Das Gesicht des Krieges

In Andrej Gelassimows Roman „Durst“ findet ein Kriegsversehrter allmählich ins Leben zurück

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tschetschenien ist in Russland nach wie vor ein sensibles Thema. Viele Russinnen und Russen wollen von den beiden Tschetschenienkriegen (1994-96 und 1999-2009) lieber nichts hören, und auch die Presse tut sich mit der Berichterstattung über die angespannte Lage im Nordkaukasus schwer. Die Literatur hingegen hat sich dem Thema in den letzten Jahren gestellt. Das muss nicht unbedingt überraschen: Seitdem sich das Zarenreich den Kaukasus ab dem Ende des 18. Jahrhunderts nach und nach einverleibt hat, haben immer wieder bedeutende russische Schriftsteller diese Region in ihrem Werk besungen. Die Darstellung des Kaukasus schwankte dabei zwischen Neugier und Faszination auf der einen sowie Schrecken und Abscheu auf der anderen Seite. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion dominieren allerdings die pessimistischen Töne: Krieg, Zerstörung, das komplizierte und belastete Verhältnis zwischen Russland und seiner südlichen Peripherie prägen das Kaukasusbild in der russischen Literatur der jüngsten Zeit.

Im Ausland, auch im deutschsprachigen Raum, scheint der russische Blick auf den Kaukasus aber dennoch fast stärker beachtet zu werden als in Russland selbst. Anna Politkowskajas mutige und kompromisslose Reportagen oder Arkadi Babtschenkos Berichte aus der Perspektive eines Soldaten, der am Krieg teilgenommen hat, trafen bei uns ebenso auf das Interesse von Verlagen und Leserschaft wie etwa Wladimir Makanin, der in seiner Erzählung „Der kaukasische Gefangene“ ein altes Motiv der russischen Kaukasusliteratur wieder aufgenommen und in die 1990er-Jahre transponiert hat.

Andrej Gelassimow hat mit „Durst“ nun einen Text vorgelegt, der den Tschetschenienkrieg vom Kaukasus löst und ihn mitten in die russische Gesellschaft hineinträgt. Freilich geschieht dies nur indirekt, denn Gelassimow geht den Folgen nach, die der Krieg für die beteiligten Soldaten mit sich bringt. Der Ich-Erzähler Kostja hat im Ersten Tschetschenienkrieg gedient. Einen Raketenangriff auf seinen Panzer hat er zwar knapp überlebt, doch seitdem ist sein Gesicht furchtbar entstellt. Kostja ist in seine mittelrussische Heimat zurückgekehrt und versucht, ein Leben nach dem Krieg zu führen. Er hat eine Arbeit gefunden, bei der ihn möglichst wenig Menschen sehen: Im Alleingang renoviert er Wohnungen. Das läuft recht gut, doch als wir Kostja zu Beginn der Erzählung kennen lernen, hadert er gleichwohl mit seinem Schicksal. Regelmäßig verbarrikadiert er sich in seiner Wohnung und versinkt im Alkohol. Nur seine Nachbarin Olga klopft hin und wieder bei ihm an. Wenn ihr kleiner Sohn nicht schlafen will, ist sie froh um Kostjas Dienste. Ein kurzer Besuch im Zimmer des Jungen genügt: Dem „Monster“ Kostja widerspricht der Kleine nicht.

Auch wenn er die Menschen meidet, hält Kostja Russland gleichwohl einen Spiegel vor. Wer ihn sieht, muss Stellung beziehen: Entweder hält man Kostjas Gesicht aus, oder man wendet sich ab. Das Gesicht zieht sich denn auch wie ein Leitmotiv durch den Text. Doch Kostja trägt noch andere, ältere Verletzungen mit sich, die aus seiner Kindheit stammen. Seine Beziehung zum Vater, den er lange nicht mehr gesehen hat, ist kompliziert. In Rückblenden wird daher nicht nur berichtet, wie Kostjas Panzer in Tschetschenien zerbombt wurde. Wir erfahren auch, dass sein Vater sich schon früh anderen Frauen zugewendet und die eigene junge Familie im Stich gelassen hat. Die Mutter wiederum lebt heute mit einem Mann zusammen, zu dem Kostja den Zugang nicht hat finden können.

Bald aber gibt es erste leise Anzeichen dafür, dass es Kostja gelingen könnte, im Leben wieder Fuß zu fassen. Eine wichtige Rolle spielen dabei seine Kameraden aus dem Krieg, besonders aber sein Zeichentalent. Kostja erzählt, wie ein Schuldirektor schon früh auf seine Zeichnungen aufmerksam geworden ist und versucht hat, Kostja zu fördern. Doch erst jetzt, nach dem Krieg, entfaltet Kostja allmählich seine Begabung. Er beginnt wieder zu zeichnen und verarbeitet dabei seine Biografie. Mit dem Bleistift versucht er, sich und seinen versehrten Kumpels zeichnend ein Leben anzudichten, wie sie es auch hätten führen können – in einer besseren Version. Seine Kameraden von der Panzerbesatzung sind die einzigen, mit denen Kostja sich hier und da trifft. Als einer von ihnen verschwindet, machen sie sich gemeinsam auf die Suche nach ihm. Hier wird – bei allen Unstimmigkeiten zwischen den früheren Soldaten – auch eine Art Gemeinschaftsgefühl aufgebaut. Doch wird dabei zugleich deutlich, dass die Kriegsveteranen in der russischen Gesellschaft auf sich selbst gestellt sind.

Gelassimows Text ist im Jahr 2002 im Original zum ersten Mal erschienen. Der Autor hat sein Werk eine „Povest’“ genannt. In der russischen Literatur wird damit ein Prosatext bezeichnet, der vom Umfang her zwischen einer Erzählung und einem Roman angesiedelt ist. „Durst“ ist kein sehr langer Text, aber aufgrund der verschiedenen Zeitebenen wirkt er überaus dicht. Die zahlreichen Dialoge sowie die bisweilen hektische Suche nach dem Kameraden Sergej verstärken diesen Eindruck und verleihen dem Text einen beträchtlichen Drive. Wenn sich die russische Literatur heute gesellschaftlichen Fragen annimmt, dominieren oft genug die dunklen Seiten. Dass Gelassimow es nicht dabei belässt, sondern bestrebt ist, auch mögliche – und seien es noch so vage – Auswege anzudeuten, ist ihm daher zugute zu halten. Die Kritik an der desinteressierten russischen Öffentlichkeit und am Krieg selbst wird dadurch nicht gemindert. Vielleicht schält sich der Kontrast nur noch deutlicher heraus: Hier in der Literatur die leise Hoffnung, die Kostja und seine Kameraden allerdings selber behutsam nähren müssen, dort im wirklichen Leben Gleichgültigkeit und Abstumpfung.

Und wofür steht der „Durst“? Zu Beginn der Erzählung ist Kostja gerade dabei, einen größeren Wodkavorrat in seinem Kühlschrank zu verstauen. Doch Gelassimow hat beleibe keinen Säuferroman geschrieben. Der Durst ist eine Metapher, die am ehesten als das Verlangen nach einer Bestimmung, nach einem tieferen Sinn verstanden werden kann. Kostja selbst würde vielleicht sagen: Es ist der Durst nach einem ganz normalen Leben. Wenn Kostja zeichnend sein früheres Gesicht rekonstruiert, so bricht sich dieser Durst Bahn. Ergreifend ist jener Moment, als der Nachbarjunge unter der Bettdecke hervorguckt und kichert, weil er seine Angst vor Kostja überwunden hat: „Ich weiß Bescheid. Dass du nicht zum Fürchten bist. Es ist bloß dein Gesicht.“

Titelbild

Andrej Gelassimow: Durst.
Übersetzt aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
112 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126240

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