Schöne Shoah-Geschichten

Zur Kritik von Holocaust-Repräsentationen im Film, im Fernsehen und in der Gegenwartsliteratur

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1. Kate Winslets tröstende Tränen

Deutschland ist und bleibt Exportweltmeister – zumindest mit Hilfe von Büchern und Verfilmungen deutscher Schicksale, die das Bild des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der Shoah global modifizieren. Seit den 1990er-Jahren wurde in diesen Darstellungen immer drängender betont, dass auch die Deutschen zu „Opfern“ des von ihnen selbst geplanten und durchgeführten Vernichtungskriegs und des Judenmords geworden seien. Durch die in der Regel dekontextualisiert aufgerufene Geschichte der Vertreibungen Deutscher aus den Ostgebieten, der Vergewaltigungen deutscher Frauen durch die Soldaten der Roten Armee oder auch des alliierten Bombenkriegs gegen die NS-Zivilbevölkerung schuf man emotionalisierende Erzählungen eines nationalen Leids, dessen historische Kausalität ausgeblendet wurde. Um dazu ein polemisches Bild von Hermann L. Gremliza zu paraphrasieren, das die tendenzielle Unverhältnismäßigkeit dieser Klagen radikal zuspitzt: Nach dem ‚Mauerfall‘ betonte man vor der Jahrtausendwende in Deutschland ganz einfach immer lauter und unverblümter, dass es doch auch sehr weh getan habe, als sich Großvater ‚damals‘ beim Schließen der Gaskammertür einmal den Finger einklemmte.

Doch damit nicht genug. Die unangemessenen Vergleiche und Aufrechnungen deutschen Leids mit deutscher Schuld, welche mit einer nachvollziehbaren Logik von Ursache und Wirkung beziehungsweise mit historischer Korrektheit nichts zu tun haben, gereichen mittlerweile sogar dazu, die Tatsache der Ermordung von sechs Millionen Juden hinter den vielen unbestreitbaren Problemen, die für die Deutschen am Ende daraus folgten, mehr und mehr verschwinden zu lassen. Die deutsche Literatur- und Filmkritik aber tat sich bezeichnenderweise schwer damit, solche ästhetischen ‚Schlussstrich‘-Suggestionen in Frage zu stellen. Es mussten stattdessen immer erst Kritiker aus dem Ausland kommen, und zwar meist aus den USA, um solche Strategien beim Namen zu nennen. Und es mussten vor allem jüdische Publizisten auf ihre Perspektive der Sachlage aufmerksam machen, bevor man hierzulande mit großem Erstaunen entdeckte, dass man gewisse Dinge, die die Shoah betreffen, auch heute immer noch ganz anders sehen könne, als man es in Deutschland längst für ausgemacht hielt.

Einer dieser verdienstvollen Kommentatoren heißt William Collins Donahue. Er gehört zu den wenigen mutigen Literaturwissenschaftlern, die den deutschen Exportschlager schlechthin, Bernhard Schlinks internationalen Bestseller mit dem unscheinbaren Titel „Der Vorleser“ (1995), auf Anhieb zu kritisieren wagten. Nun aber hat Donahue noch einmal eine ganze Monografie nachgelegt, die seine skeptischen Analysen von Schlinks gesamten „NS-Romanen“ und ihrer Verfilmungen bündelt, sie weiter vorantreibt und insbesondere aus der Perspektive der spezifischen US-Rezeption des „Vorlesers“ aktuell einordnet.

Das im Bielefelder Aisthesis Verlag erschienene Buch, welches wohl kaum viele Leser erwarten darf und von der hiesigen Germanistik wahrscheinlich ignoriert werden wird, trägt den polemischen Titel „Holocaust Lite“. Sein Cover ziert eine treffende Nahaufnahme, die uns auf Anhieb vergegenwärtigt, mit welcher offensichtlich unbesiegbaren Übermacht an melodramatischer Emotionalisierungskraft es die Zuschauer speziell im Fall von Stephen Daldrys Schlink-Verfilmung „The Reader“ (2008) zu tun haben. Das Foto zeigt die hemmungslos heulende Schauspielerin Kate Winslet – jene für diese steinerweichende Mimerei auch noch mit einem Oscar prämierte Schauspielerin, die man bereits aus dem Über-Melodram „Titanic“ von James Cameron (1997) in der ganzen Welt kannte und welche in Daldrys Film die NS-Täterin Hanna Schmitz als erotische Badewannen-Nixe par excellence spielt.

Es handelt sich schon in Schlinks Roman um eine Figur, die aufgrund ihrer ‚mangelnden Bildung’ und beruflichen Chancenlosigkeit bereitwillig in die SS eintritt und schließlich in Auschwitz ihren ‚Dienst‘ tut. Schlinks Erzähler stellt es so dar, als sei Hanna in diesen ‚Beruf’ gewissermaßen ‚hineingeschlittert‘ – ein ‚Engagement‘, das übrigens in dieser Formation historisch überhaupt nicht möglich gewesen wäre, denn Frauen in der SS gab es nicht, und erst Recht wohl kaum solche, die auch noch einen Vornamen hebräischen Ursprungs trugen. Schon allein diese plumpe nominelle Vertauschung der Sphären von jüdischen Opfern und NS-Tätern im Holocaust, für die Hannas Vorname steht, sollte deutlich machen, mit welchen Holzhammer-Methoden Schlinks ‚subtile‘ Leser-Überzeugung tatsächlich funktioniert.

Hanna wird im Roman als KZ-Täterin zusammen mit anderen schuldig an den Qualen der jüdischen Opfer eines Todesmarsches in den letzten Kriegstagen vor dem Mai 1945 – auch wenn die Fliegerbombe, die eine Kirche in Brand setzt, in der Hanna und ihre ‚Kolleginnen‘ ihre Gefangenen eingesperrt haben und nach dem Angriff bei lebendigem Leibe verbrennen lassen, ‚zufällig‘ von den Alliierten abgeworfen wird: Wirklich Schuld an allem hat also auch hier bei näherer Betrachtung nur der angloamerikanische ‚Bomben-Holocaust‘.

Sowohl im Roman als auch seiner Verfilmung legt die Darstellung dieses Falles nahe, Hanna als arme, bemitleidenswerte Analphabetin anzuerkennen, die sich aus Scham wegen ihres Handicaps vor Gericht gar nicht richtig verteidigen könne und wolle. Das zentrale Beweisdokument, ein manipulierter Bericht der Ereignisse, den Hanna überhaupt nicht selbst hätte verfassen können, wird ihr zur Last gelegt. Der Leser oder Zuschauer aber möchte hier gewissermaßen vor lauter innerer Erregung über soviel himmelschreiende Ungerechtigkeit aufspringen und der Angeklagten im Gerichtssaal laut zurufen: „Nun sag es Ihnen doch endlich, Hanna, dass Du es in Wahrheit gar nicht gewesen sein kannst!“

Doch die stellvertretend für ‚uns alle‘ angeklagte Protagonistin nimmt stattdessen wie eine weibliche ‚Jesusfigur‘ selbstlos alle Schuld ihrer Mittäterinnen auf sich – und entlastet damit in der Suggestion des Romans auch alle Nachgeborenen der ‚NS-Generation‘, also seine Leser, von jeder weiteren selbstquälerischen Beschäftigung mit der unverjährbaren Schuld des Holocausts. Der Fall ist bei Schlink damit erledigt, und die Rezipienten dürfen aufatmen: Um noch einen drauf zu setzen, lässt der Autor seine Figur in der darauf folgenden lebenslangen Haft gewissermaßen für uns, die wir selbst damit ‚nun wirklich nichts zu tun haben‘, fleißig alle verfügbare historiografische Literatur über den Holocaust lesen und sich nach dieser ‚monumentalen Buße‘ wie eine Märtyrerin in ihrer Zelle erhängen. Damit ist die ‚Akte Hanna Schmitz‘ endgültig geschlossen und gibt Raum für die bauernschlauen Bezweifelungen des deutschen Projekts der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ durch Schlinks Protagonisten Michael Berg.

2. Verflucht durch ‚jüdische Unversöhnlichkeit‘

Bei Hannas symbolisch überhöhtem Freitod handelt es sich um ein altes Motiv des literarischen Antisemitismus, wie es schon im 19. Jahrhundert auftauchte. Bereits in Annette von Droste-Hülshoffs Novelle „Die Judenbuche“ führt ein von Juden am Tatort der Ermordung eines ihrer Glaubensgenossen angebrachter hebräischer Rache-Fluch dazu, dass sich dort ein unschuldiger armer Schlucker aus der ‚Unterschicht‘ selbst aufknüpft. Dies geschieht nach 28 Jahren des qualvollen Exils in der türkischen Sklaverei, in die er auf seiner Flucht vor der Ahndung jenes Verbrechens geriet, das er selbst in Wahrheit gar nicht begangen hatte, dessen er aber dringend verdächtigt wurde. Und das, obwohl es laut Droste-Hülshoffs Novelle aller Wahrscheinlichkeit nach selbst ein Jude war, der den Mord begangen hatte.

Dieser intertextuelle Zusammenhang vermag zu verdeutlichen, dass die Holocaust-Literatur, die Hanna bei Schlink am Ende durchliest, in dem Roman auch etwas von einer schriftlich festgehaltenen ‚Verfluchung‘ hat, deren pausenlose Lektüre den Deutschen letztlich von ‚unversöhnlicher‘ jüdischer Seite ‚aufgezwungen‘ wird und schlimmstenfalls zum verzweifelten Selbstmord zu Unrecht beziehungsweise im Übermaß bestrafter ‚Mitläufer‘ führen könne.

Schlinks Roman ist damit auch ein klassisches Anti-’68er-Buch, denn es wartet mit einem Protagonisten jener „Generation“ der Studentenrevolte auf, der mit Hanna als einer Frau, die auch seine Mutter sein könnte, bereits als Jugendlicher eine erfüllende sexuelle Beziehung erleben darf und nach diesen hemmungslosen ödipalen Exzessen schließlich in langatmigen Grübeleien darauf kommt, die vorschnelle Vorverurteilung seiner Elterngeneration, der er nun einmal in Liebe verbunden sei, als sinnlose und geradezu pathologische Selbstzerfleischung zu verwerfen. Michael Berg ist damit als klassische Identifikationsfigur letztlich nicht nur in Deutschland begeistert aufgenommen worden, sondern seine Modellierung als Verkünder verklausulierter Aufforderungen zu historischer Reflexionslosigkeit führte letztlich sogar dazu, den Roman „Der Vorleser“ zu einem beispiellosen Welterfolg avancieren zu lassen.

Donahue weiß nun anhand an der erstaunlichen US-Rezeption dieses Romans zu zeigen, wie dies so kommen konnte. Auch in den Staaten sei man der Beschäftigung mit dem unangenehmen Thema der Shoah zusehends überdrüssig geworden, berichtet der Autor. Die „Verjährungsfrist“ des Holocausts laufe ganz einfach ab, stellt er nüchtern fest, und dies drohe vor allem dazu zu führen, dass sich nunmehr die internationale Öffentlichkeit daran mache, die Shoah allenfalls noch als eine ‘todsicher’ instrumentalisierbare Emotionalisierungs- und Empörungs-Schablone für ihre eigenen politischen Zwecke auszubeuten, neu zu kontextualisieren und damit deren tatsächliche historische Rolle im kollektiven Gedächtnis zu verschleiern.

Sich selbst wie Schlinks Protagonist Michael Berg als ‚sekundäres Opfer‘ des Holocausts darstellen zu können, erleichtert offenbar ungemein: Es mögen schlimme Dinge geschehen sein, aber man habe damit nun einmal überhaupt nichts zu tun gehabt und sei dennoch unfreiwillig in die zermürbenden Folgeprozesse hineingezogen worden, weswegen man nunmehr auch schon selbst ungeheuer viel mitgemacht habe und es damit auch einmal gut damit sein müsse – so in etwa ließe sich die Denkfigur wiederzugeben, die mittlerweile nicht nur in Deutschland, sondern international Schule gemacht zu haben scheint. Denn Michael Berg, dieser unschuldige Prototyp des ‚missbrauchten Nachgeborenen‘, der trotz aller anfänglichen Lust an der Affäre mit Hanna schließlich das Nachsehen hat, trägt aus seiner amour fou eine lebenslängliche Sexualneurose davon – was ihm im Roman übrigens auch noch ausgerechnet eine Jüdin bescheinigen darf. Sein paradigmatisches Schicksal und dessen erzählerische Analyse im Roman kommen also nach Donahues Interpretation beim Leser einer letztlich als angemehm empfundenen Abwehr des Zwangs entgegen, die Shoah immer wieder neu erinnern zu müssen. So wird es möglich, den Holocaust in eine ‚schöne Geschichte‘ münden zu lassen, welche den Leser auf ‚positive‘ Weise zu berühren vermag: Endlich darf man hier auch einmal selbst weinen und sich als Mit-Leidenden anerkennen, ohne immer nur die vorwurfsvollen Anderen selbstlos und duckmäuserisch bemitleiden zu müssen.

Die Erkenntnis, dass man ganz einfach aufhören müsse, dieses ganze historische Verbrechen zu diskutieren und seine Ursache zu ergründen, weil das zu nichts als weiterem Leid und ungerechten Vorverurteilungen zu führen vermöge, entlastet auch den Rezipienten des Romans und macht eine ‘entrückte’ Darstellung des Zweiten Weltkrieges, wie sie Schlink damit geradezu prototypisch geschrieben hat, laut Donahue so reizvoll: „Denn auf diese Weise wird der Roman zu einem, in dem es in erster Linie um uns geht – was erklärt, warum nicht nur Deutsche, sondern auch Amerikaner, im Grunde genommen Leser auf der ganzen Welt, diesen Roman so attraktiv finden.“

3. Bizarre Anekdoten aus dem Alltag deutscher Schuldabwehr

Donahues Buch macht aus seinem Entstehungskontext, der Lehre seines Autors als Associate Professor für German Studies und Jewish Studies an der Duke University (Durham, NC), keinen Hehl. Das rein fachliche Problem, das sich daraus ergibt, ist die starke ‚Vereinfachung‘ seines akademischen Stils, die zunächst einmal nichts Schlechtes sein muss. Doch alles wird hier haarklein durchbuchstabiert, und jede Deutung wird manchmal fast schon etwas zu eindringlich am jeweiligen Textbeispiel oder seiner entsprechenden filmischen Umsetzungen deutlich gemacht. Dem gegenüber steht außerdem nur eine relativ selektive Berücksichtigung der vorliegenden Forschungsliteratur zum Thema sowie eine fast vollständige Abstinenz theoretischer Perspektiven auf das untersuchte Problem.

Wenig reflektiert bleiben außerdem die medialen Differenzen zwischen dem Roman und seiner Umsetzung im Kino: Bloß nachzuerzählen, welche Szenen im Film gestrichen oder verändert wurden, um die cineastische Adaption hier und da sogar gegenüber dem Roman zu loben, ersetzt nun einmal keine filmwissenschaftliche Analyse. Mehr noch: Diese tatsächlich gravierenden methodischen Mängel von Donahues Buch werden sowohl in der internationalen Literatur- als auch der Filmwissenschaft dazu führen, dass seine Kritik, die in eine vollkommen richtige Richtung zielt, schnell abgetan oder gar nicht erst wahrgenommen werden wird.

Erhellend zu lesen ist bei Donahue jedoch die spezifische Sachlage, die der Autor aus den USA zu berichten weiß. Hier wartet sein Band mit Einblicken auf, die für deutsche Schlink-Kritiker neu und überaus beunruhigend anmuten. Wer gedacht hatte, die notorische Abwehr der NS-Schuld sei vor allem ein Problem des deutschen Feuilletons beziehungsweise einer wachsenden Anzahl bereits hoffnungslos geschichtspolitisch indoktrinierter BA-Studierender, die vom Holocaust lieber gar nichts mehr wissen wollen, wird hier unerbittlich eines Besseren belehrt: Offenbar sind auch die amerikanischen Verhältnisse kaum besser.

Gleichzeitig berichtet Donahue von internationalen Akademiker-Begegnungen, die schockieren: Bei einem Forschungsaufenthalt in Deutschland wurde der Autor mit seinen US-Kollegen noch 1996 von einem hochrangigen Beamten des Verteidigungsministeriums mit dem „barschen“ Hinweis begrüßt, die nachfolgenden Generationen der nationalsozialistischen Vergangenheit doch bitte in Zukunft nicht mehr allzusehr mit diesem unliebsamen Thema, das gewiss wichtig sei, zu behelligen.

Dieter Mahncke, mittlerweile Professor am College of Europe, warnte laut Donahue in seiner Ansprache besonders „amerikanische Juden“ davor, „den Deutschen eine noch intensivere Holocaust-Erziehung aufzubürden“. Man solle diese Vorstellungen schon gar nicht „auf die Germanistik übertragen, die in puncto Holocaust-Gedenken bereits so viel geleistet hätte“. Komme ein übermäßiges Insistieren auf dieser Vergangenheit doch – so wörtlich – „einem pädagogischen ‚Overkill‘ gleich“. Da war es also schon wieder, das gute, alte Stereotyp aus der „Judenbuche“: Jene unversöhnlichen Juden, welche die Vergangenheit einfach nicht ruhen lassen wollen, um immer wieder ihre Verfluchungen zu wiederholen, die am Ende selbst ganz unschuldige Deutsche willenlos ins eigene Grab taumeln lassen.

Donahue und sein US-Kollege Robert L. Cohn berichteten seinerzeit von dieser „vorauseilenden Schelte“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“, worauf Mahncke den beiden einen Brief schrieb, in dem er sich Donahues Angaben nach mit den Worten empörte: „Einige Bekannte, die den Artikel [in der Zeit] ebenfalls gelesen haben, haben mich gefragt, ob es wohl sein könnte, daß jeder Deutsche, der Ihnen nicht gesenkten Hauptes und ‚mia culpa‘ [sic!] murmelnd entgegentritt, Ihnen ‚barsch’ und ‚drohend’ vorkommt.“

Donahue nimmt dagegen heute geradezu großherzig an, dass solche Entgleisungen einer früheren Stimmung in Deutschland geschuldet gewesen seien, die man mittlerweile längst überwunden habe. Stattdessen geht er, wie erwähnt, in der Folge insbesondere auch mit neueren Auswüchsen der Shoah-Relativierung in den USA hart ins Gericht. An Donahues akribischer Demontierung international virulent gewordener Schein-Argumentationen, Verharmlosungsstrategien und emotionalisierend vorgetragener ‚Melodramatisierungen‘ der deutschen Shoah-Schuld in Schlinks „Vorleser“ und dessen Verfilmung sollte man in Zukunft jedenfalls nicht mehr achtlos vorbeigehen – auch wenn man dafür in Kauf nehmen muss, das Fehlen theoretischer Interpretations-Begründungen in Donahues wissenschaftlicher Argumentation mit wohlwollender Nachsicht zu behandeln.

4. Das Geheimnis der „Wechselrahmung“

Methodisch reflektierter und theoretisch informierter als Donahue argumentiert Tobias Ebbrecht in seiner Berliner Dissertation über „Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis“. Auch Ebbrecht hat in seiner instruktiven Arbeit über „Filmische Narrationen des Holocausts“ eine neue „transnationale“ Perspektive in einer „sich globalisierenden Erinnerungskultur“ ausgemacht: „Der Mord an den Juden und die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs werden zunehmend vom nationalen Bezugsrahmen der Erinnerung abgelöst diskutiert und gedeutet. Die globalen Produktionsprozesse haben nicht nur ökonomisch zu einer engeren Verflechtung geführt, sondern auch eine transnationale Geschichtsästhetik geschaffen, in der sich gegenläufige nationale Gedächtnisse entweder aneinander reiben oder harmonisierend auf einander bezogen werden.“

Gerade Letzteres haben deutsche Produktionen mit merklich gewachsenem Know How in Angriff genommen. So muss man konstatieren, dass die mediale Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Shoah mittlerweile mehr von fiktionalen Inszenierungen moduliert wird als von historischen Fakten. Nicht mehr große geschichtliche Zusammenhänge werden also in den neuen Doku-Fiktionen, Film- und Kinobearbeitungen von Themen aus der Zeit der Shoah erörtert, sondern hauptsächlich schöne ‚Herz-Schmerz‘-Geschichten wie bei Schlink. Erzählt wird also mittels einer Konzentration auf einige wenige ‚Schicksale‘, die nach allen Regeln der melodramatischen Konventionen Hollywoods auch in Deutschland zusehends professioneller produziert werden – wie etwa das von Roland Suso Richter inszenierte Bombenkriegsdrama „Dresden“ gezeigt hat. Es wurde im Jahr 2006 zur besten Sendezeit im ZDF ausgestrahlt, nach den Worten des Historikers Dietmar Süß als eine „Seifenoper im Rosamunde Pilcher-Format, mit deutsch-britischem Happy End und inszeniert als politisch-korrekter Versöhnungsakt über den Dächern der Stadt“.

Derartige ‚politisch korrekte‘ Angebote, ja selbst die explizite Thematisierung der Shoah in dem Zweiteiler „Dresden“, werden dabei von der großen Emotionalisierungskraft audiovisueller Inszenierung überlagert, wie auch Antonia Schmid in dem empfehlenswerten Band „Deutschlandwunder. Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur“ (2007) einleuchtend herausgearbeitet hat. „Abgesehen von der Frage, welche historischen Inhalte ein Film überhaupt repräsentiert, ist gleichwohl die Art und Weise ihrer Darstellung entscheidend. Die Form bestimmt in nicht zu unterschätzender Weise den Inhalt: Durch audiovisuelle Strategien, die im Vergleich zu geschriebenem oder gesprochenem Text eine weitaus höhere Emotionalisierung erzeugen, kann das filmische Medium Topoi reproduzieren, die auf einer vorbewussten Ebene über eingestreute Fakten dominieren“, erklärt Schmid. „Words cannot balance pictures: Die Gesamtkomposition eines Films bestimmt seine Rezeption insofern, dass ein Stereotypmuster, wie es auch das Melodram vorlegt, wahrnehmungsleitende Signale setzt, die eine Erzählung vorstrukturieren.“

Solche Streifen bedienen sich darüber hinaus der von Harald Welzer als „Wechselrahmungen“ bezeichneten Strategie, deutsche Opferfiguren mit Darstellungskonventionen zu inszenieren, welche bereits als solche ins öffentliche Gedächtnis eingegangen sind, die eigentlich auf ganz andere historische Narrative verweisen – vor allem aber auf die Shoah. Zum einen wird der Bombenangriff auf Dresden in Richters Film auf der visuellen Ebene massiv mit sakralen und christlichen Motiven kombiniert, in deren Zentrum die Frauenkirche als „intertextuelles Kollektivsymbol für das Leiden der Deutschen“ avanciert und diese als Märtyrer einer regelrechten ‚heiligen Passion’ und einer monumentalen Feuer-‚Katharsis’ erscheinen lässt.

Darüber hinaus taucht das jüdische Mädchen mit dem roten Mantel, das in Steven Spielbergs Holocaust-Film „Schindler’s List“ (1993) wie durch ein Wunder unbehelligt durch ein Massaker im Krakauer Ghetto läuft, nach Schmids frappierender Beobachtung in „Dresden“ in Person der deutschen Protagonistin Anna wieder auf, die in einem roten Kleid durch die Trümmerwüste der zerbombten Stadt geht. Ein irreführenderes symbolisches Bild der wundersamen Wandlung der Deutschen vom ‚Täter‘- zum ‚Opfervolk‘ im Angesicht eines ‚Bomben-Holocausts‘ in „Dresden“ ist kaum noch denkbar: So entsteht eine ganz neue Form einer medial vermittelten Läuterung durch die Inszenierung einer Apokalypse, neben der die (im Film nicht einmal verschwiegene) Shoah zur bloßen Fußnote der Geschichte herabgestuft wird. Der Holocaust liefert hier lediglich noch die notwendigen visuellen Rahmungen, um emotionale Reflexe abzurufen, die tatsächlich in einen ganz anderen historischen Kontext gehören, wie Schmid unterstreicht: „Die Verwendung solcher im kollektiven Gedächtnis verankerter Sekundärbilder des Holocaust für deutsche Opfernarrative ist symptomatisch für den neuen Opferdiskurs. Darüber hinaus wird diese Analogisierung [in „Dresden“, JS] mit Bildern des Abtransports von Leichen kombiniert, die ebenfalls zum, der Ikonografie von Holocaustrepräsentationen entnommenen, kulturellen Bildrepertoire der Opferschaft gehören. Dass diese Einstellungen am Ende des Films stehen, entspricht der vom Läuterungskonzept geleiteten Entwicklung der Figuren, die, durch den ‚Feuersturm‘ zum Opfer geworden, ‚gereinigt‘ in die Zukunft entlassen werden.“

Schmid hat in ihrem Beitrag eindringlich herausgearbeitet, wie die Kriegsleiden der Deutschen auf diese paradigmatische und symptomatische Weise in „Dresden“ ganz einfach entkontextualisiert werden. Es findet eine schlichte „Entkoppelung individueller Geschichte von gesellschaftlichen Zusammenhängen“ statt, die „eine Revision ihrer Kausalzusammenhänge und die Infragestellung der Legitimität unliebsamer Konsequenzen“ ermöglicht, welche nun einmal in der historischen Realität durchaus daraus resultieren können, dass man einen Weltkrieg anzettelt, ganz Europa in Schutt und Asche legt und seine jüdischen Einwohner komplett zu liquidieren versucht, zusammen mit Millionen weiterer als ‚Untermenschen‘ eingestufter ‘Feinde’. In „Dresden“ wird so jedoch alles mit allem vergleichbar beziehungsweise so getan, als könne die Bombardierung Dresdens das Verbrechen von Auschwitz wie eine reinigende Form der Buße einfach abgelten oder sich sogar als zentrales Verbrechen des 20. Jahrhunderts an die Stelle des Holocausts setzen lassen.

5. „Superzeichen“ des Holocausts als neue Mahn-Symbole deutschen Leids

Hinzu kommen Strategien der ‚Authentitätserzeugung’, die geschickt von den Konventionen des Hollywoodkinos der 1990er-Jahre abgeschaut werden. Ähnlich wie in Oliver Hirschbiegels Film „Der Untergang“ (2004) wird auch in „Dresden“ die ‚authentische’ Rahmung des Films mit den Bildern historischer Überlebender der Apokalypse aus Steven Spielbergs „Schindler’s List“ übernommen, wo sich diese Inszenierung allerdings auf das Gedenken jüdischer Holocaust-Opfer bezieht. Laut Ebbrecht kopiert dagegen Hirschbiegels Hitler-Klamotte mit Bruno Ganz in der Hauptrolle ganz einfach Spielbergs Erzählrahmen, in welchem reale Holocaust-Überlebende am Grab Oscar Schindlers zu sehen sind, um an ihre Stelle ein Interview mit Hitlers ehemaliger Sekretärin Traudl Junge zu setzen. Der Regisseur überträgt so die aufwühlende ‚Authentizität’ einer Familien- und Rettungsgeschichte Überlebender der Shoah umstandslos auf die Sphäre der deutschen NS-Täter. Eine vergleichbare „Wechselrahmung“ liegt laut Ebbrecht auch in der Szene von „Der Untergang“ vor, in der Corinna Harfouch als Magda Goebbels ihre Kinder in einer Kammer mit Stockbetten vergiftet: Dieses quälend lange ausgespielte Motiv erinnert unwillkürlich an bekannte Fotos aus KZ-Baracken und rückt mittels der Zitation solcher zu „Superzeichen“ der Shoah avancierter Requisiten die Töchter einer der mächtigsten NS-Familien in einen visuellen Symbolraum, der sie im Rahmen eines ‚heiligen Abendmahls’ zu sakralisierten Opfern des Holocausts avancieren lässt.

Nach der Hypothese des Filmwissenschaftlers Jens Eder, auf den sich Ebbrecht in seiner instruktiven Arbeit wiederholt bezieht, fühlen wir in derartigen Fällen nicht unbedingt mit, aber „für“ solche filmische Figuren und „reagieren mit Emotionen der Freude oder Erleichterung, des Mitleids oder Bedauerns auf Ereignisse, die positive oder negative Konsequenzen für die wohlverstandenen Interessen (needs) der Figuren haben“. Ebbrecht führt dazu weiter aus: „Auf diese Weise nehmen wir durch die Figuren, die Figurenzeichnung und die Figurenkonflikte auch die historischen Ereignisse wahr. Elemente aus Filmen über den Holocaust vermischen sich dabei mit Genreeffekten und Versatzstücken aus den tradierten Familiengeschichten über den Zweiten Weltkrieg. So werden über die Figuren bestimmte Geschichtsbilder vermittelt. Die Übernahme von Opferzuschreibungen aus filmischen Erzählungen über den Holocaust und ihre Überschreibung durch deutsche Opfer- und Heldenfiguren ist darin von zentraler Bedeutung.“

Welche Folgen dies zeitigen kann, zeigt nicht zuletzt die Rezeption Schlinks in Deutschland und den USA. Zufrieden stimmt es allerdings, dass die Kritik solcher Diskurse mit Donahue oder auch Autoren wie Ebbrecht kluge und wache neue Vertreter gefunden hat. Man sollte ihre Analysen lesen und dringend weiter empfehlen. Mehr kann man, so wie es aussieht, im Moment kaum noch tun.

Anm. der Red.: Eine gekürzte Fassung des Essays ist in der Juli-Ausgabe des Magazins „Opak“ erschienen.

Titelbild

kittkritik (Hg.): Deutschlandwunder. Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur.
Ventil Verlag, Mainz 2007.
233 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783931555719

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Titelbild

Tobias Ebbrecht: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust.
Transcript Verlag, Bielefeld 2011.
351 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783837616712

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William Collins Donahue: Holocaust Lite. Bernhard Schlinks "NS-Romane" und ihre Verfilmungen.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2011.
313 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783895288326

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