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Dieter Burdorf hat einen Sammelband zu den Korrelaten von Edition und Interpretation moderner deutschsprachiger Lyrik herausgegeben

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lassen sich teure editorische Großprojekte nur aus einer editionstheoretischen und -praktischen Warte rechtfertigen oder auch vom vermeintlichen Kern der Literaturwissenschaft aus, also vom (cum grano salis) „Interpretieren“? Gibt es, zumindest für die ‚moderne‘ Lyrik seit Friedrich Hölderlin, aufgrund der hohen Anforderungen, die das Genre an seine Editoren erhebt, so etwas wie eine spezifische Problematik der Lyrikedition? Lassen sich systematische Zusammenhänge zwischen Lyrikedition und Gedichtinterpretation benennen? Ist an eine Theorie des Lesers kritischer Editionen zu denken und was wissen wir über den realen Leser? Diesem ehrgeizigen Fragenkatalog möchte sich der von Dieter Burdorf herausgegebene Sammelband stellen, und er tut es mit einem guten Dutzend Einzelstudien, die durch die Bank editionstheoretisch ambitioniert, auf der Grundlage profunder Kenntnis der jeweils in Frage stehenden Materialien, teils aus Herausgebersicht, über laufende und abgeschlossene Projekte berichten, Desiderate und Mängel benennen. So plädiert Bernhard Fetz für eine kommentierte Studienausgabe zu Ernst Jandl und moniert Lothar Bluhm die Kommentierungspraxis der historisch-kritischen Trakl-Ausgabe.

Als lyrischer Solitär auf der Schwelle moderner Lyrikproduktion erhält Hölderlin in dem Band eine allzu herausragende Position – ihm widmen sich gleich vier Beiträge. Weiter geht es mit Stefan George, Bertolt Brecht, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Gottfried Benn, schließlich folgen Paul Celan und Ernst Jandl. Keineswegs befassen sich die Aufsätze allein mit eindeutig lyrischen Texten: Anhand von Benns Notizbüchern handelt Thorsten Ries Fragen textgenetischen Edierens ab.

Leistungen und Grenzen der ein Jahrhundert währenden Bemühungen um einen kritischen Hölderlin-Text werden entfaltet, vor allem aber wird mit Luigi Reitanis zweisprachiger deutsch-italienischer Studienausgabe ein Modell diskutiert, das den Überlieferungskontext (Erstdruck in Zeitschriften vs. Nachlass) ins Zentrum stellt und sich durch eine leserfreundliche grafische Hervorhebung schwer zu integrierender Handschriftenelemente auszeichnet. Reitani knüpft mit seiner innovativen Edition an ein ganz besonderes Interpretationsinteresse an, nämlich das des Lyrikübersetzers.

Der 2010 erschienene Band sammelt größtenteils Beiträge einer bereits 2004 stattgefundenen Tagung. Seitdem hat das digitale Edieren Fortschritte gemacht, über die man hier leider nichts nachlesen kann. Ein Satz wie der folgende scheint allerdings aus der Steinzeit des Computers zu stammen: „Hier könnten die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung für eine vollständige Dokumentation der Varianten, Fassungen und Texte genutzt werden, um vor diesem Hintergrund eine kritische Buch-Edition gegebenenfalls zu entlasten“. Tatsächlich läge hier, wo der Reflexionshorizont des Bandes endet, eine seiner zukunftsträchtigsten Aufgaben. Doch ob es sich um Rudolf Borchardts Lyrik oder um Gottfried Benns Notizbücher handelt: An Konzepten des digitalen Edierens umfangreicher Nachlassmaterialien fehlt es (noch).

Anhand dieser Überlegungen kann man sich auch verdeutlichen, dass es die essentielle Besonderheit des Edierens von ‚Lyrik‘ vermutlich nicht gibt und nicht geben kann, dass es sich nur um graduelle Differenzen zu anderen editorisch zu bearbeitenden Materialiencorpora handeln kann. Gewiss: In der Praxis sind es häufig die formal und inhaltlich dichten, semantisch überdeterminierten Gedichte, deren Genese komplex, langwierig und – für die Papierarbeiter unter den Lyrikern – auch materialaufwändig ist. Mit Vers oder Strophe sind häufig über den grafematischen Fluss hinaus zusätzliche, nun topografisch eruierbare, semantisch relevante und editorisch zu bewältigende distinktive Grenzen von Zeichenensembles gegeben. Doch zahlreiche andere Ebenen finden sich auch in nicht-lyrischen Texten, schenkt man ihnen nur Beachtung.

Ein Beispiel hierfür wären die ausgesprochen skrupulösen Editionsrichtlinien der IX. Abteilung der Kritischen Nietzsche-Gesamtausgabe „Der späte Nietzsche“, die, von Vers- und Strophengrenzen einmal abgesehen, mit allen anderen Problemen des Edierens von Nachlässen zu kämpfen hat, also etwa ‚Text‘ vs. ‚Fragment‘, ‚endgültiger Text‘ vs. ‚Textgenese‘, Gruppenbildung/(Ab-)Schreibprozesse, schwer repräsentierbare oder gar datierbare Schreib-, Streich- und Überschreibprozesse im Einzelnen. Allein die Komplexität der Zeichenensembles auf dem Überlieferungsträger erzwingt editorische Komplexität, nicht etwa die Zuordnung zu einer literarischen Gattung wie der Lyrik, die nun einmal traditionell nicht nur als semantisch anspruchsvoll gilt, sondern für die auch seit Jahrzehnten gut handhabbare Interpretationsszenarien entwickelt werden, nicht zuletzt durch den Herausgeber des Bandes. Rüdiger Nutt-Kofoths historische Einleitung bestätigt die Auffassung des Rezensenten im Grunde dadurch, dass sie die umsichtig formulierte These zugrunde legt, Verstexteditionen hätten sich in der Editionsgeschichte immer wieder als paradigmatisch erwiesen. Das heißt gerade nicht, dass es ‚die‘ Spezifika der Lyrikedition gibt.

Die Tatsache, dass es an gängigen Leitfäden zur Interpretation von hybriden Textsorten wie Brief, Tagebuch oder eben gar ‚Notizbuch‘ mangelt und teils auch mangeln muss, legitimiert nicht eine Geringschätzung seitens der Editionswissenschaft. Umgekehrt heißt dies, dass in vielen markanten Einzelfällen das Edieren von Lyrik zwar aufgrund lange gewachsener Bedürfnisse akademischer und auch anderer LeserInnen ein besonders hohes Reflexionsniveau erreicht hat – doch ist im Zeitalter digitalen Edierens längst auch nach neuen und differenzierten Möglichkeiten der editorischen Aufbereitung weit diffuserer Materialcorpora zu suchen, als Gedichte es sind.

Vollkommen zu Recht klingt in der Einleitung sowie hie und da in den Beiträgen die Forderung an, faktische LeserInnen in die Überlegungen der Editionswissenschaft stärker als bisher einzubeziehen oder, so Burdorfs Forderung, eine Theorie des Lesers von Editionen zu entwerfen. Beginnen Editoren heute, etwa mit Blick auf die Heroen der Editionsgeschichte, der Subjektivität des Edierens endlich Rechnung zu tragen, so wäre komplementär auch an die Nutzer-Subjekte zu denken oder eben, wie Lothar Bluhm anmahnt, stärker kundenorientiert zu arbeiten. Spricht der Editor, dann hat er sich schon versprochen, will sagen: dann hat er seinen Lesern schon eine suggestive Lösung jenes Problems des Textverstehens angeboten, dem dieser sich eigentlich selbst stellen sollte. Diese überspitzt formulierte Behauptung ist nur auf den ersten Blick verwunderlich und lässt sich weniger polemisch wie folgt formulieren: Indem der Editor die Grenzen des Texts selbst mitbestimmt, hat er an jeder Interpretation bereits Anteil.

Weiß auch der Editor, wie es scheint, über seine Leser wenig zu sagen, wird ihm doch bewusst sein, dass nur sehr wenige Leser den mühevollen Weg beschreiten, eine kritische Edition ‚nach Gebrauchsanweisung‘ zu lesen. Immerhin: Wer über die Zusammenhänge von Edieren und Interpretieren nachdenkt, müsste über die kritische Selbstreflexion auf interpretierende Praktiken des Herausgebers hinaus doch auch einmal die Breitenwirkung seiner Produkte in den Blick nehmen. Dass der ideale Leser sich zunehmend „seinen eigenen Weg zu diesen hochkomplexen Texten suchen muss“, wie es Dieter Burdorf in seiner Einleitung formuliert, ist bekannt. Je mehr Ausgaben auf einen eigens konstituierten Text zugunsten der digitalen bzw. faksimilierten Darbietung des Überlieferungsmaterials verzichten, desto wichtiger sollte es für den Editor werden, mehr über seine wirklichen Leser zu erfahren: Hat er überhaupt (noch) Kunden?

Titelbild

Dieter Burdorf (Hg.): Edition und Interpretation moderner Lyrik seit Hölderlin.
De Gruyter, Berlin 2010.
223 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110231519

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