ist nicht alles Gold, was im Literaturbetrieb gegenwärtig glänzt, liebe Felicitas von Lovenberg, aber Sie haben es mit dem „Fallobst im Frühjahr“ nicht wirklich ernst gemeint, oder?