Ein nostalgischer Blick auf vergangene Zeiten

Geißlers Hohelied auf die Langsamkeit ist zu langatmig geraten

Von Christiane HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christiane Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich eine schöne Idee, so ein Buch zu schreiben. Auch das verträumte Umschlagbild mit dem Schattenriss eines Anglerboots auf still-dämmrige See vor blassblauem Himmel verheißt Gutes. Das alles lädt dazu ein, dem Titel zu folgen, zu verweilen und auf die Suche nach "Lebensformen gegen die Hast" zu gehen.

Es fängt auch gut an. Der Autor, seines Zeichens Universitätsprofessor in München, hat schon viele Beiträge zu unserem Umgang mit der Zeit veröffentlicht. Hat er nicht Recht, wenn er uns das "Identitätsmuster" unserer Zeit "Ich eile, also bin ich" entgegenhält? Wenn er die Computermaus als unser "schnellste(s) Haustier" bezeichnet? Wenn er Marx zitiert, der den Menschen im Kapitalismus auf "die Verkörperung der Zeit" reduziert sieht? In einem Plädoyer für die Langsamkeit rückt er uns ins Bewusstsein, dass man auf einer Autobahn nicht leben, sondern nur alles aus sich und seinem Fahrzeug herausholen kann. Eine flammende Rede gegen das in unserer Leistungsgesellschaft zur "Erhöhung des Güterwohlstandes" hoch im Kurs stehende Zeitmanagement überzeugt uns davon, dass wir mit solcher Lebensweise letztlich unseren Zeitnotstand verschärfen. Das alles und einiges mehr führt uns vielleicht dazu, hin und wieder innezuhalten in der allzu vertrauten Alltagshektik. Dann mag es uns auffallen, dass wir schon lange und mittlerweile vollkommen unbewusst Gefangene unserer straff organisierten Zeitzwänge sind. Schon sind wir so weit, eine unverhofft freie Zeitlücke nicht mehr genießen zu können, sondern sie nur noch als verloren, da ungenutzt, auf der Minusseite unseres persönlichen Zeitkontos zu verbuchen.

Doch wirklich neu ist das meiste eigentlich nicht. Schon viele kluge Köpfe haben über diese Problematik philosophiert. Geißler fügt nun noch 266 Seiten an. Dabei kommt er auf einen weiteren bereits bekannten Gedanken zu sprechen: dass wir uns mit der Vorstellung, wir könnten Zeit "sparen", in einem Irrglauben befinden. Ja, mehr noch: dass wir uns tatsächlich bereits davor fürchten, einmal unvermutet Zeit zu haben. Zu der Frage, "was wir mit dem, was wir 'Zeit' nennen, machen", sagt er: Wir "füllen (damit) die Leere, vor der uns graut". Zutreffend formuliert er, die Zeit sei "ein von Menschen geschaffenes Netz, in dem man Spinne und Fliege zugleich ist". Sein Anliegen ist ihm offenbar nicht nur wichtig, sondern auch außerordentlich ernst. Zu ernst, denn der immer wieder erkennbare erhobene Zeigefinger konterkariert die gute Absicht. Was soll man davon halten, wenn er den Schulunterricht als "Treibjagd" definiert und in diesem Zusammenhang rundheraus konstatiert, die Pause werde zum "Feindbild" und der Lehrer in ihr zum "Polizisten"? Mit solcherlei Übertreibungen macht er sich eher unglaubwürdig. Vielleicht hätte er bei Michael Ende genauer nachlesen sollen, der in "Momo" für Jung und Alt spannend, unterhaltsam und eindringlich unseren verqueren Umgang mit der Zeit verdeutlicht. Lediglich in den Beiträgen "Wecker" und "Der gute blaue Montag" wird Geißler heiter-ironisch, um nicht zu sagen, satirisch. Er kann es also. Das kommt dem Buch zugute - leider aber zu selten.

Am Ende des ersten Kapitels äußert der Autor, er wolle die Vergangenheit nicht idealisieren. Doch ein erheblicher Teil seiner Beiträge läuft genau darauf hinaus. Schade. So Recht er auch oft hat, es gerät ihm doch vieles zur resigniert-sehnsüchtigen Rückschau und zum Klagelied auf die Moderne. Genau das ist der Punkt, an dem man das Buch seufzend beiseite legt. Schließlich müssen wir im Hier und Jetzt leben, womöglich wollen wir es sogar. Was aber will das Buch? Will es Denkanstöße geben, ein Ratgeber sein? Dafür ist es zu weitschweifend. Die Zeit vergessen kann man damit jedenfalls nicht, weil es eher ermüdend ist, länger darin zu lesen: Die zu Beginn vorgestellten Hypothesen und Erkenntnisse werden im weiteren Verlauf immer wieder intensiviert, variiert, wiederholt und ausgewalzt. Das Ergebnis: Das Buch ist entschieden zu dick geworden. Weniger Text wäre hier mehr gewesen!

Den durch mögliche Kürzungen eingesparten Platz hätte man unbedingt nutzen sollen, um dem Fotozyklus von Karl Weibl gerecht zu werden. Gerade mal knapp siebzig Quadratzentimeter hat man den wahrscheinlich sehr schönen Schwarz-Weiß-Bildern jeweils zugestanden. So kann man bestenfalls ahnen, wie gut sie sind. Dabei hätten gerade sie die Intention des Buches so gut unterstreichen können.

Gut platziert und ausgewählt dagegen sind manche der kleinen Sprüche, Zitate und Gedichte, die meist zu Beginn und Ende der Kapitel zu finden sind. Sie zeigen, wie wenig Worte oft notwendig sind, um etwas verständlich zu machen. Karl Valentin etwa wird zitiert: "Herr Valentin, können Sie mir vielleicht sagen, wieviel Uhr es ist?" - "Hörens doch auf mit der ewigen Fragerei. Sie haben mich doch die vorige Woch' scho amal g'fragt."

Na also, da wissen wir doch wenigstens Bescheid. So etwas zu lesen, ist uns unsere Zeit nicht zu schade. Und mit der möchten wir doch eigentlich sorgsamer umgehen.

Titelbild

Karlheinz A. Geißler: Zeit - verweile doch.
Herder Verlag, Freiburg 2000.
265 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3451048752

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