Klassische Platoniker?

Katharina Mommsen untersucht unter dem Titel „Kein Rettungsmittel als die Liebe“ „Schillers und Goethes Bündnis im Spiegel ihrer Dichtungen“

Von Ulrich KrellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Krellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis vor kurzem konnte es scheinen, als hätte der sozialkritische Blick, den die 1970er-Jahre auf die ‚Klassiklegende‘ warfen, das vormals kanonische Interesse am Bündnis von Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller nachhaltig zurückgedrängt. Doch nachdem 2009 Rüdiger Safranski die „Geschichte einer Freundschaft“ publikumswirksam nachgezeichnet hatte, legt nun auch Katharina Mommsen die Summe ihrer über ein Vierteljahrhundert entstandenen Vorträge und Aufsätze zum Bündnis der beiden Klassiker in Buchform vor. Im Unterschied zu Safranski bietet sie allerdings keine neue Sicht auf die Dichterallianz, sondern folgt – von Kürzungen und Umstellungen abgesehen – dem Wortlaut ihrer Beiträge aus den Jahren 1980 bis 2005.

An Pointiertheit lässt die Darstellung der hochbetagten Goethe-Forscherin dennoch nichts zu wünschen übrig. Ihre Analysen zum Charakter des Bündnisses laufen in der These zusammen, „daß einige Dichtungen Goethes und Schillers in hermetischer Form einen tiefen Einblick in die Freundschaft geben, daß sich in ihnen ein Dialog zwischen beiden Dichtern entspinnt, in dem Liebesbekenntnisse, Dankesgefühle, aber auch Spannungen und Differenzen zur Sprache kamen“. Untersucht wird also nicht in erster Linie der Briefwechsel, der nach landläufigem Dafürhalten die ergiebigste Quelle der Allianz bildet, weil dort die Kommunikation von Goethe und Schiller ihren unmittelbarsten Ausdruck fand. Gegenstand sind vielmehr die während der 10-Jährigen Zusammenarbeit entstandenen Werke, die nach Ansicht Mommsens „in getarnter Form“ auf die „erotischen Spannungen“ zwischen beiden Schriftstellern schließen ließen. Ihrer Einschätzung zufolge wollten Goethe und Schiller allerdings den „Schein einer homoerotischen Zuneigung vermeiden“ und suchten deshalb Zuflucht bei einer Strategie der poetischen Tarnung, die geeignet war, ihr „Geheimnis […] vor Profanisierung zu schützen“.

Man mag dieser zugespitzten Zentralthese zustimmen oder nicht: Hervorgehoben zu werden verdient zunächst, dass der Leser von einer enorm kenntnisreichen, weit ausgreifenden Darstellung profitiert, die souverän noch die entlegensten Dichtungen zu verknüpfen weiß und in dieser Konzentration wohl erst nach einem langen Forscherleben möglich wird. Ein unbestreitbares Verdienst der Arbeit besteht auch darin, das Augenmerk auf viele eher unbekannte Texte – vor allem Gedichte – der ‚Klassiker‘ gelenkt zu haben, die von ihrer „zwischen Liebe und Freundschaft gleichverteilten persönlichen Zuneigung“ Zeugnis geben. Am meisten überzeugt die Interpretation an den Stellen, an denen Mommsen klar umreißbare Sachverhalte zum Gegenstand einer einlässlichen Analyse macht. Sehr schlüssig wirkt beispielsweise die Deutung des Buchschmucks der Schiller’schen „Musen-Almanache“ für die Jahre 1798 und 1799, die zwei ineinander verschlungene Lorbeerkränze beziehungsweise zwei auf den Musengott Apoll deutende Leiern zeigen. Mommsen erkennt darin die äußere Bebilderung eines Programms, dessen dichterische Ausgestaltung zeigt, „wie […] zwei einander ebenbürtige Dichter ihre Schaffenskräfte freundschaftlich verbunden hatten“.

Allerdings stehen diesen genau argumentierenden Passagen Kapitel gegenüber, in denen die hoch gespannte Symbolsprache der klassischen Dichtungen Goethes und Schillers als Vehikel einer an den Bündnispartner adressierten „Erlebnisdichtung“ erscheint, womit deren komplexe Metaphorik auf doch recht simple Weise aufgeschlüsselt wird. Ob beispielsweise Goethes Idylle „Alexis und Dora“ „autobiographische Bekenntnisse“ zum Gegenstand hat, ist in der (von der Verfasserin unberücksichtigten) neueren Forschung zumindest umstritten. Wer im Briefwechsel selbst nachliest, wie Schiller und Goethe das Gedicht objektiv-analytisch auf seine Bestandteile und deren Wirkung hin diskutieren, wird sich nur schwer davon überzeugen lassen, dass es jenseits aller explizit erörterten Fragen (zum Beispiel zur Funktion des von Schiller beanstandeten Eifersuchtsmotivs) als Goethes „Liebesgedicht an Schiller“ konzipiert und als solches von Schiller auch aufgefasst worden ist.

Weiterhin fällt auf, dass die Verfasserin an vielen Stellen um der suggestiven Thesenbildung willen recht großzügig mit den Texten verfährt. Das zeigt sich nirgends deutlicher als am titelgebenden Zitat. „Kein Rettungsmittel als die Liebe“ – so lautet die Formulierung, die Goethe aufgreift und (unter anderem) die Ottilie der „Wahlverwandtschaften“ im Tagebuch festhalten lässt. Ursprünglich geht diese Sentenz auf Schiller zurück, der Goethe in einem Brief wissen ließ, dass es „dem Vortrefflichen gegenüber keine Freiheit gibt als die Liebe“. Ein Vergleich beider Stellen hätte zeigen können, dass Goethe die Schiller’sche Ausgangsformulierung auf bezeichnende Weise modifiziert; bilden doch die „großen Vorzüge eines Anderen“, von denen Goethe schreibt, einen bemerkenswerten Kontrast zum objektiv „Vortrefflichen“, das Schiller in seinem Brief preist. Auch die zum „Rettungsmittel“ umdefinierte „Freiheit“ wäre einer genaueren Analyse wert gewesen. Doch darum ging es offenbar nicht, wird doch das Zitat lediglich im Kontext der Äußerungen Schillers zu „Alexis und Dora“ erörtert, nicht aber im Zusammenhang der ausführlichen Beschäftigung mit den „Lehrjahren“, die den tatsächlichen Bezugspunkt Schillers abgeben. Ob in einem anderen Fall Goethes Verweis auf „unsre Winckelmanniana“, so die Überschrift von Kapitel VI, tatsächlich ein gemeinsames Projekt mit Schiller meint – oder nicht viel mehr eines mit Johann Heinrich Meyer –, wäre gleichfalls einer nochmaligen Überprüfung wert.

Neben diesen philologischen Quisquilien, die allerdings beileibe keine Nebensache sind, stößt der Leser immer wieder auf Werturteile, die stutzen lassen. Nicht alle werden beispielsweise die Einschätzung der Gründe teilen, weshalb „Herrmann und Dorothea“, Goethes Epos von Bürgertugend, Familie und Privatbesitz, das noch dem 19. Jahrhundert als ‚Substanz des deutschen Geistes‘ (Hermann Hettner) erschienen war, heute nahezu spurlos aus dem Lesekanon und öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist: „Die damaligen Leser bekundeten […] ein ästhetisches Empfinden und intellektuelles Fassungsvermögen, wie es späteren Generationen leider wieder abhanden gekommen ist.“

Zu dieser Skepsis gegenüber der modernen Zeit und Goethe-Rezeption passt, dass wiederholt die biografische Deutung der „früheren Goethe- und Schillerforscher“ herausgestrichen wird, die beispielsweise ein Distichon Goethes mit der Überschrift „C.G.“ umstandslos auf Goethes spätere Frau Christiane münzten. Die Zurückhaltung der neueren Editionen in der Schiller Nationalausgabe, sowie der Frankfurter und Münchner Goethe-Ausgaben gegenüber solchen biografischen Kurzschlüssen erscheint Mommsen „nicht stichhaltig“. In Urteilen wie diesem deutet sich eine Akzentverschiebung an, die viele der in den letzten Jahren gewonnenen Differenzierungen wieder zu relativieren versucht.

Diskussionswürdig scheint auch, ob die Deutung des Bündnisses in den moralischen Kategorien „Rücksicht“, „Opferbereitschaft“ und „Verzicht“ das Verhältnis von Goethe und Schiller tatsächlich zutreffend beschreibt. Die Idee vom Verlauf der 10-Jährigen Allianz, die der vorliegenden Darstellung zugrunde liegt, ließe sich folgendermaßen zusammenfassen: Als Goethe 1794 seine Vorbehalte gegen Schiller ablegt und sich zur Mitarbeit an dessen Zeitschrift „Die Horen“ bereit erklärt, kommt es nicht nur zum „Liebesbündnis“, sondern auch zu „Schillers Rekonvaleszenz als Dichter“. Goethes „ganzes Streben“ war damals allerdings „darauf gerichtet, nach Italien zurückzukehren und sich in Rom niederzulassen.“ Als er im Sommer 1797 „die endgültige Auswanderung ins Auge faßte“, stellt sich heraus, dass Schiller „auch weiterhin ständig der Lenkung und Anregung durch Goethe […] bedurfte“. Kurz vor der Überschreitung der Alpen wird Goethe dann seine „Pflicht und Verantwortung gegenüber Schiller bewußt“. Er entschließt sich „zu dem Opfer, das zu bringen er sich lange gesträubt hatte: dem Schaffen des Freundes zuliebe auf die Förderung des eigenen Schaffens zu verzichten“. Einen lyrischen Reflex dieser Entscheidung erkennt Mommsen in Goethes Gedicht „Amyntas“, in dem „der arme Efeu und der reiche, schenkende Apfelbaum“ eine Symbiose eingehen. In der Folgezeit habe sich „der gebefreudige Goethe“ darauf konzentriert, Schillers Arbeit zu unterstützen; beispielsweise indem er ihm den Stoff zum Drama „Wilhelm Tell“ schenkt, der „eine gemeinsame Leistung war, die ohne Goethes entscheidende Mitwirkung nie das Licht der Welt erblickt hätte“.

Es ist hier nicht der Raum, die Stichhaltigkeit dieser Thesen im einzelnen zu überprüfen. Was jedoch auffällt, ist die vorherrschende Tendenz, das Bündnis von Goethe und Schiller aus der Perspektive der Äußerungen des überlebenden Goethe zu betrachten; eine Sichtweise, die zwar durch viele der „früheren Goethe- und Schillerforscher“ vorgeprägt, der Sache nach aber keineswegs unproblematisch ist. Zur Verteidigung der – von allen modernen Goethe-Biografien nicht gestützten – Rückkehrthese führt die Verfasserin an: „Daß die Rücksicht auf Schiller ihn zum Verzicht auf Italien veranlaßte, ist durch eine späte Goethesche Äußerung mit Sicherheit bezeugt.“ Ob freilich Goethes „authentische Feststellung von 1829“ überhaupt geeignet ist, die Frage nach den Beweggründen für seine Entscheidung 32 Jahre zuvor abschließend zu klären, scheint Mommsen völlig unstrittig. Das für viele neuere Interpreten schwierige Verhältnis von Goethes tatsächlichen Motiven und seiner deutenden Rückschau Jahrzehnte später wird hier als Problem gar nicht gesehen.

Ein weiterer Effekt der einseitigen Zentrierung der vorliegenden Analyse besteht darin, dass sie die Initiativkraft innerhalb des Bündnisses in zentralen Punkten bei Goethe ansiedelt, was zugespitzt in der Feststellung resümiert wird, der Bund „hatte zur Voraussetzung, daß Goethe den Freund und sein Schaffen fortwährend fürsorglich betreute“. Die Dichterbeziehung wird somit weniger als wechselseitige Stimulanz, sondern eine Art Pflegeverhältnis interpretiert, bei dem Goethe es „als seine Aufgabe [ansah], des Freundes erlöschende Dichtergabe am Leben zu erhalten“ und sich selbst mit der Übernahme „einer zweitrangigen Rolle im Dienste Schillers“ begnügte. Ob diese Einschätzung das Goethe’sche Selbstverständnis tatsächlich zutreffend erfasst, scheint bei genauer Prüfung aller Details allerdings genausowenig sicher wie Schillers Klassifizierung als ein Dichter, dessen Werk ohne den Goethe’schen Zuspruch „nie das Licht der Welt erblickt hätte“. Nicht zuletzt war er es doch, dessen energischer Vorstoß das Bündnis 1794 überhaupt erst möglich gemacht hatte.

Mommsens Darstellung, so scheint es jedenfalls dem Rezensenten, ist einerseits geprägt durch eine tiefe Sympathie, mit der sie dem Dichterbündnis von Goethe und Schiller gegenübertritt. Dass sie diese Allianz auf einer breiten, die Werke einbindenden Textgrundlage rekonstruiert, ohne sie als „Legende“ zu denunzieren, wie es im sozialkritischen Eifer der 1970er-Jahre geschah, ist ein wichtiges Verdienst. Andererseits hat die Verfasserin ihre ausgebreiteten Kenntnisse aber letztlich mobilisiert, um einer überpointierten These Geltung zu verschaffen, die ihrerseits legendenhafte Züge trägt, wenn sie auch – betrachtet man die positiven Rezensionen des Buches vom „Neuen Deutschland“ bis zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – in breiten Kreisen zustimmungsfähig zu sein scheint. Leser jedoch, die sich nicht von exaltierten Thesen überrumpeln lassen, wohl aber an die bekannte Maxime Peter Szondis entsinnen, dass es keine Überinterpretation gibt, die nicht auch schon falsch wäre, dürften auf die einseitigen Zuspitzungen, biografischen Ableitungen und interpretatorischen Vereindeutigungen hochsymbolischer Dichtung, welche die Darstellung über weite Strecken prägen, zurückhaltend reagieren.

Das Nachwort von Ute Maack betont, dass „Vielstimmigkeit, perspektivische Unbestimmtheit, instabile Grenzen, wuchernde Kontexte“ Kennzeichen der von Mommsen behandelten Literatur Goethes und Schillers seien. Dem kann man nur nachdrücklich zustimmen. Dieser dezidiert modernen Sicht auf die ‚Klassiker‘ setzt allerdings die vorliegende Arbeit nicht selten eine Deutung entgegen, welche die Vielstimmigkeit der klassischen Dichtung von Goethe und Schiller auf ein geheimes Zwiegespräch reduziert, um der Zentralthese vom ‚Liebesbündnis‘ Evidenz zu verschaffen. Die kontextuelle Offenheit und perspektivische Unbestimmtheit vieler der behandelten klassischen Werke erscheint dadurch in einem merkwürdig bestimmten Licht.

Mommsen hat – nicht zuletzt als Herausgeberin des Großunternehmens „Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten“ – in der Goethe-Forschung zweifellos vielfältigste Verdienste erworben. Der Versuch allerdings, die komplexe Beziehung von Goethe und Schiller auf ein in der Antike vorgeprägtes Muster platonischer Liebe zurückzuführen, belegt letztlich eine – dem allgemeinen kulturwissenschaftlichen Trend der Germanistik merkwürdig zuwiderlaufende – Schwierigkeit, das Verhältnis der bedeutendsten Autoren deutscher Literatur in einem Bedingungsgefüge zu analysieren, das biografische, poetische, aber auch soziologische, historische und kulturelle Aspekte zu integrieren vermag.

Titelbild

Katharina Mommsen: Kein Rettungsmittel als die Liebe. Schillers und Goethes Bündnis im Spiegel ihrer Dichtungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
379 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835307612

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