Panoramen der Poetik

Ein von Monika Schmitz-Emans et al. herausgegebenes Lexikon und eine Theoriengeschichte von Sandra Richter orientieren über alte und neue Tendenzen poetologischer Reflexion

Von Peter LangemeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Langemeyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachschlagewerke und Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Poetik gibt es in der Germanistik nicht gerade im Überfluss. Zwar gibt es Bruno Markwardts zwischen 1937 (!) und 1967 in fünf Bänden erschienene „Geschichte der deutschen Poetik“. Doch das monumentale Werk ist in methodischer und fachlicher Hinsicht veraltet. Es gibt die für Unterrichtszwecke verfassten Abrisse von Hermann Wiegmann („Geschichte der Poetik“, 1977) und Werner Jung („Kleine Geschichte der Poetik“, 1997; erweiterte Neuauflage unter dem Titel „Poetik“, 2007). Und es gibt, mit abweichendem Schwerpunkt, das von Engelbert Habekost und Rolf Günter Renner herausgegebene „Lexikon literaturtheoretischer Werke“ (1995), das in seinen Werkartikeln auch die wichtigsten Poetiken der abendländischen Literaturgeschichte behandelt.

Aber damit ist das Angebot an Gesamtdarstellungen und einführenden Orientierungen auch bereits weitgehend erschöpft. Es ist daher zu begrüßen, dass sich jetzt zwei neue Bücher des eher stiefmütterlich behandelten Themas annehmen: das von Monika Schmitz-Emans in Zusammenarbeit mit Uwe Lindemann und Manfred Schmeling herausgegebene Lexikon „Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe“ und Sandra Richters Monografie „A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770-1960“.

Das komparatistische Lexikon „Poetiken“ befaßt sich, wie die Herausgeber in ihrer Vorbemerkung erläutern, mit „Reflexionen über Dichtung, über Voraussetzungen, Funktionen und Effekte dichterischer Texte, über poetische Gattungen, Darstellungsweisen und Kommunikationsformen, über die Beziehung zwischen dichterischer Rede und ihren Gegenständen“ und verspricht, „einen Einblick in die komplexe Semantik der Begriffe ‚Dichtung‘ und ‚Literatur‘ sowie der ihnen zugeordneten Unterbegriffe“ zu geben. In über 400 Artikeln informiert der Band über Poetiken und poetologische Texte aus allen Epochen der Literaturgeschichte von den Anfängen in der griechischen Antike bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Akzente der Auswahl liegen auf der westlichen Tradition, der Moderne und der deutschsprachigen Dichtung. Jeder Artikel ist einem Autor gewidmet. Der Aufbau der im Umfang zwischen einer Spalte und fünf Spalten variierenden Artikel folgt einem einheitlichen Schema. Auf eine Werkbiografie folgen Informationen zu Textausgaben und zur Forschungsliteratur. Die Auswahl umfasst Philosophen und Wissenschaftler, Dichter, Übersetzer und Kritiker. So finden sich Artikel über Aristoteles, Immanuel Kant und Niklas Luhmann, über Samuel Taylor Coleridge, Karl Dedecius und Reinhard Baumgart. Auch Autoren von Kinder- und Jugendliteratur werden berücksichtigt, wenngleich nur am Rande (etwa Peter Härtling, Erich Kästner, Gianni Rodari und Renate Welsh). Dass auch Dichter vertreten sind, die keinen eigenen Beitrag zur Poetik geliefert haben, erklärt sich aus der Wirkungsgeschichte ihrer Werke: Dramatiker wie Aischylos, Euripides, Sophokles, die in separaten Artikeln vorgestellt werden, haben mit ihren Tragödien die Reflexion über Struktur und Wirkungszweck des Dramas nachhaltig beeinflusst.

Der größte Teil des Lexikons aber ist Schriftstellern und Dichtern des 20. Jahrhunderts vorbehalten. Wie bereits der Titel signalisiert, reflektieren Auswahl und Schwerpunkt für die literarische Moderne charakteristische Tendenzen: die Selbstreflexivität der Dichtung und die Pluralisierung der poetologischen Reflexion. Poetisches und poetologisches Schreiben werden gleichrangig und sind eng aufeinander bezogen. Zu „expliziten Poetiken“, die sich in Textsorten wie Abhandlungen, Lehrbüchern, Vorlesungen, Essays oder Programmschriften niederschlagen, gesellen sich in steigendem Maße „implizite Poetiken“, die den dichterischen Texten ‚eingeschrieben‘ sind. Die Poetik differerenziert sich in „Individualpoetiken“ aus, die sich einer normativen oder gesetzmäßigen Verallgemeinerung entziehen und allenfalls noch für das eigene Werk Verbindlichkeit beanspruchen können. Der Leser wird mit einer Vielfalt autoreigener Auffassungen über Dichtung konfrontiert, die den Schaffensvorgang genauso betreffen können wie die Verfahrensweisen, das Medium, den Gattungsbezug oder die gesellschaftliche Funktion. Es dürfte schwerfallen, die Stellungnahmen auf einen gemeinsamen positiven Nenner zu bringen, auch wenn die Diskussionen teilweise immer noch in den Bahnen traditioneller Alternativen verlaufen wie Engagement oder Autonomie, Mimesis oder Selbstreflexivität. Bei der Auswahl der Gegenwartsautoren orientierten sich die Herausgeber besonders an den Frankfurter Poetikvorlesungen und den Büchner-Preis-Reden. Eine Übersicht über weitere wichtige Poetikdozenturen und -vorlesungen im deutschsprachigen Raum, eine Bibliografie mit weiterführender Forschungsliteratur und ein Sachregister beschließen den Band.

Lexika sind nicht nur erweiterungfähig, sondern auch erweiterungsbedürftig. Die Herausgeber räumen ein, dass die Auswahl der behandelten Autoren Wünsche übrig lassen kann. Und in der Tat sind die Lücken deutlich. So findet man Sigmund von Birken, aber nicht August Buchner, Theodor W. Adorno, aber nicht Ernst Bloch, Erich Kästner, aber nicht Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht, aber nicht Ödön von Horváth, Günter Eich, aber nicht Wilhelm Lehmann, Gérard Genette, aber nicht Franz K. Stanzel, Harold Bloom, aber nicht George Steiner – die Liste ließe sich leicht fortsetzen. Eine Neuauflage, die das Lexikon sicherlich erreichen wird, sollte hier Nachträge vornehmen.

Während das Lexikon „Poetiken“ sich an einen größeren Kreis literarisch und literaturwissenschaftlich interessierter Leser wendet, zielt Richters Monographie „A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770-1960“ auf ein engeres, fachwissenschaftliches Publikum. Der Band ist ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der poetologischen Reflexion. Die Autorin konzentriert sich auf einen Zeitausschnitt in der Geschichte der deutschsprachigen Poetik, in dem wichtige Weichenstellungen für die Entwicklung für vorgenommen wurden. Die historischen Eckdaten markieren Johann Georg Sulzers Lexikon zur „Allgemeinen Theorie der schönen Künste“ (1771-1774), in dem sich der Übergang von der präskriptiven Regelpoetik zur Kunstautonomie reflektiert, auf der einen Seite, die Vertreter formalistischer und „werkimmanenter“ Ansätze in den 1940er- und 1950er-Jahren des 20. Jahrhunderts auf der anderen Seite. Sowohl der Ausgangs- als auch der Endpunkt des behandelten Zeitausschnitts bilden eine wissenschaftsgeschichtliche Zäsur: Die Darstellung beginnt mit der Entstehung einer völlig neuen Dichtungskonzeption und endet vor der in den 1960er- und 1970er-Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzenden „Theoriewelle“. Richters Interesse gilt den Transformationen der Poetik unter der Bedingung neuer theoretischer Fragestellungen und ihrer Integration in Wissenschaftssysteme wie die Ästhetik, die Philologie und die Literaturtheorie.

Die Einleitung vermisst den Gegenstandsbereich der „Poetik“ (oder, wie es bei der Autorin auch heißt, der „Theorie der Dichtung“ bzw. „literarischen Theorie“) im Schnittfeld von Ästhetik, Literaturgeschichte, Literaturkritik, Stilistik und Rhetorik. Den Kernbereich der Poetik bilden die „Produktion von Dichtung“ und ihre „impliziten und expliziten theoretischen Prämissen“. Entsprechend befasst sich der Band weniger mit der „Geschichte der Poetik“, als mit der „Geschichte der theoretischen Prämissen der Poetik“, das heißt der systematischen Reflexion auf die Prinzipien der Hervorbringung poetischer Texte, wie sie sich vorzugsweise in fachwissenschaftlichen Monographien niederschlägt. Ausgeschlossen bleiben Lehrbücher für den Schul- und Privatgebrauch sowie dichterische und essayistische Texte, in denen über poetologische Themen reflektiert wird, wie zum Beispiel Karl Wilhelm Ferdinand Solgers „Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst“ (1815), aber auch Philosophen wie Wilhelm von Humboldt oder Friedrich Nietzsche, die die poetologische Diskussion beeinflusst haben. Dass Gottlob Frege vernachlässigt wird, dürfte daraus zu erklären sein, dass er erst im späten 20. Jahrhundert für die Literaturtheorie entdeckt wurde.

Richter rekonstruiert die Geschichte der Poetik im Medium ihrer theoretischen (Haupt-)Werke, die sie unter gemeinsame methodologische Leitbegriffe gruppiert. So ergeben sich für den Zeitraum vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts sieben unterschiedliche theoretische Ansätze, die in historischer Reihenfolge vorgestellt werden: die eklektische Poetik der Popularphilosophie (Sulzer, Eschenburg, Eberhard, Engel), die transzendentale Poetik in der Nachfolge Kants (Heusinger, Clodius, Hillebrand), die historische Poetik (Herder, Herwig, August Wilhelm Schlegel), die logostheologische Poetik im Anschluss an Schelling (Ast, Loreye, Johann Jakob Wagner), die nachidealistische Poetik (Bouterwek, Wackernagel, Vischer, Herbart, Zimmermann, Gottschall), die vorempirische und empirische Poetik ab 1820 (Carriere, Fechner, Lotze, Viehoff, Dilthey, Müller-Freienfels, Scherer, Wolff) und die psychologische Poetik (Elster, Roetteken).

Auch der anschließende Zeitraum vom frühen 20. Jahrhundert bis zum Ende der 1950er-Jahre wird nach Richter von sieben verschiedenen Hauptströmungen poetologischer Reflexion beherrscht: der Geisteswissenschaft (Dilthey, Ermatinger, Walzel, Hefele), der Wende zur Sprache bei Theodor Alexander Meyer, der Phänomenologie (Husserl) und Ontologie (Ingarden), der Anthropologie, dem Existenzialismus und der Hermeneutik unter dem Einfluss Søren Kierkegaards und Martin Heideggers (Spoerri, Pfeiffer, Staiger), der Theorie des „Sprachkunstwerks“ in den Studienbüchern Wolfgang Kaysers und Herbert Seidlers, der Poetik im Nationalsozialismus (Obenauer, Kindermann, Büttner, Günther Müller, Petersen) und neuen Ansätzen in der frühen Nachkriegszeit, wie der „Autorpoetik“ von Joachim Maass oder der „Allgemeinen Literaturwissenschaft“ von Max Wehrli. Der Band schließt mit einem Resümee der wichtigsten „Tendenzen, Trends und untergegangenen Ideen“ im behandelten Zeitraum und gibt einen Ausblick auf die weitere Entwicklung nach 1960. Ein Personen- und ein Sachregister erleichtern das Nachschlagen.

Fast ein Drittel des Bandes entfällt auf die systematische Bibliografie, die neben Primärtexten zur Poetik, Ästhetik und Literaturtheorie auch Forschungsliteratur enthält. Ob es den Leser des Buches interessiert, wieviele (textidentische?) Auflagen und Nachdrucke Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik“ in der Theorie-Werkausgabe des Suhrkamp-Verlags oder in der Universalbibliothek des Reclam-Verlags erzielt haben? Wichtiger wäre es wohl gewesen, die verbesserte 2. Auflage der Vorlesungen von 1842 zu verzeichnen, nach denen heute das Werk meist gedruckt wird. Und wäre es nicht sinnvoller gewesen, die verschiedenen Ausgaben von August Wilhelm Schlegels Berliner „Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst“ (1801-1804) und seiner Wiener Vorlesungen „Ueber dramatische Kunst und Litteratur“ (1809-1811) zu erfassen, statt anderthalb Druckseiten dafür zu verwenden, nahezu sämtliche 26 Auflagen von „Ch. Oesers Briefe an eine Jungfrau über die Hauptgegenstände der Ästhetik: Ein Weihegeschenk für Frauen und Jungfrauen“ mit vollständigen bibliografischen Angaben aufzulisten? Oder alle zwanzig, zwischen 1948 und 1992 erschienenen und ab der sechsten Auflage unveränderten, Auflagen von Kaysers Einführungsklassiker „Das sprachliche Kunstwerk“ (1948)? Wurde einerseits Vollständigkeit angestrebt, so sind die bibliografischen Angaben andererseits lückenhaft – ein Einwand, der umso schwerer wiegt, als Richter und ihre Mitarbeiterinnen sich um die Begrenzung des Seitenumfangs anscheinend keine Sorgen machen mussten.

Beide Handbücher, die sich in vielerlei Hinsicht ergänzen, erfüllen Desiderate literaturwissenschaftlicher Forschung und Lehre. Sie vermitteln einen Überblick über die poetologische Theoriebildung, erleichtern unsere Orientierung im Feld der fachwissenschaftlichen Poetik von 1770 bis 1960 (Richter) und vervollständigen unsere Kenntnis der impliziten Poetiken bei Dichtern des 20. Jahrhunderts (Schmitz-Emans et al.). Und sie erinnern daran, dass es die Literaturwissenschaft nicht nur mit sprachlichen Texten zu tun hat, sondern mit Dichtung, also mit etwas, für das einmal der Begriff „schöne Literatur“ gebräuchlich war.

Titelbild

Poetiken. Autoren - Texte - Begriffe.
Herausgegeben von Monika Schmitz-Emans, Uwe Lindemann und Manfred Schmeling unter Mitwirkung von Kai Fischer, Anne Rennig und Christian Winterhalter.
De Gruyter, Berlin 2009.
489 Seiten, 149,95 EUR.
ISBN-13: 9783110182231

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Titelbild

Sandra Richter: A history of poetics. German scholary aesthetics and poetics in international context, 1770 - 1960.
With Bibliographies by Anja Enk, Jasmin Azazmah, Eva Jost and Sandra Richter.
De Gruyter, Berlin 2010.
455 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110222449

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