Momente der Selbstbegegnung

Ernst Jüngers Tagebuch und Briefwechsel

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man hat nicht oft Gelegenheit, hundertjährigen Schriftstellern bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Ernst Jünger (1895 - 1998) war einer dieser ganz raren Fälle, und wer zu den wenigen Verbliebenen gehörte, die Jüngers 75-jährige Autorschaft von Anfang an mitverfolgt haben, der mochte sich denken: "Anders liest der Knabe Terenz, anders der Greis." Und in der Tat hatte sich hier ein fast lateinisch klarer Altersstil herausgebildet, der sich dem Leser so sehr eingeprägt hat, dass er selber schon in jüngerschen Sentenzen zu denken begann. An dieser langen Autorschaft konnte man sehr gut nachvollziehen, wie sich aus der fluiden Intelligenz des jungen Jünger die kristalline des alten herausgebildet hatte. Ganz analog muss es auch der Autor selbst erfahren haben. Seine Tagebücher waren für ihn ein Medium der Selbstbegegnung, und noch im hohen Alter klärten sich unverhofft Dinge, die zum Teil bis in die Zeit der Weltkriege zurückführten. Dokumente und - kaum zu glauben - Zeitzeugen tauchten auf, längst verloren geglaubte Spuren erschienen plötzlich so frisch als wie am ersten Tag.

Ernst Jünger hat einmal gesagt, er habe "nur in gefährlichen Zeiten" Tagebuch geführt: "Und als ich dann siebzig wurde, da dachte ich, na ja, jetzt kommen also von alten Freunden doch immer wieder Verlustnachrichten, eine gefährliche Zeit, da könnte man ja wieder anfangen." Seit 1980 erschienen, quasi als Alterswerk, fünf Bände "Siebzig verweht", an denen Jünger seit 1965 gearbeitet hatte. Jüngers späte Tagebücher reichen bis zum Dezember 1995. Sie sind ein Beispiel für jene charakteristische Prosamischform, die Jünger spätestens seit den "Strahlungen" für seine persönlichen, aber zur Publikation bestimmten Aufzeichnungen entwickelt hatte: Es enthält neben den Eintragungen "von Tag zu Tag" auch Traumprotokolle, Exzerpte aus der Briefpost, Reflexionen über die "Todeslinie", an der sich der Autor entlangbewegt, kleine essayistische Digressionen, Reden und Ansprachen, die er zu festlichen Gelegenheiten gehalten hat.

Zu den Fundstücken aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zählt ein Dokument, das Jünger darüber Auskunft gibt, weshalb man sich mit seiner Entlassung aus der Wehrmacht im Oktober 1944 so beeilt hat: "Warum aber das, und in solcher Eile dazu? Wollte man mich unbedingt loswerden, hätte eine Kommandierung an die Ostfront genügt. Der Brief erklärte mir nun [Generalfeldmarschall] Keitels Eifer - er hatte Angst vor einem unmittelbar gegen mich bevorstehenden Prozeß und wollte sich und die Armee aus der Affäre heraushalten." Ein anderes Papier, das dem Autor von Helmut Krausser entlockt wurde, dokumentiert Jüngers Begegnung mit Louis-Ferdinand Céline: Céline war Jünger suspekt, und er hatte ihn in den "Strahlungen" abschätzig portraitiert. Im 3. Band von "Siebzi verweht" schließlich ist ein Brief von Paul Weinrich abgedruckt, 1939 Jüngers Lektor bei der Hanseatischen Verlagsanstalt. Weinrich berichtet, wie er Jüngers Roman !Auf den Mamor-Klippen" an der Bouhler-Kommission zum Schutze des NS-Schrifttums vorbeischleuste.

Auch die Träume waren für Jünger zeitlebens ein Medium der Selbstbegegnung. Im "Zwischenreich" traf er auf sein früheres Ich im Umgang mit längst Verstorbenen - ein bizarrer, hundertjähriger Spiegel. Häufig waren diese nächtlichen Besucher Traumbilder lieber Freunde, wie des Gärtners der Familie, dessen letzter Brief mehr als dreißig Jahre zurücklag. Es kamen aber auch unangenehme Gäste zu Besuch, Hitler zum Beispiel. Mochte es daran liegen, dass "ein tiefer Schlaf dem Tode am nächsten" ist, wie Johann Georg Hamann sagte, einer der Hausgötter des Autors oder waren es Wunscherfüllungsfantasien, wie Jünger-Gegner es vermutlich interpretieren würden?

Ein anderes Beispiel der Selbstbegegnung ist der noch zu Lebzeiten Jüngers erschienene Briefwechsel mit dem Maler Rudolf Schlichter (1890 - 1955). Jünger mochte die akribisch-filigrane, gegenständliche Malkunst Schlichters, und er hatte zeitlebens vor, eine Monographie über ihn zu schreiben. Aus diesem Plan wurde nichts, persönliche Begegnungen zwischen Schlichter und Jünger sind ausgesprochen rar gewesen, fast gewinnt man den Eindruck, der Autor sei dem Maler ausgewichen. In etwas anderer Form, in diesem vorzüglich, von Dirk Heißerer edierten Briefband, liegt nun doch eine Art Monographie vor. Eine gemeinsame Leidenschaft von Maler und Autor waren die "Geschichten aus tausendundeiner Nacht". Ein Bild, das Jünger in seinem Werk immer wieder zitiert hat, zuletzt in seinem Roman "Eumeswil" (1977), ist das Märchen von Emir Musa und der Messingstadt. In diesem "tiefen Geist" sieht Jünger die "Konfrontation von Lebenspracht und Tod" veranschaulicht. Hält man Schlichters Tuschfederzeichnungen daneben, so erscheint diese Inspirationsquelle von Jüngers Werk in ganz neuem Licht.

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Ernst Jünger: Siebzig verweht I-V. Die Tagebücher 1965-1996.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1998.
2534 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 360893457X

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Ernst Jünger / Rudolf Schlichter: Briefe 1935-1955. Hrsg., komment. u. m. e. Nachw. v. Dirk Heißerer.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999.
605 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3608936823

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Ernst Jünger: Sämtliche Werke Band 21 Siebzig verweht. Tl.4. Sämtliche Werke, 18 Bde. u. 4 Supplement-Bde.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999.
43,50 EUR.

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Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Erste Abteilung. Tagebücher. Band 20. Tagebücher VII. Strahlungen V. Zweiter Supplementband.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000.
590 Seiten, 43,50 EUR.
ISBN-10: 3608934901

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Jens Rehn: Nichts in Sicht. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
162 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3895611476

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