Das Morden geht weiter

Zu dieser Ausgabe

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Vor nunmehr zehn Jahren, am 11. September 2001, versetzte der bisher perfideste und wirksamste Terroranschlag des Zeitalters der sogenannten „neuen“ beziehungsweise „asymmetrischen“ Kriege nach 1989 die westlichen Gesellschaften in Angst und Schrecken. Es war zwar im Rückblick nur eines von vielen Attentaten in der ganzen Welt, die auf das Konto der 1988 im pakistanischen Peschawar von Osama bin Laden gegründeten Terror-Organisation al-Qaida gingen – jedoch war es mit über 3.000 Opfern der bisher immer noch verhängnisvollste und aufgrund seiner apokalyptischen Symbolik einprägsamste Massenmord des neuen Jahrtausends.

Womit allerdings noch gar kein Wort über die Folgen dieses kriegerischen Akts neuen Typs verloren wäre, die bis heute andauern: Die Gesamtzahl der Opfer in denjenigen Kriegen, die der Einschlag zweier entführter Passagiermaschinen in das New Yorker World Trade Center im Irak und in Afghanistan erst auslöste, hat noch niemand zusammengerechnet – und es werden immer noch fast jeden Tag mehr.

Die allgemeine Verunsicherung, zumal auch in der politischen Linken Europas und der USA, führt nach wie vor zu endlosen Debatten über „9/11“ und die Folgen. So entstanden linke politische Gruppierungen, die aufgrund des eliminatorischen Antisemitismus und des offen an ideologischen Versatzstücken des Nationalsozialismus orientierten Weltbilds maßgeblicher islamistischer Terrororganisationen nicht nur die „Operation Enduring Freedom“ befürworteten (Stichwort: „Fanta statt Fatwa!“), also die 2001 begonnene NATO-Intervention in Afghanistan, sondern auch den bald darauf folgenden, aufgrund von Lügen über angebliche Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins durch die Administration George Bushs durchgesetzten Irakkrieg im Jahr 2003.

Auf der anderen Seite gibt es ‚antiimperialistische’ Linke, die diese Kriege wie auch jenen, der seit Februar 2011 mit Luftunterstützung durch die NATO in Libyen gegen den terroristisch erfahrenen Diktator Muammar al-Gaddafi geführt wird, als ‚kolonialistische’ Verbrechen kritisieren. Hier wird es allerdings langsam wirklich kompliziert: Denn inwiefern die Rebellen, die gerade dabei sind, Gaddafi im Namen des libyschen Volkes zu besiegen, sich selbst aus islamistischen Gruppierungen zusammensetzen, die, ähnlich wie in Ägypten, wo man sich des Diktators Husni Mubarak entledigte, erst noch für ganz neue Probleme in der Region des Nahen Ostens sorgen könnten, weiß bislang noch niemand so genau. Gaddafi zumindest behauptete, die NATO würde ihm nunmehr in seinem tapferen Kampf gegen al-Qaida in den Arm fallen und somit selbst den Weg für die Nachfolger bin Ladens frei bomben: Doch wer konnte und wollte dem unberechenbaren Giftgas-Guru Gaddafi zuletzt auch nur irgendetwas glauben, diesem „Irren mit dem Regenschirm“?

Auch dass mit Osama Bin Laden im Mai 2011 der Hauptverantwortliche für die Anschläge in New York endlich aufgespürt und in einer spektakulären Aktion von US-Spezialeinheiten in einem idyllisch gelegenen Landhaus liquidiert wurde, dass sich bezeichnenderweise inmitten des von militärischen Würdenträgern Pakistans bewohnten Orts Abbottabad befand, hat an der Weltsituation nach dem 11. September 2001 letztlich rein gar nichts geändert: Die Situation im Irak gleicht weiterhin einem permanenten Bürgerkrieg – und von Afghanistan, wo es nicht besser aussieht, ist der islamistische Terror, der global nach wie vor hauptsächlich muslimische Opfer fordert, mittlerweile auch nach Pakistan eingedrungen – immerhin ein Land, das sich im Besitz von Atomwaffen befindet. Genauso wie vielleicht bald auch der Iran, ein Staat, dessen Präsident Mahmud Ahmadinedschad seit Jahren sogar ganz offen mit einem Nuklearkrieg gegen Israel und damit die gesamte demokratische westliche Welt droht.

Zuguterletzt betrat dann in diesem Sommer mit Anders Behring Breivik in Norwegen auch noch ein ‚geklonter’ Attentäter-Typus die Bühne, der die Attentatsformen islamistischer Terroristen kopierte, um gegen den Islamismus in Europa Krieg zu führen und dafür norwegische Jugendliche niederzumetzeln. Der Terror kam also nunmehr aus dem ‚Innersten’ der demokratischen Welt selbst – und wie viele gewaltbereite Anhänger die wahnhafte Ideologie noch bekommen wird, die sich hier Bahn brach, kann man nur mutmaßen.

Die Septemberausgabe von literaturkritik.de wird alle diese Fragen kaum beantworten können. Dennoch haben auch wir einige Essays und Rezensionen zum Thema des 11. September 2001 zusammengestellt, um unter anderem auch zu zeigen, welche Folgen das Attentat auf die Welt der Literatur und der Philosophie zeitigte. Dabei interessieren unsere Autoren Fragen wie die folgenden: Wie hat sich die ‚Weltlage’ seit Beginn der sogenannten ‚asymmetrischen Kriege’ nach 1989 gewandelt und wie wurde sie von angesehenen Intellektuellen wie Gilles Deleuze und Judith Butler seither kommentiert? Wie verhielt sich die deutschsprachige Literaturkritik gegenüber den ersten Romanen, die hierzulande nach 9/11 erschienen und sich auf verschiedene Weise mit dem Thema des Attentats auf die Twin Towers auseinandersetzten? Nicht zuletzt: Wie reagierte die internationale Literatur aus Deutschland, Frankreich und den USA auf die Dominanz der endlos wiederholten und allgegenwärtigen Fernsehbilder des Attentats? Welche genuinen Stil- und Darstellungsmittel vermochte sie diesen audiovisuellen Einflüssen überhaupt entgegenzusetzen?

Mit Franz Kafka vergeblich davon träumend, dass es irgendwann vielleicht doch einmal möglich sein könnte, aus der Totschlägerreihe zu springen:
Ihr
Jan Süselbeck