Die Logik des Einverständnisses

Georg Klein stellt sich in seinem Erzählband „Die Logik der Süße“ Zukunftswelten vor

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Inhaltsverzeichnis erweckt den Eindruck einer strengen Ordnung: Neun Erzählungen sind unter dem Titel „Futur eins“ versammelt, neun unter dem Titel „Futur zwei“. Es wird sein, es wird gewesen sein – so genau wird bei Georg Klein dann freilich doch nicht unterschieden. Es geht jedenfalls um Zukunft, um Regeln (auch um Regeln des Erzählens), und vielleicht auch einmal darum, dass eine Regel durchbrochen wird.

Über eine zukünftige Welt zu erzählen ist nicht einfach, denn den Lesern ist die neue Welt unbekannt, und man muss viel Stoff unterbringen. Besonders kompliziert ist die Ich-Perspektive, die Klein hier zumeist wählt: Ein Ich kann sich nur an seine Zeitgenossen oder an zukünftige Leser wenden – die aber kennen den historischen Verlauf bereits. Für die heutigen Leser wichtige Informationen sind nur schwer einzufügen. Nicht immer gelingt in diesem Band eine elegante Lösung. Zwei Erzählungen aber verdienen besonders hervorgehoben zu werden.

„Die Pferde der Kinder“ eröffnet das Buch. Berichtet wird aus einer Zeit nach einer großen Katastrophe, die der Erzähler selbst nicht begreift. Jedenfalls findet er sich auf einem Berggipfel mit einer Gruppe von Kindern und einigen pensionierten Lehrern isoliert, ohne zu wissen, ob es andere Überlebende gibt. Nach einiger Zeit offenbaren die Kinder ein überraschendes Wissen von der Welt vor dem Untergang und werden zu einer Gefahr für die Älteren.

Hier stellt Klein zunächst gekonnt Einzelheiten einer nachapokalyptischen Welt vor, deren Grundzüge erst allmählich deutlich werden. Nach einem ähnlichen Zusammenbruch spielt auch der letzte Text, „Die Zukunft“. Hier erfährt man gar nichts mehr über das vorangegangene Geschehen. Der Erzähler gehört einer Kampftruppe an, die „Sekundäre Habitanten“ aufspürt und vertreibt. Er berichtet Details über eine neue Ausrüstung, über Gefahren beim Einsatz, über Ausbildung und Praxis, aber nichts über die Vorgeschichte. Man lernt nur das Denken eines Mannes kennen (ist es überhaupt ein Mann?), der seinen Job macht, und das am Ende verblüffend gewaltfrei.

So verflüchtigt sich ein Buch, das reich an dramatischen Konflikten ist, sie aber kaum je ernsthaft durchführt. Ein Entführungsopfer erlebt sich plötzlich als Bestandteil einer performance; der Ich-Erzähler der Titelerzählung „Die Logik der Süße“ ist Spezialist für besonders komplizierte Aufträge und löst sie, indem er sich treiben lässt. So erlangt er denn auch, anders als seine aktivistischen Vorläufer, für seinen Auftraggeber einen rätselhaften Gegenstand, akzeptiert dafür aber 500 Jahre Küchendienst, „das war in meinen Tagen ein gehöriger Batzen Zeit“.

Warum das in der Zukunft nicht mehr so ist, wird gar nicht erklärt. Der Bericht ist an einen jüngeren Zuhörer gerichtet, für den ein langes Leben wohl als selbstverständlich gilt und der in einem der vier Großreiche, die sich nach dem Untergang der alten Welt gebildet haben, wohnt. Manchmal verschwimmt auch das Vergangene. So lautet die Zeitangabe einer anderen Erzählung: „am Vorabend eines alten, unverständlich gewordenen Festes“, ohne dass noch erahnbar wäre, was denn da an einem Oktobertag gefeiert worden sein mag.

So ungewöhnlich wie die Zeiten sind manchmal die Perspektiven. Wer da kurz vor dem Fest in Prag eintrifft, um zusammen mit einem Meister einen Vampir zu jagen, wird erst nach vielen Seiten klar. Doch vermag Klein in einer anderen Erzählung auch aus der Sicht eines Teppichs zu erzählen.

Die Anlage der Texte verlangt zumeist nach einer strengen Konstruktion. Stets gilt es das richtige Maß an Details zu verraten, damit auf der einen Seite ein diffuser Eindruck, auf der anderen eine zu frühe Auflösung vermieden wird. Ein solches Schreiben birgt die Gefahr der Erstarrung. Das Risiko wird durch zwei Faktoren verstärkt: Die erste besteht eben in der titelgebenden „Logik der Süße“, die die vorhandenen Konflikte unterläuft. Es gibt durchaus Personen mit gegensätzlichen Interessen, die quasi-dramatisch gegeneinandergeführt werden könnten. Klein verschmäht den einfachen Weg, seine Szenarien zu steigern und schließlich zu einem Schlusspunkt zu führen. Die unter pragmatischem Gesichtspunkt unverständliche Hinnahme von Jahrhunderten der Arbeit in der Titelerzählung steht beispielhaft dafür. Viele der 18 Erzählungen scheinen auf eine Entscheidung hinauszulaufen, die aber dann doch vermieden wird. Es ist schon viel, wenn ein Schriftsteller, der unter entwürdigenden Bedingungen aufzutreten gezwungen wird, statt zu lesen eine Kindheitserinnerung vorträgt und eine existenzvernichtende Strafe riskiert.

Die zweite Gefahr droht, wenn die Konstruktion durchschaubar wird. „Serial“ hat den Gegensatz zwischen einem Serienmörder und dem Ermittler, der ihn jagt, zum Stoff. Die beiden treffen sich nie, die Entscheidung ist auch hier vertagt; in einer Art von Countdown, von Neun bis Null, bereitet der eine seine neueste Tat vor und schreibt der andere seinen Bericht. Gott betrachtet und sieht den einen wie den anderen; den Mord dann betrachtet er „mit Wohlgefallen“, und in einem neuen Abschnitt Neun sieht ein Erzähler-Ich „mit göttlicher Langmut“ den Ermittler, der sich über die Fortführung der Serie freut.

Die Akribie eines Mörders, der seine „Klienten“ sucht, und der Genuss seines Verfolgers an der Methodik des Verbrechers könnten zunächst interessieren; die Linie vom Gott als Betrachter zum alles kontrollierenden Erzähler wirkt dagegen schon auf den ersten Blick als die Formspielerei, die sie tatsächlich ist. Auf den zweiten Blick erscheint der ganze Verlauf als eine so unbeirrbare wie inhaltsleere Durchführung eines Schemas, das sich selbst genug ist und Außerliterarisches nur zum Anlass einer Formidee nimmt.

Das führt zur Frage nach dem historischen Ort eines Buchs, das virtuos mit zukünftiger Geschichte spielt, geschichtsmächtiges Handeln aber gerade nicht zeigt. Tatsächlich gibt es ja Leute, die etwas tun – gegenüber anderen Leuten, die auch etwas tun. Nur ist schwer erkennbar, ob sich all diese Aktivitäten tatsächlich auf einen geschichtlichen Verlauf im Sinne eines möglichen Fortschritts beziehen. Klein weicht dieser Frage aus. Seine zukünftigen Welten sind teils solche nach einer Katastrophe (die ja in Wirklichkeit droht), teils solche nach einer imperialen Neuordnung ohne inhaltliche Qualität. Wo jedes Handeln ja doch zu nichts Besserem führt, kann man auch getrost resignieren.

„Die Logik der Süße“ ist ein Zeichen der Schwäche, die als Stärke verkauft wird. Zugegeben, es handelt sich um virtuose Erzählweisen, von einer sprachlichen Qualität, wie sie von engagierterer Literatur nur selten erreicht wird. Doch führt all der Aufwand nur zu der Forderung, das Gegebene wie das Kommende zu akzeptieren. So gleichgültig, wie Klein seinen Gott wohlgefällig ein Verbrechen beobachten lässt, blickt er selbst auf eine Welt, die er für unabänderbar erklärt. Sein Buch ist eine beachtliche Kombination von schreibtechnischem Geschick und konservativer Abwehr realer Möglichkeiten, Geschichte zu beeinflussen.

Titelbild

Georg Klein: Die Logik der Süße. Erzählungen.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010.
238 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783498035556

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