Paradoxien der Fleischwerdung

Jacques Rancières theo-politische Lektüre der Literatur

Von Daniel WeidnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Weidner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jacques Rancière ist einer der wichtigsten politischen Theoretiker der jüngeren Gegenwart. Er denkt ‚das Politische‘ als grundlegend und Grundlegung als politisch, denn Politik ist eine Ordnung, die keine Wahrheit hat, der ein klares, unumstrittenes Fundament fehlt und das deshalb auch alle anderen Fundamente – alle Vorstellungen letzter Ordnungen – in Frage stellt. Das Politische so zu denken, heißt dem Dissens, oder wie es auch heißt, dem „Unvernehmen“ seinen Rang und seine Würde wieder zu geben – gegen den Konsens und den Sachzwang. Politisch ist ‚das Politische‘ aber auch darin, dass es nicht als reines Prinzip existiert, sondern immer wieder in anderen Einschreibungen und in immer neuen Formgebungen.

Zu diesen Formen gehören prominent auch die Künste. Nun liegen, nach „Politik der Literatur“, „Politik der Bilder“, „Das Unbehagen in der Ästhetik“ auch zwei weitere Bände Rancières mit Essays zur Literatur vor, an denen man die Tragweite seines Unternehmen besonders deutlich ablesen kann: „Die stumme Sprache. Essays über die Widersprüche der Literatur“ und „Das Fleisch der Worte. Politik(en) der Schrift“. Politisch an der Literatur ist hier nicht irgendeine Ideologie, die sie vertritt, sondern ein bestimmtes Verhältnis des Textes zur Welt und zur Gemeinschaft, eine bestimmte „Aufteilung des Sinnlichen“. Politisch ist die Literatur auch, weil sie selbst grundlos und auch widersprüchlich ist, weil sie ein paradoxes Verhältnis von Körper und Schrift durchspielt, das für die Moderne charakteristisch ist.

Die Essays von „Die Stumme Sprache“ erzählen die Geschichte dieser Literatur, nicht ohne Wiederholungen und nicht ohne ein gehöriges Maß an Esoterik im Duktus. Sie erzählen, wie unsere ‚Literatur‘ aus der ,Literatur der Repräsentation‘ hervorgeht, die durch das politisch-rhetorische System der Gattungen bestimmt wird und die sich an Handelnde richtet, genauer: an Redende, die mit dem Wort handeln. „Was das Gebäude der Repräsentation normt, ist der Vorrang der Sprache als Akt, der Performanz der Sprache“. Gegen diese Ordnung erhebt sich die moderne Literatur, die wir kennen – nicht zufällig gleichzeitig mit der französischen Revolution. Sie ist und bleibt fundamental paradox. Denn die neue Literatur, die sich jetzt nicht mehr als Kompetenz, sondern als ‚Ausdruck‘ versteht, will zugleich Sprache für alle und alles sein, aber weiß nicht mehr, wie und für wen, sie will die allgemeine Sprache sein und doch auch die besondere Sprache der Poesie. So zahlt die Literatur für ihre Verabschiedung der Repräsentation mit einem Schwanken zwischen einer doppelten Gefahr: Literatur kann bloße Manifestation des Kollektiven oder bloße Virtuosität, bloßes Pathos oder glückliches Spiel der Form werden.

Es ist die doppelte Gefahr, die schon Hegel der Kunst in der Moderne attestiert hatte, dessen Diagnose vom Ende der Kunst der Angelpunkt von Rancières Geschichte ist. Die Kunst, unter den Bedingungen der Moderne, erscheint entweder als etwas Vergangenes, als Klassik, oder sie muss ihre eigene Unmöglichkeit immer wieder inszenieren: sie muss dem prosaischen Ende der Poesie eine Poetik der Prosa entgegenstellen, wie sie die moderne Theorie des Romans charakterisiert. Wie die Literatur damit umgeht, wie Romantik (Victor Hugo), Realismus (Honoré de Balzac, Gustave Flaubert), Symbolismus (Stéphane Mallarmé) und Moderne (Marcel Proust) das Paradox einer stummen Sprache artikulieren und damit Literatur machen, zeigen die vorliegenden Essays: „Die Literatur ist das System der Möglichkeiten, das die unmögliche Übereinstimmung zwischen der Notwendigkeit der Sprache und der Gleichgültigkeit dessen, was sie sagt, zwischen der großen Schrift des lebendigen Geistes und der Demokratie des nackten Buchstabens bestimmt.“

Gerade in dieser Doppelheit ist die Schrift ein politisches Prinzip – weil sie nämlich jegliche Hierarchie untergräbt und jenen hohen Geist immer wieder in das triviale Spiel der Buchstaben stürzt, weil die Schrift immer wieder ‚rein‘ werden will – absoluter Stil bei Flaubert, reine Musik bei Mallarmé –, aber diese Reinheit sich nicht feststellen lässt und sich nicht unterscheiden kann von dem Chaos der Welt: „Die Demokratie ist die Herrschaft der Schrift, wo die Perversion des Buchstabens identisch ist mit dem Gesetz der Gemeinschaft, wo das Herumirren des verwaisten Buchstabens das Gesetz macht.“ Umgekehrt ist es die Literatur, und gerade der Roman, der der modernen Politik ein nicht-triviales Erscheinungsbild gibt, welcher der Demokratie Form gibt.

Diese Form bleibt, wohlgemerkt, in sich gespalten. Rancière betont zwar die zerstreuenden Effekte der Schrift, aber er immer nur als eine Seite des Streites, der die Literatur zur Politik macht: „Denn der Kern der Literatur und ihres Widerspruchs ist nicht der Autotelismus der Sprache, die in sich verschlossene Herrschaft des Buchstabens, sondern die Spannung zwischen dem Buchstaben und seinem Geist“. Für diesen ‚Geist‘ gibt es viele Namen, deren wichtigster wohl der Körper ist, von dem sich die Literatur und gerade der Roman niemals vollständig ablöst. Mit Michel de Certeau sieht Rancière die Literatur im Abendland geprägt durch ein anfängliches Fehlen des Körpers, das immer wieder geschrieben werden muss, während umgekehrt die Literatur immer wieder verkörpert werden muss. „Die Literatur lebt nur davon die Fleischwerdung zu vereiteln, die sie unaufhörlich wieder ins Spiel bringt.“

Was dabei auf dem Spiel steht, zeigen vor allem die Texte aus „Das Fleisch der Worte.“ Etwa, wenn sich Rancière mit anderen Lesern auseinandersetzt, wenn für ihn etwa Don Quichotte nicht – wie bei den Romantikern, bei Georg Lukács und bei Michel Foucault – Wirklichkeit mit Fiktion verwechselt, sondern seinen Körper der Wirklichkeit des Buches opfert und sein Leben zum Beweis der Schrift macht. Oder wenn er in einem besonders lesenswerten Aufsatz Louis Althussers Form der Lektüre als Theatralisierung der Theorie, also als Verkörperung von Gedanken beschreibt und zugleich zeigt, wie sich dieses Projekt negativ gegen eine vermeintlich religiöse Hermeneutik abgrenzt: „Vieles wäre zu sagen über die ein wenig zu bequeme Art und Weise, mit der Althusser – und mit ihm eine ganze Generation – dieses Schreckgespenst der religiösen Lektüre und ihrer Wahrheit entwickelt hat“.

Rancière selbst macht sich mit diesem Schreckgespenst ganz anders zu schaffen. Einer der überraschendsten Essays von „Das Fleisch der Worte“ setzt die Literatur in Beziehung zur ‚Schrift‘ der Theologie, die ebenfalls nicht homogen, sondern paradox ist. Rancière liest die Bibel mit Erich Auerbach, dessen Mimesis bekanntlich mit der Lektüre der Bibel ansetzte, deren unmittelbare Darstellung der Wirklichkeit eine der Quellen des europäischen Realismus sei. Aber er setzt dieser Lesart zugleich eine andere entgegen, die – mit Frank Kermode – betont, dass die biblischen Texte immer aus anderen Texten gemacht sind auf die sie figural verweisen: „Man kann so zwei Theologien des Romans entwerfen, zwei widerstreitende Interpretationen dessen, was der Roman der christlichen Äquivalenz von Fleischwerdung des Wortes und Erfüllung der Heiligen Schrift verdankt. Die eine gründet auf der Fleischwerdung und der Fülle, die diese dem darstellbaren Körper der literarischen Narration verlieht, die andere stützt sich auf das Verhältnis der Heiligen Schrift zu sich selbst, das jede figürliche Darstellung als einzig erweist.“

Die biblische Erzählung ist zugleich Nicht-Kunst und Kunst, oder genauer: sie zwingt in einen „theologisch-poetischen Kreis“, der kein reines Spiel von Zeichen mehr ist: „Die Schleife von Textnachweis und körperlicher Demonstration ist wahrhaftig endlos. Es bedarf stets eines Körpers um die Heilige Schrift zu beweisen. Es bedarf umgekehrt immer der Schrift um zu beweisen, dass der fragliche Körper wirklich auch dieser Körper ist.“ So zeigt sich, dass das Problem der Verkörperung nicht erst die moderne Literatur prägt, sondern – wie der corps manqué Certaus – die Schrift auch über ihre Grenzen der Literatur hinaus prägt. Gerade das, dass die Paradoxien der Literatur auch über deren Grenzen hinaus, auch über die ‚eigentliche‘ Literatur hinaus zu finden sind, macht sie noch einmal anders politisch.

In seinen Lektüren entwirft Rancière eine Politik der Theologie, die aber ganz anders ist als die politische Theologie Carl Schmitt’scher Prägung, die hierzulande meist die Debatte beherrscht. Und zwar nicht nur, weil sie eine andere Politik darstellt: eine revolutionäre Politik statt einer Politik der Souveränität. Sie unterhält auch ein anderes Verhältnis zur Theologie, die sie nicht ausbeutet als Legitimierung oder Nobilitierung der Politik, sondern die sie auf ihre eigene Logik hin befragt. Theologie hat hier dann auch nicht mit Herrschaft und Begründung zu tun, sie betrifft das Verhältnis von Köper und Bedeutung, also das, was Walter Benjamin „Kreatürlichkeit“ nannte. Deren Politik kritisiert die Politische Theologie der Herrschaft, sie kritisiert auch eine andere, falschen Politik der Literatur und erlaubt damit auch, einen anderen Blick auf die Literatur: Denn „man muss die Täuschung des souveränen literarischen Spiels durchstehen, um zum Verständnis der literarischen Quasi-Körperlichkeit zu gelangen.“

Titelbild

Jacques Rancière: Das Fleisch der Worte. Politik(en) der Schrift.
Übersetzt aus dem Französischen von Marc Blankenburg und Christina Hünsche.
Diaphanes Verlag, Zürich 2010.
235 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783037340844

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Titelbild

Jacques Rancière: Die stumme Sprache. Essay über die Widersprüche der Literatur.
Übersetzt aus dem Französischen von Richard Steurer.
Diaphanes Verlag, Zürich 2010.
214 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783037341117

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