Interkultur als Programm

Mark Terkessidis über eine pluralistische Transformation des öffentlichen Raumes

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Interkultur“ versucht Mark Terkissidis ein Programm einer Politik zu beschreiben, die „Barrierefreiheit herstellen will“. Vielleicht scheint die Erwähnung, dass nationalstaatliches Denken überholt ist, überflüssig. Doch denken „wir“ immer noch in Kategorien, welche ein „Volk“ voraussetzen. Das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen durch Integration steuern zu wollen, scheint oftmals gut gemeint zu sein, doch erfreut das Ergebnis weder „Einheimische“ noch „Migranten“.

Einführung in die Parapolis

In den gegenwärtigen Städten ist die Vielfalt die Ausgangslage. Oftmals wird jedoch in der Integrationsdebatte eine Leitkultur heraufbeschworen, an der sich Migranten orientieren sollen. Wie problematisch diese Überlegung ist, zeigen am besten die Städte, in denen es mehr Menschen mit Migrationshintergrund gibt als sogenannte „Einheimische“. Wer soll sich hier nun wem anpassen?

Durch Migration und Mobilität haben sich die Städte längst verändert. Bis in das Jahr 2000 (Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetz) war das jus sanguinis aus dem Jahr 1913 noch gültig. Dieses Prinzip enthielt, dass Deutschsein mit der direkten Abstammung, also durch Blut, einhergeht. 1998 bekannt man sich in Deutschland zur Einwanderungsgesellschaft, jedoch dachte man bis heute, dass diese Einwanderer wieder „zurückgehen“ würden. Nach Terkessidis gleichen sich die Zahlen von Migranten und Touristen langsam an. Die Stadt ist voll von ihnen und man kann sie selbst nicht mehr unterscheiden. So sind zum Beispiel die touristischen Hotelburgen in den beliebten Reiseländern zu sehen. Touristen in Deutschland kennzeichnen sich kaum als solche. Viele kommen über das Wochenende zum Beispiel nach Berlin, um die Clubszene zu besuchen. Niemand von ihnen trägt eine Kamera bei sich und begibt sich auf die Suche nach Sehenswürdigkeiten. Viele sprechen eine andere Sprache, sodass man sich auf der Straße nicht mehr sicher ist, ob es sich um Touristen oder Migranten handelt. „Parallelgesellschaften“ entstehen laufend. Daraus ergibt sich der Wandel von der Polis zur vielgliedrigen Parapolis. Die Anpassung an „eine Leitkultur“ scheint somit mehr als obsolet. Viel mehr steht die Gestaltung der Vielfalt im Vordergrund, welche man auch finanziell unterstützen muss. Da sieht Terkessidis auch die Politik gefordert, die Gelder sinnvoll für eine solche Gestaltung verteilen muss.

Kritik der Integration

Der Begriff Integration wird allgemein so verstanden, dass die eigene Kultur perfekt sei und die jeweilige andere sich dieser anpassen müsse. Die Vorstellung widerspiegelt die Gedanken der Einigung des Nationalstaats, welcher sich aus einer Vielzahl unabhängiger Fürstentümer zusammensetzte. Integration ist aber ein individueller und sozialer Prozess, welcher Kulturen nebeneinander und miteinander fördern soll. Im Grundgesetz gibt es keine klare Vorstellung vom Volk. So gibt es zum Beispiel zwischen Deutschland und Holland Unterschiede. Der Bürgermeister von Amsterdam stellt die Einwohner in einem Tortendiagramm dar, da sie aus verschiedenen Herkunftsgruppen bestehen. Die Einheimischen bilden also nicht die Norm, wie in Deutschland, sondern eine Vielfalt.

Es gibt mehr Absichtserklärungen und Ideen als wirkliche Umsetzungen und reale Förderungen. So ist es gekommen, dass in den letzten 30 Jahren das Risiko arbeitslos zu werden nun für Menschen mit Migrationshintergrund von zwei Mal auf drei Mal so hoch ist als für einen Deutschen. Dass die Ausländer nicht wollen, erscheint als Ausrede, denn wer würde auf Sozialstatus, Bürgerrechte und Bildungsmöglichkeiten für die Kinder verzichten?

Die Vorstellung von Norm ist höchst problematisch, besonders, wenn bei Migranten hinsichtlich einer Einbürgerung Prüfungen des Lebensweges und Persönlichkeit vollzogen werden. Sagen Charaktereigenschaften oder biografische Stationen etwas über die Zugehörigkeit aus? Bestehen solche Vorgehensweisen auch für „Einheimische“?

Integration als Begriff ist negativ aufgeladen. Nicht zuletzt deshalb konkurrieren im politischen Diskurs verschiedene Begriffe, welche sich in ihren Bedeutungen nicht immer decken. So zum Beispiel Angleichung und Chancengleichheit. Verschiedene Vorstellungen werden aus den traditionellen Werten oder dem Neoliberalismus konstruiert. „Die Aufgabe des Staates gilt nun nicht mehr primär die Reparation vorhandener Ungleichheiten durch eine erhöhte Verteilungsgerechtigkeit, sondern die Schaffung gleicher Startvoraussetzungen für die miteinander konkurrierenden Individuen – ganz gleich welchen Geschlechts, welcher Schichtzugehörigkeit, Herkunft, Altersgruppe oder sexuellen Orientierung.“

Die sogenannten „Sorgenkinder“ sind das Resultat einer frühen Aussortierung in den Bildungseinrichtungen. So gibt es zwar Förderprogramme in den Kindergärten. Diese werden jedoch nach einem sehr obsolet gelenkten Sprachlernkonzept ausgeführt. Die Ausbildung des pädagogischen Personals lässt hier ebenso zu wünschen übrig. Die Defizite zeigen sich nicht nur bei Kindern mit Migrationshintergrund, sondern auch bei Deutschen. Dabei zeigt sich ein Mangel an Reformwillen, welcher weder Migranten noch Deutschen zugutekommt. Es gibt engagierte Pädagogen und Lehrer, jedoch können ihre Einzeltaten nichts am System ändern.

Der Umgang mit Rassismus

Es ist keine Seltenheit, dass Migranten in zweiter Generation erst nach einer gewissen Zeit merken, dass sie keine „Deutschen“ sind. Denn obwohl sie in Deutschland geboren und dort aufgewachsen sind, nehmen sie andere als anders wahr. So wird zum Beispiel ein Kind mit dem Namen Mehmet so lange nach seiner Herkunft gefragt, bis dieser wahrnehmen muss, dass ihm etwas fehlt. Dass er in Deutschland geboren wurde und aufgewachsen ist, zudem die ferne Heimat seiner Eltern oder eines Elternteiles nie kennen gelernt hat, spielt für die anderen keine Rolle.

Klischees haben dabei eine große Auswirkung auf das Gespräch mit den Migranten beziehungsweise mit deren Nachkommen. Dies macht eine Politik der Gestaltung der Vielfalt notwendig. Und es stimmt nicht, dass in der Zeit der Krise keine Verantwortung übernommen werden kann. Trotzdem versucht man mittels der großen Klage über die Krise, dies glaubhaft zu machen. Die Krise ändert nichts an der Tatsache, dass auch in dieser Zeit Ungleichheiten systematisch bearbeitet werden müssen. In diesem Zusammenhang müsste es eine Evaluation der Institutionen geben, wobei das nicht heißen soll, dass alle Institutionen schlecht sind.

„Die hypothetische Gesamtheit des Imaginären einer Gesellschaft lässt sich kaum auf den Begriff bringen, doch Cornelius Castoriadis hat einen ‚flüssigen‘ Begriff vorgeschlagen – er spricht von ‚Magma‘. Das heißt nun nicht, man benötige nur ein ‚Leitbild‘, und dann folge der Wandel der Institutionen wie von selbst. Doch Politik ist immer auch ästhetisch, Politik will formen. Ein anderes Magma kann dabei helfen. Wie gesagt: Das Magma einer Gesellschaft ist zweifellos nicht leicht zu beschreiben, aber in Deutschland gibt es eine verbreitete Vorstellung von einem ‚Wir‘, die in etwa besagt, dieses ‚Wir‘ sei ein Solitär auf dem Weg durch eine manchmal unglücklich verlaufene Geschichte, dieses ‚Wir‘ werde stets von zentrifugalen Tendenzen bedroht und brauche daher ‚Einigkeit‘ und dieses ‚Wir‘ sei positiv, weil es uns das Gefühl von Sicherheit gibt.“

Vordergründig besteht also ein Prozess zwischen den Menschen. Da die unmittelbare Kultur, die einen umgibt, auch nicht von Beginn der Geburt bis zum Tod gleich bleibt, kann der Mensch auch nicht einer Konstante entsprechen. Für das Zusammenleben bedeutet dies, dass eine Vorstellung einer Kultur nicht als Maß aller Dinge angenommen werden kann. Sicherheit kann nicht auf Basis von Tradition und eingesessenen Normen und Werten erzielt werden. Die Gemeinsamkeit aller ist nicht die Biografie eines jeden Einzelnen, sondern das zukünftige Zusammenleben.

Das Programm der Interkultur

Alle Personen unterscheiden sich untereinander. Dieses Faktum muss man bei der Barrierefreiheit berücksichtigen. Soziale Unterschiede werden gelebt, wobei die Benennung dieser Unterschiede sie zwar transparent machen, aber noch nicht dekonstruieren. Ethnizität ist auf jeden Fall eine Konstruktion. „Im Zuge der Globalisierung wurden die traditionellen Milieus jedoch so stark aufgeweicht, dass Ethnizität, Symbolisierung und Lebensstil mehr und mehr ineinanderfließen.“ Ideen wie Norm und Abweichung sowie Identität und Minderheit müssen erneuert beziehungsweise aufgelöst werden. Wichtiger ist die Vielheit, „deren kleinste Einheit das Individuum als unangepasstes Wesen ist, als Bündel von Unterschieden. Die Gestaltung der Vielheit muss für dieses Individuum einen Rahmen schaffen, in dem Barrierefreiheit herrscht und es seine Möglichkeiten ausschöpfen kann.“

Die Praktiken einer Kultur können erst verstanden werden, wenn man den ganzen Beziehungskomplex betrachtet. Kultur versteht Raymond Williams als gesamte Lebensweise. So lautet auch Mark Terkessidis’ Verständnis von Interkultur, es handle sich um „die Veränderung der charakteristischen Muster, die aktuell mit der Vielheit eben nicht mehr übereinstimmen“. Im Gegensatz zum Projekt Multikulturalismus gibt es auch in Großbritannien „Interculturalism“. Dabei werden kulturelle Grenzen nicht als fixiert, sondern als fließend begriffen. In diesem Zusammenhang geht Terkessidis auf Diversity-Programme ein und führt an Hand von Beispielen aus, wie ein solches politisches Programm aussehen könnte. So reicht es zum Beispiel nicht, jemanden mit Migrationshintergrund einzustellen, damit jemand für alle „Ausländer“ zuständig ist. Man muss die Kultur der Institutionen genauer betrachten. Dabei müssen die gewünschten Veränderungen nicht nur kommuniziert, sondern auch gelebt werden. Damit geht auch eine Veränderung des Personalbestandes her, welcher proaktiv gestaltet werden muss. Das heißt zum Beispiel, dass eruiert werden muss, warum gewisse Personengruppen sich nicht für die Institution bewerben. Was sind dafür die Gründe und wie kann die jeweilige Institution in jenen Bereichen Arbeit leisten. Ebenso sind jedoch materielle Grundlagen von Nöten, sodass Barrierefreiheit überhaupt ermöglicht werden kann. In der Zeit der Krise will man davon nichts hören, deshalb ist jedoch die Rhetorik der Krise leider auch eine Rhetorik der Migration.

Kulturinstitutionen für alle

Kultur im engeren Sinn wie Film, Theater, Kunst, Literatur und Musik wird im Rahmen der Integrationsdebatte vernachlässigt. Dabei wird gerade in diesem Feld das Selbstverständnis einer Gesellschaft ausgehandelt. In der politischen Ebene kommuniziert man noch Homogenität, wo längst keine mehr vorhanden ist (nie vorhanden war?). So spielt Kreuzberg in der Vermarktung der Stadt keine Rolle, auch wenn die Vielfalt in Berlin längst zur Attraktion geworden ist. In diesem Zusammenhang wäre Interkultur ein Prinzip für die ganze Gesellschaft. Also ein breit gefächertes Verständnis wie in den Diversity-Ansätzen und nicht nur auf Einwanderung bezogen. So gehört der Regisseur Fatih Akin zum Gesicht des deutschen Films und macht keine Filme als Migrant. Letzteres ist eine Reduzierung seiner Tätigkeit. Im Jahr 2007 hat man in der Stadt Mannheim ein „Handlungskonzept interkulturelle Kulturarbeit“ verabschiedet. Auch dabei wurde klargestellt, dass Integration Kultureinrichtungen mit bedenken muss.

Ein Problem dabei jedoch ist, dass bei den Medienmachern nur ein sehr geringer Bestandteil Migrationshintergrund hat. Dadurch werden Probleme bei Migranten sehr oft auf Klischees reduziert und nur selten adäquat hinterfragt. Terkessidis schreibt diesbezüglich: „Nun steht die Welt der Medien unter erheblichem Veränderungsdruck. Die Zeitungen leiden unter Auflagenschwund, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass sie ihre Leserschaft aus einem schrumpfenden Pool rekrutieren. Denn an Orten, an denen die Personen mit Migrationshintergrund ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, kann man kaum überleben, wenn man diese Gruppe nicht anspricht.“

„Interkultur“ fordert eine interkulturelle Alphabetisierung. Im Vordergrund steht die Gegenwart, welche sich durch aktuelle heterogene Gruppen zusammensetzt. Somit wird die ungeteilte Vergangenheit deutlich. Darauf kann auf Grund verschiedener Erfahrungen und kultureller Hintergründe nicht aufgebaut werden, sehr wohl aber auf die gemeinsame Zukunft, die jeden betrifft. Terkessidis’ Vorschlag ist, diesbezüglich die Institutionen stärker zu fordern. Diverse politische und wirtschaftliche Diversity Konzepte entlarvt er als Alibileistungen, da sie auch alteingesessene Wertvorstellungen transportieren können. Multikulturalismus und Integration stellen keine Verbesserung der Gesellschaft dar, da man die Gesellschaft als Sollzustand sieht und nicht von einem Istzustand ausgeht. Erst das Bewusstmachen der gegenwärtigen Zusammensetzungen innerhalb einer Gesellschaft kann der Ausgangspunkt für eine gerechtere Zukunft sein. Interkultur als Programm könnte den öffentlichen Raum nicht nur verändern, ein solches Programm könnte die Gesellschaft demokratischer gestalten.

Titelbild

Mark Terkessidis: Interkultur.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2009.
220 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783518125892

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