Schamabwehr und Judenhass

Eine psychohistorische Hitler-Studie auf schmaler Ausgangsbasis

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Strom der Hitlerdeutungen reißt nicht ab. Parallel zu den solide historischen wie "Hitlers Wien" von Brigitte Hamann (1996)und Ian Kershaws maßgeblicher Gesamtbiographie (1998 - 2000), kommen eher spekulative kultur- und psychohistorische Studien auf den Markt. So zuletzt Joachim Köhler über "Wagners Hitler" (1997) und Manfred Koch-Hillebrecht zu "Homo Hitler". Nun also "Hitler - Karriere eines Wahns", verfaßt von drei Autoren aus drei Generationen und drei Fächern: Psychiatrie, Kulturwissenschaft und Soziologie.

Unter Anleitung des Psychiaters wird die These entwickelt, daß Hitler mit einer höchst eigenartigen Version von Schizophrenie die Deutschen mit sich gerissen habe. Gilt nach der klassischen Diagnose als schizophren, wer zunehmend realitätsuntüchtig zum Autismus neigt, unter Halluzinationen (meist Stimmen) und Größenwahn leidet und eben deshalb meist von der Umgebung abgelehnt wird, so sehen sich die Autoren im Falle Hitlers genötigt, ein neues Krankheitsbild zu schaffen, Schizophrenie neu zu definieren. Weder Hitlers ausgeprägter Realitätssinn noch die fehlenden Halluzinationen schlagen zu Buche; was bleibt, ist der auffällige Autismus (Hitlers Monologik) und der Größenwahn in Gestalt einer distanzlosen Identifikation mit der deutschen Nation, die zu Höchstem berufen sei. Mit dem daher stammenden Fanatismus bindet Hitler die Nation an sich. Inneres und äußeres Selbst verschmelzen zu einer stahlharten Legierung; jegliche Scham wird abgewehrt. Besonders die Schamabwehr machen die Autoren haftbar für den Judenhass nach 1919, mit dem Hitler die Deutschen überzeugt habe. Statt sich zu schämen - also gleichsam mit dem inneren Selbst zu erröten - wird der angebliche Verursacher der Scham mit Hass belegt und verfolgt und schließlich ermordet. In diesem Projekt waren sich das deutsche Volk und Hitler offenbar einig.

Bei aller Differenzierung, die sich die Autoren auferlegen, wenn sie teils individualpsychologisch, teils kulturhistorisch, teils aber auch massenpsychologisch argumentieren: die Verwandtschaft einer solchen monokausalen Betrachtung mit Goldhagens Argument drängt sich auf. Die Historiker gehen aber heute in der Mehrzahl davon aus, daß eine unglaubliche Verkettung von Zufällen zu diesem entsetzlichen Ergebnis geführt habe. Bis 1933 hatte Hitler bekanntlich eine relativ kleine, wenn auch eingeschworene Anhängerschaft. Nicht zuletzt die Weltwirtschaftskrise ließ den Wahnsinn einer nationalen Erlösung - auf Kosten von Juden und "Untermenschen" vor allem des Ostens - plötzlich als denkbares Heilsversprechen erscheinen. Hitler erhielt Zulauf von Deutschnationalen, von Liberalen und Kommunisten, er wurde gewählt und mit Macht betraut von Leuten, die ihn zuvor gehasst und verachtet hatten. Diese historische Konstellation, in der sich ab 1933 der staatliche Terror entfaltete, dazu die seit 1918 völlig eingewurzelte "Schamabwehr" nahezu aller Deutschen angesichts der kränkenden Niederlage, waren offenkundig hinreichende Bedingungen für die "Karriere eines Wahns".

Waren sie wirklich hinreichend? Sind weitere psychiatrische Studien vonnöten? Für die vorliegende psychohistorische Forschung hätte man sich jedenfalls eine breitere Diskussion der Filiationen gewünscht, durch die eine private Pathologie so in die Breite hat wirken können. So aber entsteht streckenweise der Eindruck, daß der spezifische Schizophrenie-Charakter auf unheimliche Weise eher zu uns als zu Hitlers Zeit gehört. Denn ist nicht die Preisgabe des "privaten Selbst", sind nicht die psychotopen Identifizierungen mit öffentlichen Figuren auf intimster Ebene recht eigentlich Leiden und Laster unserer Medienzeit heute? Wenn ja, stünde das Buch im Gefolge von Carl Amerys bitterer Diagnose "Hitler als Vorläufer" und gäbe als solches allerdings viel zu denken.

Titelbild

Paul Matussek / Peter Matussek: Hitler, Karriere eines Wahns.
Herbig Verlag, München 2000.
303 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3776621842

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