Schöner Schund zwischen Charité und Varieté

Mathieu Carrière gewährt in seinem Romandebüt „Im Innern der Seifenblase“ einen tiefen Einblick ins flache Telenovela-Geschäft

Von Bernd HeinrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Heinrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mathieu Carrière, inzwischen über 60, stand bereits mit 13 in der Thomas-Mann-Verfilmung „Toni Kröger“ vor der Kamera. Er spielte in mehr als 70 Filmen und nahezu 30 TV-Beiträgen. Seine künstlerische Bandbreite reicht von der Zusammenarbeit mit Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff – dem übrigens am 24. Juni der Deutsch-Französische Journalistenpreis 2011 verliehen wurde – bis zu TV-Soaps wie „Schloss Hohenstein“ und „Anna und die Liebe“. In frischer Erinnerung ist Carriéres vergleichsweise kurzer TV-Auftritt bei „Let’s dance“ sowie seine Kandidatur in der RTL-Sendung aus dem australischen Dschungelcamp „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“.

Der studierte Philosoph und einstige Schüler im Jesuiteninternat veröffentlicht die Studie „Kleist, für eine Literatur des Krieges“ (1981) und den Essayband „Wilde Behauptung“ (1994). Jetzt hat er seinen Debütroman vorgelegt: In beinahe Schwindel erregendem Tempo, aggressiv, schonungslos, schrill, grell, ironisch, auch sprachlich genüsslich ausschweifend, bedient er alle Klischees über die Vorstellung der Voyeure „draußen“ über die Vorgänge „Im Innern der Seifenblase“. Das ist Satire pur. Ja, mehr noch. Er setzt immer wieder einen drauf, wenn er die Leser bissig-provokant den Irrwitz, die ganze Tragikomik im modernen, industriellen Produktionsprozess heutiger Seifenoper-Produktionen quasi miterleben lässt. Carrière will sein Buch als satirische Fabel verstanden wissen, als eine Art Enthüllungsroman. Er wollte schreiben „über uns selbst. Viele werden sich wiedererkennen.“ Man könnte es auch triviale Satire nennen oder: ein schöner rasanter Schundroman. Über die seichte Seifenblase Unterhaltungsindustrie.

Die Fabel ist rasch erzählt: Der bekannte Schauspieler Bob Bodenhauer liegt im Krankenhaus, wird für tot erklärt, erwacht nach einem Jahr aus dem Koma und kann sich an nichts erinnern. Die hübsche Krankenschwester Barbarella offenbart ihm, dass sie ein Kind von ihm bekommt. Er bekommt hingegen eine Rolle in einer Telenovela. Die Suche nach seiner Identität beginnt. Die Schwester hilft. Der behandelnde Professor Piano, Chef der Neurologie, der Psychiatrie, der Psychopharmakologie und der Komatologie, hilft. Mit allerhand medizinischem Beiwerk, mit legalen, illegalen oder fiktiven Stimuli. Da wird eine Lamictal-Diazepam-Mischung verabreicht oder ein Spezialcocktail aus Vitamin C und einer Spur Folsäure gespritzt. Da gibt es Serotoninwiederaufnahmehemmer und Antipsychotika. Travolir zur Behandlung von Depression und Angststörungen soll stimmungsaufhellend und angstlösend wirken. Allerdings treiben den Professor keine hehren Beweggründe. Eher entspringt die professorale „Hilfe“ dem miesen Hintergedanken, einem koreanischen Medienunternehmen namens Ma&Ma in die Hände zu spielen, das auf der europäischen Fernsehbühne gar zu gern in vorderster Reihe Fuß fassen möchte.

In dem Roman ist die Rede von Sex, Verbrechen, Manipulation, Huren, Arschlöchern, Monstern, impotenten Wichsern, senilen Trotteln, Deppen, erotischen Fantasien, Knutschszenen, Sackgrabschern. Handelnde Personen sind paranoid, hinterhältig, selbstzerstörerisch, und die Produzenten rauchen Kokain.

Selbstredend schreibt Mathieu Carrière zwischendurch auch weithin prosaischer, philosophischer. Er nennt sein Buch über das Showgeschäft ein Vexierspiel, vergleicht es mit einer Zwiebel, die viele Schichten hat, erwähnt vergleichend Don Quichote und fordert den Rezipienten auf, zwischen den Zeilen zu lesen. Mit 60 sei er abgeklärt, so der Dschungelphilosoph und Kleistianer. Auch versöhnlich. Er möchte aufklären, nicht abrechnen.

Und er wollte ein Buch schreiben, das die Menschen amüsiert, das die Leute zum Lachen bringt. Das sei in Deutschland viel schwerer, als sie zum Weinen zu bringen. Für Letzteres, so der Schauspieler-Autor, bräuchte es oft nicht einmal Talent.

Aber was ist amüsant an und in dem Buch? Wann lacht der Leser? Wenn eine Krankenschwester, die auf Laken, Kittel und ihre Finger verspritztes Sperma in ein leeres Reagenzglas füllt, sich auf den Rücken wirft, den Rock bis unter die Brüste reißt, ihr Höschen bis zu den Knien hochschiebt und den Inhalt des Röhrchens in ihre Vagina gießt? Wenn eine Produzentin heftig an ihrer Kokainzigarette saugt? Wenn eine etwas quallige, oberflächliche, aber wunderschöne Blondine von allen angehimmelt wird? Wenn jemand aufspringt und schreit: „Ich zahle ihre Nutten nicht, Sie Wichser!“? Wenn zwei Personen sich in einem Schuppen voller Ratten auf einem Hinterhof in ausgerechnet – Berlin-Marzahn –verkriechen? Wenn der supernette Hoppelsohn im Cent-Center an der Kasse sitzt und alle vögeln darf? Wenn ein Papi ziemlich ausgepowert ist, weil er keine Drogen mehr nimmt? Wenn fünfundzwanzig bewegte Bildminuten wie Frischfleisch den angepeilten zigmillionen Zuschauern zum Fraß vorgeworfen werden? – Wenn jemand Fellatio in Dubidu mit Fellini und Dolce Vita verwechselt? Wenn ein Partygast sich an den spitzen Brüsten einer Marmorbüste bös die Stirn verletzt?

Da kann man sich denn vor Lachen kaum auf dem Stuhl halten, klopft sich heftig wiehernd auf die Schenkel und schnappt vor lauter Frohsinn nach Luft! Oder eher doch nicht?

In einem Interview sagt Carrière, er gehe gern Risiken ein und kümmere sich gern. Und er glaube zu wissen: Leute, die Bücher lesen, gucken kein Dschungelcamp. Im Umkehrschluss ist zu vermuten, dass Dschungelcamp-Gucker keine Bücher lesen. Nun kann man darüber streiten, was Nichtleser von „Im Innern der Seifenblase“ verpassen. Der Rezensent jedenfalls gesteht, dass er, als er vom „Klauen, kiffen, kampfsaufen“ las, das Buch für längere Zeit zur Seite gelegt hatte. Nicht ohne auf diejenige Seite vorgeblättert zu haben, auf der mit drohend großen Buchstaben gewarnt wird: „FORTSETZUNG GARANTIERT“.

Mathieu Carrière gesteht: „Ich verlange sehr viel von mir und bin dann oft enttäuscht.“ Er behauptet: „Irrenhäuser sind Fernsehstudios gar nicht so unähnlich!“ Und zitiert schließlich Konfuzius: „Das Leben beginnt mit 65.“ Nun gut. Bis dahin bliebe ihm genügend Zeit, bei Realisierung seiner Fortsetzungs-Drohung das gekonnt kunstvoll „aufgeblasene Nichts“ wenn nicht mit Tiefsinn, dann doch zumindest mit Sinn zu füllen. Es ist ihm zuzutrauen. Denn für eine Schlagzeile war der umtriebige Mathieu Carrière immer gut.

Titelbild

Mathieu Carrière: Im Innern der Seifenblase. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2011.
365 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001742

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