Verfliegender Zauber

Hernán Rivera Letelier wirft einen cineastischen Blick in Chiles Vergangenheit

Von Stefan CernohubyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Cernohuby

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die wenigsten Leser können sich wirklich vorstellen, wie vor nicht allzu langer Zeit das Leben für die einfache Bevölkerung in Ländern ausgesehen hat, die sich nicht nur weit entfernt, sondern auch weit außerhalb aller Interessensgebiete befinden. Der chilenische Bestsellerautor Hernán Rivera Letelier versucht, dieses Wissen in verschiedenster Form an seine Leser weiterzugeben. Im aktuell vorliegenden Fall handelt es sich um das im Insel Verlag erschienene Buch „Die Filmerzählerin“.

Not macht erfinderisch. Das ist ein Sprichwort, das die Menschheit zu allen Zeiten beherzigt hat. Inmitten einer kleinen chilenischen Arbeitersiedlung wächst María Margarita als jüngstes Kind und einzige Tochter einer fünfköpfigen Familie auf. Nachdem ihr Vater nach einem Unfall querschnittgelähmt ist, ihre Mutter sie verlassen hat und nicht einmal das Geld für einen Rollstuhl vorhanden ist, bleibt auch das liebste Hobby aller Beteiligten auf der Strecke: Der Besuch des örtlichen Kinos.

So kann sich immer nur eine Person die Lichtspiele ansehen und muss den anderen erzählen, was der Film zu bieten hatte. Im Rahmen eines familieninternen Wettbewerbs wird festgestellt, dass niemand den Inhalt eines Kinofilms besser wiedergeben kann als das junge Mädchen. Ihr Talent geht dabei so weit, dass sie sich selbst Requisiten baut, um Inhalte noch glaubwürdiger wiedergeben zu können, worauf schließlich Leute aus der ganzen Siedlung kommen, um ihre Auftritte zu sehen und dafür sogar Eintritt zahlen. Eine zeitlang scheint sich alles zum Besseren zu wenden, doch wie das meiste Glück ist der Zustand nicht von Dauer. Nachdem María, die sich fortan Fee Delcine nennt, auch Hausbesuche macht, wird sie im Rahmen eines solchen Besuchs vom ungeliebten Geldverleiher vergewaltigt. Nach dem abrupten Ende ihrer Kindheit muss sie zahlreiche weitere Verluste hinnehmen. Und nach einer Beziehung mit dem Verwalter der Siedlung, dem Aufkommen des Fernsehens und schließlich einem politischen Umsturz verändert sich nicht nur ihre eigene Situation.

Aus beinahe demselben Milieu wie die Protagonistin des Romans stammend, weiß Letelier sehr glaubwürdig zu schildern, wie das Leben in einer kleinen Arbeitersiedlung aussieht, besonders wenn es einigen Leuten übel mitgespielt hat. Das Talent Fantasie und Wirklichkeit glaubwürdig miteinander verschmelzen zu lassen, ist in dieser Situation und Umgebung nicht nur eine Möglichkeit, Fiktion zu schaffen, man kann sich durch diese Gabe auch der allgegenwärtigen Verzweiflung und dem Mangel an Perspektiven für eine Weile entziehen. Dies wirkt sich auch auf den Leser des Buchs aus, der seine eigenen Erfahrungen mit einigen der beschriebenen Filmklassiker in eine völlig andere Situation transponiert erlebt. An diesen Stellen kann er mit den Charakteren wirklich mitfühlen.

Doch leider entbehrt der Rest des Buchs an Inhalt. Jahre werden in einem schnellen Vorlauf übersprungen, bis alles, was für die Erzählung wichtig war, bereits vorüber ist. Daher besteht der wirklich relevante Teil des ohnehin ziemlich kurzen Werks in einigen Kapiteln, die auch in Erinnerung bleiben, während der Rest schnell wieder vergessen wird. Es sind Momentaufnahmen, die man entweder als Liebeserklärung des Autors auf das Kino verstehen kann oder die aussagen sollen, dass die Fantasie den Menschen befähigen kann, selbst unter unwirtlichen Bedingungen zu überleben und Schönes zu schaffen. Wer sich mit diesen Inhalten als Kern der Erzählung anfreunden kann, wird mit dem Buch vermutlich seine Freude haben. Wer aber mehr erwartet, sollte sich besser einem anderen Roman widmen.

Titelbild

Hernán Rivera Letelier: Die Filmerzählerin. Roman.
Aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Insel Verlag, Berlin 2011.
104 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783458174950

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