Instrumentalisierter Tötungstrieb

Michael Gratzke untersucht die Grundfiguren des Heldentums bei Gotthold Ephraim Lessing, Heinrich von Kleist, Theodor Fontane, Ernst Jünger und Heiner Müller

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Eigentlich unglaublich“, wundert sich Franz Josef Degenhardt im Jahr 1995, „dass ihnen das immer wieder gelingt… Deinem Urgroßvater haben sie erzählt: Gegen den Erbfeind. Für das Vaterland. Und er hat das tatsächlich geglaubt. Was hat er gekriegt? Granatsplitter in Beine und Kopp vor Verdun. Deinem Großvater sagten sie: Gegen die slawischen Horden. Für die abendländische Kultur. Er hat das wirklich geglaubt. Was hat er gekriegt? Bauchschuss und einen verrückten Kopp vor Stalingrad. Deinem Vater erzählen sie jetzt: Gegen die Völkermörder. Für die Menschenrechte. Unglaublich – er glaubt’s. Was er wohl kriegt? Und wo wird das sein – diesmal?“

In der Tat wundert man sich, dass sich Menschen nicht nur immer wieder aufs Neue in Kriege schicken lassen, sondern dass dann auch diejenigen, die erklärte Feinde in großer Anzahl töten oder selbst getötet werden, von den Literaten zu Helden stilisiert und im gesellschaftlichen Bewusstsein zu Vorbildern erhoben werden. Ist es wirklich so, dass es keinen dauerhaften Frieden auf dieser Welt geben kann, weil immer wieder „frische Geschlechter“ nachwachsen, die mit kriegerischen Taten in der Nachfolge ihrer gefallenen Väter nach Heldentum streben? Der vermeintlich unpolitische Lyriker der Romantik, Joseph von Eichendorff, hat es in seinem Gedicht „Trost“ so ausgedrückt: „Im Walde da liegt verfallen / der alten Helden Haus, / doch aus den Toren und Hallen / bricht jährlich der Frühling aus. / Und wo immer müde Fechter / sinken im mutigen Strauß, / es kommen frische Geschlechter / und fechten es ehrlich aus.“

Permanent haben die Dichter in den vergangenen Jahrhunderten propagandistische „Vaterlandsgesänge“ angestimmt wie Friedrich Hölderlin in seinem Gedicht „Der Tod fürs Vaterland“: „O nehmt mich, nehmt mich mit in die Reihen auf, / damit ich einst nicht sterbe gemeinen Tods! / Umsonst zu sterben, lieb’ ich nicht; doch / lieb’ ich, zu fallen am Opferhügel / fürs Vaterland, zu bluten des Herzens Blut, / fürs Vaterland – und bald ist’s geschehn! Zu euch, / ihr Teuern! komm’ ich, die mich leben / lehrten und sterben, zu euch hinunter! / Wie oft im Lichte dürftet’ ich euch sehn, / ihr Helden und ihr Dichter aus alter Zeit! / Nun grüßt ihr freundlich den geringen / Fremdling, und brüderlich ist’s hier unten; / und Siegesboten kommen herab: die Schlacht / ist unser. Lebe droben, o Vaterland, / und zähle nicht die Toten! Dir ist, / liebes! nicht einer zu viel gefallen.“

In triefendem Pathos wird dem Leser die – eigentlich widerliche und abstoßende – Botschaft vermittelt, dass es wünschenswert ist, wenn Menschen massenhaft im Krieg fallen. Wieso wird diese Botschaft immer wieder wiederholt und von so vielen Menschen mit Zustimmung aufgenommen? Weshalb wird ihnen bis in die Gegenwart mit beachtlichem Erfolg militärisches „Heldentum“ als vorbildliches Handeln zur Nachahmung vorgeführt? Warum kommt bei Menschen ein Tötungstrieb zum Ausbruch, den die Staaten – und heute in zunehmendem Maße auch terroristische Bewegungen – für ihre Zwecke instrumentalisieren?

Michael Gratzke hat in seiner Studie „Blut und Feuer“ die Grundfiguren des Heldentums untersucht. Allerdings klammert er die Lyrik aus und konzentriert sich auf Dramen und Prosa-Literatur. Die Grundlagen bilden die Publikationen von Gotthold Ephraim Lessing, Heinrich von Kleist, Theodor Fontane, Ernst Jünger und Heiner Müller. Die Auswahl der Autoren erscheint merkwürdig und ist wohl hauptsächlich dem Umstand geschuldet, dass Gratzke über sie bereits Vorarbeiten angefertigt hat, die in diesem Buch zusammengeführt werden. Er unterscheidet den Führerhelden vom Opferhelden und behauptet, dass „die heroische Größe des Führerhelden […] sich im Opferhelden in die innere Erhabenheit der richtigen Gesinnung“ verwandle. Er fasst die von ihm erarbeiteten Thesen folgendermaßen zusammen: „Die Grundelemente des Opferheldendiskurses in der deutschen Literatur von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. sind fünf Oppositionen: Tapferkeit & Feigheit, Gehorsam & Auflehnung, Ausdruck & Stoizismus, Pflicht & Neigung, Staat & Individuum.“

Seine Erkenntnis lautet: „Eine militärische Leistung wird dann zu einer Heldentat, wenn sie in der Heldenverehrung als solche konstituiert wird. Heldentum ist keine Eigenschaft, sondern das Produkt einer diskursiven Zuschreibung und daher historischen Variationen unterworfen.“ Man kann ihr sicherlich zustimmen, zumal sie sich mühelos mit weiteren Dokumenten untermauern lässt. Gratzke konstatiert außerdem: „Entscheidend für die Verehrung als Opferheld sind das Leiden und der Tod.“ Den Schwerpunkt hat er „auf die Darstellungen männlichen Heldentums“ gelegt und „weibliches Heldentum völlig und nichtmilitärisches Heldentum weitgehend“ ausgeschlossen.

Gratzke bekennt, dass seine Studie „die größte Nähe“ zu der von René Schilling verfassten Dissertation zum Thema „Kriegshelden“ aufweist. Es verwundert dann allerdings, dass er den „Heldendichter“ Theodor Körner, den Schilling ins Zentrum seiner Untersuchung gestellt hat, gänzlich ausklammert. Denn gerade anhand von Körners Biografie, seiner in der Sammlung „Leyer und Schwert“ veröffentlichten Kriegslyrik und vor allem seiner Rezeptionsgeschichte hätte er seine Forschungshypothesen optimal überprüfen können. Schließlich zitiert er Albert von Boguslawskis Aussage, wonach „die höchsten Dichtergestalten der Menschheit […] die auf dem Schlachtfeld gefallenen Dichter“ seien. Und er merkt selbst an: „Der Tod des Helden ist für die Verehrung als Opferheld entscheidend und nicht die Leistung auf dem Schlachtfeld.“

Gratzkes Ziel ist es, „die Geschichte der literarischen Verehrung von Kriegshelden von der Hoch-Zeit Preußens unter Friedrich II. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts“ zu verfolgen. Die Studie ist allerdings im Ansatz und in ihrer Intention problematisch, weil sie den Versuch unternimmt, ganz unterschiedliche Autoren in ein Schema zu pressen und dabei zu sehr von dem allzu dominanten Jünger ausgeht. Eine plakative Kategorisierung wird der exzellenten Erzählkunst Fontanes nicht gerecht, zumal wenn dieser lediglich als ein Schriftsteller angesehen wird, „der zeitlebens ein Verehrer des alten Preußen“ gewesen sei. Gerade die Untersuchung von Fontanes Romanen unter Berücksichtigung des von ihm eingesetzten Stilmittels der Ironie hätte unter dem Aspekt der Themenstellung differenzierter ausfallen können. Wünschenswert wäre auch gewesen, dass zentrale Aussagen seiner Romanfiguren eingehender erläutert werden. Beispielsweise wird Pastor Lorenzen aus dem Roman „Der Stechlin“ zitiert: „Mein Heldentum – soll heißen, was ich für Heldentum halte, das ist nicht auf dem Schlachtfelde zu Hause, das hat keine Zeugen oder doch nur solche, die mit zugrunde gehen.“

Aber Gratzkes Erläuterung beschränkt sich auf den Satz: „In Lorenzens Vision der Moderne ist Heldentum dann gänzlich von Heldentaten (wenigstens auf dem Schlachtfeld) und Heldenverehrung abgekoppelt.“ Und wenn Fontane eine andere Person seine Auffassung von einem „Musshelden“ vortragen lässt, dann sollte diese ebenfalls nicht nur zitiert, sondern gründlich ausgelotet werden, damit man nachvollziehen kann, in welcher Weise ihm die Schaffung eines „Kollektivhelden“ gelingt. Weil die Debatte, die Gratzke nachzeichnet, auf der „Auseinandersetzung des unerträglichen Leidens von Männern“ basiert, bezieht er in seine Studie auch Lessings Stück „Minna von Barnhelm“ und vor allem seine kunsttheoretischen Schriften ein, mit denen dieser seine Positionen ausgehend von der in den vatikanischen Museen ausgestellten Laokoon-Gruppe entwickelt hat. Lessing ging es in der Auseinandersetzung mit Johann Joachim Winckelmann und Johann Gottfried Herder bekanntlich um die Bestimmung, wie der Dichter den „ausgelassenen Schmerz“ von Helden – ganz im Gegensatz zu dem bildenden Künstler – adäquat zum Ausdruck bringen kann.

Sicherlich wäre es von Vorteil gewesen, wenn Gratzke den perversen Gewaltfantasien Jüngers mit einer größeren kritischen Distanz gegenüber getreten wäre. In diesem Zusammenhang wünscht man sich klare Stellungnahmen und Wertungen. Immerhin entlarvt er Jüngers Heroismus als „leere Geste, selbst an dem Punkt, wo der Autor die vernichtenden Kräfte der Modernisierungsprozesse beschreibt“, weil es den „Heldenfiguren bei Jünger an Gesinnung oder Überzeugung“ fehle. Zu Müller stellt er fest, dass dieser „was genuin militärisches Heldentum angeht, […] zeitlebens skeptisch“ blieb. Größtenteils erschöpft sich das Buch aber in der Wiedergabe von ausgewählten Erzählvorgängen, auf deren Grundlage dann eine Definition des Heldentums vorgenommen wird. Gratzke möchte der „Empfindsamkeit des Helden“ nachspüren, „denn diese ist es, die in der weiteren Entwicklung die Standesgrenzen überspringt und für die Darstellung sowohl adliger als auch bürgerlicher Opferhelden entscheidend wird“.

Interessant wäre gewesen, wenn der Autor der von ihm formulierten These nachgegangen wäre, wonach in der Literatur der Neuzeit „eine Verbürgerlichung des adligen Kriegshelden“ stattgefunden hat. Für deren Verifizierung wäre es allerdings notwendig gewesen, zunächst anhand von prototypischen Texten aus dem Mittelalter und unter Heranziehung der mediävistischen Forschungsliteratur das Bild des ritterlichen Helden zu eruieren und mit dem des bürgerlichen Heldentypen neuzeitlicher Autoren zu vergleichen. Während die Darlegungen zu diesen Aspekten gänzlich fehlen beziehungsweise zu kurz gehalten werden, sind die auf andere Bereiche bezogenen Ausführungen – etwa die über Kleist – recht redundant ausgefallen und verlieren zuweilen sogar das Ziel aus den Augen. Im Übrigen ist nicht nachvollziehbar, weshalb Gratzke ausgewählte Zitate mehrfach an verschiedenen Stellen in seinen Text einfügt.

Abwegig und irritierend ist die Basis, von der Gratzke ausgeht, wenn er schreibt: „Diese Studie geht von der einfachen Grundannahme aus, dass Gewalt niemals sinnlos ist.“ Akzeptabel ist hingegen seine „theoretische Grundbewegung“, wonach „Heldentum nicht als Zustand, sondern als Prozess des Handelns und Sprechens zu verstehen“ sei. Am besten wird Gratzke dem heute weitgehend vergessenen Dichter Ewald Christian von Kleist gerecht, der am 24. August 1759 an den Folgen der Verletzungen gestorben ist, die er sich in der Schlacht von Kunersdorf zugezogen hat. Bei seinem „Soldatenleben war das Verhältnis von Erfahrung und Ausdruck umgekehrt. Zunächst schrieb er über den Krieg, dann zog er in die Schlacht.“

Die stoische Haltung des Kriegers, die er in seinem Roman „Cißides und Paches“ propagierte, hat er mit seinem lang hingezogenen qualvollen Sterben selbst vorgeführt: „Stoisches Ertragen des Schmerzes und Tränen des Mitleids gehen bei Ewald von Kleist widerspruchslos Hand in Hand.“ Der preußische Offizier hat den Tod gesucht, der ihn nach eigenem Bekenntnis „glücklich“ machen sollte, weil er ihn aus seiner Depression erlösen würde. Der Tötungstrieb verbindet sich bei Ewald von Kleist mit einem krankhaften Masochismus und führt dazu, dass er den Sterbeprozess zelebriert und auskostet.

In dem Kapitel „Gewalt, Grazie und Heldentum bei Heinrich von Kleist“ untersucht Gratzke hauptsächlich die Handlung und Wirkungsweise der Stücke „Prinz Friedrich von Homburg“ und „Die Hermannsschlacht“ sowie die Ausführungen zum „Marionettentheater“, um nachzuweisen, „dass Heinrich von Kleist sowohl den Führerhelden als auch den Opferhelden neu erfindet“. Es ist keine neue Erkenntnis, wenn er ferner darauf verweist, dass „Trotz, Eitelkeit und Abenteuerlust, also individual-psychologische Züge, Jüngers Normverstöße“ bestimmen und bei diesem Autor „die individuelle Leistung des Soldaten […], wenn alles gut geht, von den Oberen mit Ehrenzeichen belohnt“ wird. Bei Jüngers perversen Bekenntnissen weiß man nie, ob sie der Wahrheit entsprechen oder als Mittel der Stilisierung in den Text funktional eingearbeitet wurden: „Der ohnmächtige Wunsch zu töten beflügelte meine Schritte. Die Wut entpreßte mir bittere Tränen. Der ungeheure Vernichtungswille, der über der Walstatt lastete, verdichtete sich in den Gehirnen und tauchte sie in rote Nebel ein.“

Gratzke stellt fest, dass die von ihm untersuchten Kriegsbücher „der Selbststilisierung der Erzähler- und Autorfigur Jünger“ dienen. Und er fasst seine Erkenntnisse so zusammen: „Das konstitutive Paradox von Ernst Jüngers Frühwerk ist, dass es eine Figur des Ernst Jünger schafft, die zugleich lebender Dichter und toter Opferheld ist. […] Insgesamt geht der Figur Jünger die psychologische Tiefe eines Philotas ab, der sich die Verbände wieder und wieder abreißen will, bis er endlich den Heldentod stirbt, denn es fehlt den Heldenfiguren bei Jünger an Gesinnung oder Überzeugung.“ Dieser Einschätzung kann man vorbehaltlos zustimmen. Sie müsste zur Folge haben, dass der überschätzte Schriftsteller Jünger endlich von dem Sockel gestoßen wird, auf den ihn seine kriegsbegeisterten Anhänger gestellt haben.

Titelbild

Michael Gratzke: Blut und Feuer. Heldentum bei Lessing, Kleist, Fontane, Jünger und Heiner Müller.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011.
200 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826046148

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch