Irrwege der Strategie

Beatrice Heusers Tour d’Horizon durch die Geschichte der Strategie ist im Detail fehlerhaft und methodisch unzulänglich

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie lassen sich Strategien und Kriegsbilder im Verlauf der Jahrhunderte aus den jeweils vorherrschenden sozialen, technologischen und ökonomischen Kontexten erklären? Welche Grundlinien können hierbei skizziert werden? Die derzeit in Großbritannien lehrende Historikerin und vormals leitende Wissenschaftlerin des Potsdamer Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Beatrice Heuser, hat sich der wahrhaft gewaltigen Aufgabe gestellt, diese wenn auch nicht neue, so doch immerhin spannende Perspektive in Form einer Tour d’Horizon durch die fraglos reichhaltige Militärschriftstellerei des westlichen Europas seit der Spätantike zu entwickeln. Herausgekommen ist ein auf den ersten Blick durchaus beachtliches Gesamtpanorama militärischen Denkens seit Flavius Renatus Vegetius, dessen Handbuch aus dem späten 4. Jahrhundert noch die Autoren des Mittelalters und der Frühen Neuzeit beeindruckte.

In einem einleitenden Kapitel befasst sich die Autorin zunächst mit dem Bedeutungswandel des Begriffs Strategie, der den eng gefassten militärischen Bereich und insbesondere die Fragen der Truppenführung im Felde allmählich transzendierte, um schließlich aktuell in Politik und Wirtschaft Projektionsfläche langfristiger Zielsetzungen zu werden. Heusers einführender begriffsgeschichtlicher Exkurs endet mit dem keineswegs überraschenden Resümee, dass politische Zielsetzungen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter der Chiffre „Grand Strategy“ Einzug in das militärische Denken gehalten haben. Briten wie Basil Liddel Hart, den Heuser gern und oft zitiert, seien hierbei vorangegangen, in dem sie, schockiert und ernüchtert über das Gemetzel des Ersten Weltkrieges, die Strategie als eine „Kunst“ begriffen, militärische Mittel zum Zwecke der Politik einzusetzen. Für die Autorin ist dies jedoch nicht nur eine bloße Frage der Definition, sondern Ausdruck eines nach 1918 zuerst in Großbritannien und Frankreich einsetzenden Mentalitätswandels, der sich von der bis dahin vorherrschenden – durch Napoleon und Clausewitz geprägten – agonalen Auffassung absetzte, das Ziel des Krieges sei grundsätzlich der Sieg oder gar die völlige Zerschlagung der gegnerischen Streitkräfte. Doch dies wäre schon ein Vorgriff auf Heusers Resümee.

Im Hauptteil ihrer Studie, die aus insgesamt vier Kapiteln besteht, untersucht die Autorin zunächst die gängigen militärischen Auffassungen der Antike, des Mittelalters und der Frühern Neuzeit. Hierbei erweist sich allerdings rasch, dass ihre wissenschaftlichen Stärken eher in anderen Epochen liegen müssen. So finden sich neben Stilblüten wie der „Heilige Römische Kaiser“ auch krasse Fehlurteile etwa über die doch recht komplexen Ursachen der Kreuzzüge. Angeblich seien, so Heuser, die Kreuzritter ausgesandt worden, um ihren christlichen Brüdern im östlichen Mittelmeerraum zu helfen, da ihnen die moslemischen Machthaber den Zutritt zu den so genannten heiligen Stätten verwehrten oder es sogar untersagten, die Messe zu feiern. Damit aber referiert sie nur die zeitgenössische klerikale Propaganda.

Ungeachtet der gewaltigen Ausmaße der Kreuzzugsbewegung über beinahe zwei Jahrhunderte hinweg behauptet Heuser jedoch zugleich, dass man die Kriegführung in Westeuropa vom ausgehenden 4. Jahrhundert bis zur französischen Revolution als „Periode der Zauderei“ bezeichnen könnte. Damit wendet sie sich besonders gegen die ohnehin längst widerlegte These des Amerikaners Victor Davis Hanson, dass die westliche Kriegführung seit der Zeit der griechischen Stadtstaaten stets die rasche Entscheidung auf dem Schlachtfeld angestrebt habe. Schon die Athener Themistokles und Perikles wichen bekanntlich von diesem Schema ab, als der erste im Perserkrieg die ganze Stadt auf die Flotte rettete, der zweite aber im Konflikt gegen Sparta einen Abnutzungskrieg führen wollte und dabei sogar die Verwüstung Attikas hinnahm.

Dass aber im Mittelalter weniger Schlachten als in anderen Epochen geschlagen worden seien, wenn auch mit erheblich geringeren Kräften, lässt sich gleichwohl kaum behaupten. Allein das 13. Jahrhundert weist neben zahlreichen Belagerungskämpfen mindestens ein Dutzend bedeutender Schlachten auf (Navas de Tolosa, Muret, Bouvines, Cortenuova, Lincoln, Benevent, Tagliacozzo, Marchfeld, Worringten) und ließe sich in dieser Beziehung durchaus mit der angeblich bellizistischen Epoche zwischen 1815 und 1914 vergleichen, die sie in ihrem zweiten Kapitel untersucht.

Heuser ignoriert in ihrem Urteil zudem vollkommen, dass der von ihr immerhin zitierte amerikanische Militärhistoriker Russel Weigley bereits die Epoche zwischen Lützen und Waterloo/Belle Alliance ausdrücklich als „Age of Battles“ bezeichnet hat. Über den Preußenkönig Friedrich II. schreibt sie sogar selbst, dass es seine (jedoch nicht immer realisierbare) Regel gewesen sei, Kriege kurz und heftig zu führen. Ähnliches ließe sich auch über John Churchill oder den Prinzen Eugen sagen. Von einem anderthalbtausendjährigen Zeitalter des militärischen Zauderns, wie sie meint, kann also kaum die Rede sein.

Die Liste ihrer eher hastig hingeworfenen Gesamturteile und Vergleiche ließe sich leicht noch verlängern und steigert allmählich den Unwillen beim Lesen. War die Wirkung der Artillerie den europäischen Militärtheoretikern bis zum Ende des 16. Jahrhunderts tatsächlich unbekannt? Heuser spricht an anderer Stelle selbst von der „trace italienne“, einer revolutionären Art des Festungsbaus als Antwort auf die neue artilleristische Bedrohung. Sie begann aber bereits kurz nach 1500 und der unmittelbare Auslöser war der spektakuläre Feldzug König Karls VIII. nach Italien im Jahre 1494/95 gewesen. So kann man es jedenfalls in Geoffrey Parkers Buch über die „Militärische Revolution“ des Westens nachlesen.

Waren etwa die Feldzüge Napoleons gegen die deutschen Staaten tatsächlich Regimewechselkriege, wie sie die Bush-Administration 200 Jahre später im Nahen Osten geführt hat? Behielten denn nicht Wittelsbacher, Wettiner, Habsburger und Hohenzollern ausnahmslos ihre Throne? Hatten die Israelis 1956 und 1967 wirklich von den „Blitzkriegsoperationen der Wehrmacht“ gelernt? Seit der Bahn brechenden Studie von Karl-Heinz Frieser über das angebliche Blitzkriegskonzept der Deutschen sollte man doch hier lieber Vorsicht walten lassen. War nicht – um noch ein Beispiel zu bringen – die von ihr gelobte neue Taktik der französischen Revolutionsarmeen in Wahrheit keine willentlich vollzogene Umstellung, sondern eine glatte Notgeburt? Jedenfalls war nicht die aufgelockerte Ordnung der so genannten Tirailleurs der Schlüssel zum Sieg Frankreichs im 1. Koalitionskrieg, sondern wohl eher der Rückzug Preußens im Frieden von Basel.

In ihrem dritten Kapitel behauptet Heuser, der „Geist der Offensive“, der die europäischen Armeen vor dem Ersten Weltkrieg geprägt habe, sei das Resultat der napoleonischen Kriege gewesen, die einen übersteigerten europäischen Nationalismus hervor gebracht hätten. Dieser habe sich mit dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Sozialdarwinismus zu einer unheilvollen mentalen Melange vermischt. Die Autorin spricht hier sogar – reichlich emotional – von einer „neuen Bösartigkeit in der europäischen Kriegführung“ des späten 19. Jahrhunderts.

Die innenpolitischen Gründe für die Konjunktur dieses „Geistes“ gerade in Frankreich in der ersten Dekade nach 1900 unterschlägt sie vollkommen. Gleichwohl scheint sich die einseitige Ausrichtung der an Napoleon anknüpfenden Militärtheoretiker auf die Vernichtung des Gegners eigenartigerweise kaum auf die Praxis der Kriegführung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgewirkt zu haben: Der Krimkrieg endete faktisch mit der Einnahme von Sewastopel, die russische Armee blieb dabei weitgehend intakt. Auch der Krieg in Norditalien kam schon nach wenigen Wochen zum Abschluss, ohne dass Habsburgs Armee ebenso wie später im so genannten Deutschen Krieg von 1866 ihr Cannae erlebte. Dagegen war die Fortsetzung des Widerstandes nach Sedan durch die neue Dritte Republik für die siegreichen preußisch-deutschen Armeen ein irritierendes Ärgernis. Einzig in diesem Krieg des 19. Jahrhunderts wurde der überwiegende Teil der gegnerischen Streitkräfte zerschlagen oder neutralisiert, gleichwohl lässt sich trotz des Auftretens der so genannten Franc-Tireurs nach Ansicht der Forschung noch nicht von einem Volkskrieg sprechen.

Heuser geht jedoch auf die für die spätere Theoriebildung wichtige Phase der Einigungskriege überraschenderweise kaum ein, sondern verwirrt lediglich den Leser mit ihrer Behauptung, der ältere Moltke (der Chef des Stabes der Armee) sei sogar der „Oberbefehlshaber der preußischen Truppen in Bismarcks Kriegen“ gewesen. Da stört es dann auch nicht mehr, dass sie kurz darauf aus dem Ersten Seelord, Sir John Fisher, den „Obersten Kommandierenden“ der britischen Marine macht.

Überwog nun tatsächlich in dieser Phase des militärischen Denkens nach Napoleon die Idee der Offensive? Gab es doch durchaus profilierte Denker wie etwa den Schwaben Friedrich List, der schon in den 1830er-Jahren die Prognose wagte, dass durch ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz Deutschland einmal zu einer einzigen Festung werden könne und Eisenbahnen überhaupt die Defensive derart begünstigten, dass Kriege zukünftig kaum noch geführt werden würden. Doch diesen bedeutenden und vielseitigen Protagonisten der deutschen Eisenbahnen erwähnt Heuser mit keinem Wort, obwohl gerade namhafte preußische Militärs seiner Einschätzung durchaus nahe standen. Dass auch Berufsoffiziere die scheinbaren Vorzüge der Defensive angesichts der verheerenden Wirkung moderner Waffen schätzten, zeigte etwa die russische Armee in Fernost. Überraschenderweise scheiterte die europäische Großmacht im Krieg gegen Japan ausgerechnet mit ihrer Defensivtaktik, die der Oberbefehlshaber und Kriegsminister Alexej M. Kuropatkin mit Blick auf den rasanten Wandel der Militärtechnologie bewusst gewählt hatte. Die zahlreich angereisten europäischen Kriegsbeobachter konnten am Ende erstaunt nach Hause melden, dass die Japaner vor allem wegen ihres Angriffsgeistes – trotz unbestreitbarer herber Verluste – siegreich geblieben seien. Das alles hätte Heuser ausführlich bei Dieter Storz nachlesen können, dessen grundlegendes Werk „Kriegsbild und Rüstung vor 1914“ sie jedoch nicht einmal im Literaturverzeichnis erwähnt.

Doch ihre in Gesamtdarstellungen wohl unvermeidlichen Unschärfen sind noch das geringste Problem des Textes, der innerhalb der jeweils beschriebenen Epoche den Stoff systematisch nach unterschiedlichen Themenstellungen wie etwa der Frage des Schutzes von Zivilpersonen, der Bedeutung der Wehrform oder der Rolle von Schlachten präsentiert. Das aber hat unweigerlich zur Folge, dass die Vorstellungen der erwähnten Autoren – trotz reichlicher und ausführlicher Zitate – fragmentarisiert werden. Der gesamte Kontext ihrer Werke kommt dabei überhaupt nicht zur Sprache. Heuser springt zudem über die Jahrhunderte hinweg von einem Schriftsteller zum anderen, von einem Versatzstück zum nächsten passenden Zitat, ohne dass der konkrete Anlass der Äußerungen oder gar die Konturen einer zeitgenössischen Debatte deutlich werden. Dabei gerät sie auch schon einmal selbst durcheinander, wenn sie etwa über eine strategische Auffassung schreibt, etliche Strategen meinen dies auch heute noch, als Beispiel aber Machiavelli zitiert und dies auch noch falsch, denn der Römer Scipio ahmte gewiss nicht Julius Cäsar nach – wie es im zitierten Passus heißt – wohl aber den Perserkönig Kyros. So ist es dann auch im originalen Text des Florentiners nachzulesen. Auch von Henry Kissinger heißt es, er habe seine Ansichten über die strategischen Konsequenzen der Nuklearrüstung am Ende des Kalten Krieges geschrieben, das von Heuser dabei zitierte Werk (Nuclear Weapons and Foreign Policy) stammt aber schon aus dem Jahre 1957.

Dass Heuser sich schließlich nach weiteren Kapiteln über Luft- und Seekriegsstrategie der aktuellen Debatte über die Ziele des Einsatzes militärischer Gewalt nähert, ist legitim, kann aber nicht wirklich überzeugen, da sie die Probleme des „Kleinen Krieges“ und der so genannten asymmetrischen Konflikte aus ihrer Betrachtung ausdrücklich ausgeklammert hat, um sie erst in einem Folgeband zu erörtern. Wirklich Neues bietet sie hier ohnehin nicht, denn eine auf den militärischen Sieg und die Vernichtung des Gegners zielende Strategie, die das europäische Denken angeblich in der Epoche zwischen Napoleon und den Weltkriegen dominierte, gilt spätestens seit den 1950er-Jahren in der militärischen Community als überholt. Es wird dem Leser auch nie ganz klar, was Heuser mit ihrer Untersuchung eigentlich anstrebt: Eine Geschichte der Strategie oder doch nur eine Darstellung der wichtigsten strategischen Werke?

Abgesehen von dieser Ambivalenz wäre es aus Sicht eines am Ende reichlich strapazierten Lesers nur zu wünschen, dass in dem angekündigten Folgeband über die Strategie des „Kleinen Krieges“ die zahlreichen Ungereimtheiten und Flapsigkeiten ihrer vorliegenden Darstellung durch ein gründlicheres Lektorat vermieden würden. Es ist doch nicht mehr als eine banale Hohlformel, wenn sie etwa bemerkt: „Kriege entstanden meist aus bereits lange bestehenden Feindseligkeiten und Streitfragen.“ Was soll man aber nur denken, wenn Heuser etwa schreibt, dass Frankreich 1870/71 durch die Deutschen „schmählich“ besiegt wurde. An anderer Stelle spricht sie sogar von einer „schimpflichen Niederlage“ oder schreibt von den in das Römische Reich einfallenden Wellen von Heiden (!), die von der (defensiven) Denkart Kaiser Leo IV. „noch völlig unbeleckt“ (sic!) gewesen seien. Ost- und Westgoten können damit allerdings nicht gemeint sein, denn die waren immerhin arianische Christen. Wenige Seiten später waren es wiederum „immer neue Wellen heidnischer Migranten“, die gewaltsam in das christliche Europa einfielen, dann aber sind es wieder die „friedfertigen Gesellschaften außerhalb Europas“: Ob Heuser damit wohl Moslems und Azteken gemeint hat?

Heusers Schlusskapitel oder Resümee wirkt – kaum noch überraschend – reichlich ziellos. Es wird nicht deutlich, wo die Antworten auf ihre eingangs gestellten leitenden Fragen liegen. Stattdessen greift sie noch einmal – an Lidell Hart anknüpfend – die Debatte über die Wehrpflicht auf und plädiert sogar für deren Abschaffung: „Die [allgemeine] Wehrpflicht ist und war das Krebsgeschwür der Zivilisation.“ Gilt das aber auch für Demokratien und ihre Wehrpflichtarmeen? War die Parlamentsarmee der Bundeswehr mit ihrem Konzept vom Staatsbürger in Uniform tatsächlich ein derart gewaltiger Fehlgriff?

Am Ende räumt Heuser ein, dass eine einheitliche Entwicklungslinie des Kriegsbildes nicht erkennbar sei. Das ist zwar ein dürftiges, aber immerhin ehrliches Resultat. Als Handbuch der Geschichte der Strategie taugt ihr Buch jedenfalls nicht. Dafür bleibt vieles zu unklar oder ist einfach zu fehlerhaft dargestellt.

Titelbild

Beatrice Heuser: Den Krieg denken. Die Entwicklung der Strategie seit der Antike.
Schöningh Verlag, Paderborn 2010.
523 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783506768322

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