Das drohende Chaos im Inneren
Beatrice von Matt bringt aus Anlass des 100. Geburtstages von Max Frisch Gedrucktes und Ungedrucktes unter einen Hut
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBeatrice von Matt hat Max Frisch einen Gutteil seines Weges als Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin begleitet. 1964 begegneten sich der renommierte Autor und die damals 28-Jährige das erste Mal. Sie hielt im Musiksaal des Zürcher Stadthauses einen Vortrag zu Ehren des großen schweizerdeutschen Schriftstellers Albin Zollinger, über den sie eben promoviert hatte. Frisch, der den 1941 im Alter von gerade einmal 46 Jahren verstorbenen Zollinger besessen gelesen und zu einem seiner frühen literarischen Hausgötter verklärt hatte, hörte dem „Fräulein Doktor“ aus der hintersten Reihe gespannt zu. Und obwohl seine Begeisterung für den Lyriker und Prosaisten Zollinger beileibe nicht mehr so glühend war wie noch zweieinhalb Jahrzehnte zuvor, äußerte er sich im Anschluss an die Veranstaltung voller Wohlwollen.
Von da an behielt man sich gegenseitig im Auge. Bis zu jenem 8. März 1991, an dem der an Leberkrebs Erkrankte die damalige Redakteurin der „Neuen Zürcher Zeitung“ zu einem letzten Aperitif an sein Krankenbett einlud. Man sprach über den bevorstehenden achtzigsten Geburtstag Frischs, sein gespanntes Verhältnis zum Vaterland und den Tod: „Ich fragte ihn, ob ihn der Gedanke, tot zu sein, nicht ängstige. Nein, keine Sekunde in seinem Leben habe er sich vor dem Tod gefürchtet. Über den Tod habe er zeit seines Lebens nachgedacht, ihn bei allem immer in Rechnung gestellt. Ihn ängstige nur ‚die Sterberei‘, wie er sich ausdrückte.“
Seinen achtzigsten Geburtstag, an dem das Zürcher Schauspielhaus zu Ehren Frischs den letzten Akt des Stückes „Triptychon“ in der 1981er Inszenierung des Wiener Akademietheaters aufführen ließ, hat der Jubilar selbst dann nicht mehr erlebt. Er starb am 4. April 1991. Heute, 20 Jahre später, erinnern Bildbände, Biografien, kommentierte Neuausgaben seiner Werke an einen Autor, der eine feste Größe in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts darstellt und mit seinem Landsmann Friedrich Dürrenmatt das Bild der Deutschschweizer Literatur im Ausland über gut vier Jahrzehnte geprägt hat. Von Matts „Mein Name ist Frisch. Begegnungen mit dem Autor und seinem Werk“ ragt aus der Fülle der zur hundertsten Wiederkehr von Frischs Geburtstag am 15. Mai erscheinenden Texte schon deshalb heraus, weil sich in den zwölf Beiträgen dieses kleinen Sammelbandes kritische Werkanalyse und die aus zahlreichen persönlichen Begegnungen resultierende Authentizität bei der Annäherung an den jeweiligen Gegenstand glücklich ergänzen. Dass sich die Beiträge – bei zweien von ihnen handelt es sich um Erstdrucke – noch dazu wunderbar lesen lassen, dürfte niemanden überraschen, dem die kritischen Arbeiten der Autorin vertraut sind.
Dass auch Frischs eigenes Werk keineswegs davor geschützt war, verkürzt wahrgenommen zu werden, reduziert auf Schlagworte, eingefroren zu „Bildnissen“, versehen mit Etiketten, war ihm zu Lebzeiten durchaus bewusst. Das Leitthema seines berühmten Romans „Stiller“ (1954) – sein Verfasser hat es sozusagen am eigenen Leib immer wieder erfahren müssen. War er für die einen der politische Nestbeschmutzer, über den seit 1948 im Geheimen fleißig Buch geführt wurde, stießen sich wieder andere daran, wie ehrlich, schmerzhaft selbstbezogen und jenseits jeglicher politischen Korrektheit er das Geschlechterverhältnis in seinen Büchern behandelte. Macho, Mythenzerstörer, Miesepeter – von Matts Texte machen deutlich, dass diese Attribute weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit Werk und Person Frischs auch nur annähernd zu beschreiben vermögen.
Das thematische Spektrum der zwölf Beiträge reicht von pointierten Werkanalysen über Betrachtungen zum homo politicus Frisch bis zur Einordnung des Autors in weltliterarische Kontexte. Ausgehend von der Überzeugung der Autorin, dass die Weltliteratur ein „unendliches Gespräch“ darstelle, das „unerwartete Richtungen nimmt und sprachenübergreifend immer neue Volten schlägt“, folgt sie den manifesten Spuren Luigi Pirandellos, Michel de Montaignes und Sören Kierkegaards in Frischs Werken, thematisiert sein Verhältnis zu Zeitgenossen und benennt als wichtigste Ursache für seinen „triebhaften“ Gestaltungswillen die Furcht vor dem „drohenden Chaos im Innern“, das alle seine Formgebungsversuche in den Griff zu bekommen suchen.
Erhellend sind die Bemerkungen zu Frischs Verhältnis zum Meer, das sich als sein „intensivster Ort“ an allen Ecken und Enden des Werkes findet und mit geradezu „metaphysischen Qualitäten“ ausgestattet wird. Noch viel zu wenig thematisiert wie untersucht scheint die in mehreren Beiträgen anklingende Erkenntnis, Frischs Weg als Schriftsteller habe von einer Poetisierung des Existenziellen im Frühwerk zu mehr und mehr registrierender Sachlichkeit in den Alterstexten geführt. Bei alldem übersieht die Autorin auch nicht, dass die „Verjüngung eines Erfolgreichen“ im Falle des Jahrhundertschriftstellers Frisch dringender denn je geboten ist, „unentdeckte Energien und durch Gemeinplätze verstellte Wahrheiten“ nur darauf warten, durch heutige Leserinnen und Leser für sich entdeckt zu werden. Und warum sollte, was im Falle des wesentlich unbekannteren Robert Walser zu dessen hundertstem Geburtstag 1978 gelungen ist, nämlich aus dem bis dahin nur von Wenigen Gelesenen einen höchst lebendigen Klassiker zu machen, gerade bei Max Frisch scheitern?