Bergman auf französisch

Véronique Bizot bilanziert in „Meine Krönung“ ein Männerleben

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein Autor einen Großstadtroman schreiben will und zum Helden einen Haftentlassenen wählt, darf er sich nicht wundern, wenn sogleich der Vergleich mit Alfred Döblins „Berlin, Alexanderplatz“ im Raum steht. Véronique Bizot verknüpft in ihrem Roman – ob es wirklich einer ist, sei zunächst einmal dahingestellt – die unerwartete Ehrung eines Wissenschaftlers in fortgeschrittenstem Alter mit dessen Rückschau auf sein Leben und ruft damit unweigerlich einen der bekanntesten Filme von Ingmar Bergman auf: „Wilde Erdbeeren“, von 1957.

Und wer sich in der neueren Dramengeschichte auskennt, dem fällt auch noch Thomas Bernhards Monodram „Der Weltverbesserer“ von 1980 ein. Nun geht es dabei gar nicht um die Frage von Ideendiebstahl und Originalität; dafür ist der Bergman’sche Film einfach viel zu bekannt. Wenn der Bezug auf die Vorlage nicht als Folie dient, ohne die der neue Text nicht geschrieben worden wäre und an der er sich produktiv abarbeitet – und der Fall ist hier auszuschließen – bleibt nur der Fall übrig, dass die Autorin die Prätexte nicht kennt, die Übereinstimmung also zufällig wäre – auch unwahrscheinlich – oder die Motivverwandtschaft in Kauf nimmt, um etwas Eigenes daraus zu machen. Doch gerade wenn man ihr das zugesteht, braucht es einige Zeit, um das bekannte Vorgängerwerk aus dem Kopf zu bekommen, gerade wenn man bei der Lektüre noch nicht weiß, worum es der französischen Erzählerin zu tun ist und worauf sie hinauswill. Das ist immer das leicht Unglückliche bei solchen Anleihen in der Rahmenkonstruktion, seien sie bewusst oder unbewusst – der Autor oder die Autorin selbst legt die Latte sehr hoch.

Der in Paris lebende, weit über achtzigjährige Physiker Gilbert Kaplan wird, ohne dass er damit gerechnet hätte, für eine lang zurückliegende wissenschaftliche Leistung ausgezeichnet, an die er sich kaum mehr erinnern kann. Mit seiner Haushälterin, Madam Ambrunaz, die ihm in allen praktischen Lebensfragen tatkräftig zur Seite steht, bereitet sich der Alte, der die Öffentlichkeit sonst eher scheut, auf die Preisverleihung, seine „wissenschaftliche Krönung“, vor.

In die Ich-Erzählung sind Erinnerungen an seine Schwestern, seinen Sohn, seine verstorbene Frau und seinen Bruder, einen erfolgreichen Schriftsteller, eingeflochten, mit denen er nur noch sporadisch Kontakt hat. All diese Nebenfiguren sind kaum mit Eigengewicht ausgearbeitet, sie geben dem Protagonisten Kontur und vieles bleibt reizvollerweise nur Andeutung. Doch der Forscher hält in dieser Rückschau keine moralische Abrechnung mit seinem Leben, aus der eine Läuterung hervorginge, wie der alte Wissenschaftler in Bergmans Film und schon gar keine grimmige Abrechnung mit der Welt wie Bernhards Weltverbesserer.

Der Alte, vom Typus her leicht misanthropisch angelegt, trägt gleichwohl durchaus sympathische Züge, wenn er sich eher widerwillig für seinen letzten gesellschaftlichen Auftritt vorbereitet, wozu neben einer neuen Garderobe auch zum Schluss ein Ausflug an die See gehört. Zwar klingt immer wieder der Gedanke an Tod und Gebrechlichkeit an – sei es in der Erinnerung an seine frühzeitig in den Freitod gegangene Frau, von der ihm nur noch die Zähne geblieben sind, oder an einen ehemaligen Forscherkollegen, der auf einmal krankheitsbedingt nicht mehr ansprechbar war – doch werden hier keine metaphysischen und lebensmoralischen Fragen gewälzt wie beim schwedischen Filmschöpfer.

Es ist der Blick auf den Alltag eines alten Mannes, dessen Lebenskreis sich mehr und mehr verengt hat, der den Text zu einer leicht zu lesenden, anmutigen Charakterstudie machen, ohne den Gestus von Verbitterung und Anklage. In den Erinnerungen an die ihm nahestehenden Verwandten und Kollegen scheint das Leben in seiner ganzen Kontingenz, mit all seinen Brüchen und Verzweigungen auf. Mit welcher tragikomischen Pointe die Geschichte zu Ende geht, sei hier nicht verraten. Diese Schlusswendung ist aber auch vonnöten, um der Erzählung, die schon aus medialen Gründen anders „funktioniert“, gegenüber dem Bergman’schen Film ein eigenes Profil zu geben.

Doch ist der Text, der in Frankreich im vergangenen Jahr immerhin mit dem „Grand Prix du Roman“ ausgezeichnet wurde, wirklich ein Roman? Man zweifelt. Die gerade 120 Seiten lange Erzählung soll durch die Gliederung in 18 Mini-Kapitel, die aufgepfropft ist und kaum dem Erzählstrom entspricht, vielmehr wie einer aussehen; sie hat aus strukturellen Gründen eher Novellencharakter. Wie so oft, scheint die Genrebezeichnung eher ein verkaufsförderndes Label zu sein. Davon einmal abgesehen – es bleibt eine sehr französisch daherkommende, leichte Variation zu einem filmischen Meisterwerk; aus dem Vergleich entschieden herauszutreten, fehlt es ihm allerdings an Kraft und Originalität

Titelbild

Veronique Bizot: Meine Krönung. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz.
Steidl Verlag, Göttingen 2011.
127 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783869302300

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