Mutter oder Magd des Gedankens?

Eine Anthologie versammelt Texte zur Stilkritik aus fünf Jahrhunderten: „Schlechter Stil!“

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich an die im Feuilleton im Herbst 2009 von den Philosophen Peter Sloterdijk und Axel Honneth geführte Debatte erinnert, wird feststellen, dass hier nicht nur sachliche Positionen, sondern auch zwei intellektuelle Stile gegeneinander standen: einmal ein essayistischer, tendenziell antiakademischer Denkstil, der sich nicht an Fächergrenzen und Fachsprachen hält und mit einer theoretischen Fantasie einhergeht, die ihre Evidenz mehr aus Sprachschöpfung und Gedankenassoziation denn stringenter Argumentation zu gewinnen sucht – zum anderen der methodisch abgesicherte Denkstil eines Sozialphilosophen, der sich als Fachwissenschaftler versteht. Bis heute existieren beide intellektuelle Stile in Philosophie, Literatur- und Kulturwissenschaft nebeneinander. In Verbindung mit Theorietraditionen („szientistisch“ versus „dialektisch“) ließen sich für den deutschen Geistesraum leicht weitere Namen typisierend gegenüberstellen und Debatten anführen, wie etwa den Positivismusstreit in der deutschen Soziologie in den 1960er-Jahren.

Um Stil in genau diesem Sinne geht es in der vorliegenden Textsammlung mit dem etwas irreführenden Untertitel „Sprachkritik aus fünf Jahrhunderten“; die Sprachkritik richtet sich nicht gegen Tendenzen im allgemeinen Sprachgebrauch, sondern es geht um die Schreibweisen von Wissenschaftlern und Intellektuellen, womit immer auch der Denkstil – was auch immer das sein mag – eingeschlossen ist. Zieht man nun die Frontlinien anders, nämlich im Kontext von nationalen Wissenschaftsstilen – der stilkritische Topos von der dunklen, schwer lesbaren Wissenschaftsprosa des Deutschen stellt sich hier ein und er ist auch der rote Faden der ganzen Sammlung –, dann wären Sloterdijk und Honneth nicht mehr soweit voneinander entfernt, sondern stünden etwa dem angloamerikanischen Denk- und Schreibideal gegenüber.

Vereinfacht gesagt, bemisst sich der Unterschied am Verhältnis zur „Unverständlichkeit“ – und damit wird deutlich, dass die intellektuelle Stilkritik immer auch hermeneutische Probleme umfasst: Gilt der aufklärerisch-rationalistischen Position, die in ihrer antirhetorischen Pointierung bis zu Aristoteles zurückreicht, aufgrund ihres Sprachverständnisses Dunkelheit als eine Untugend – alles was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen –, so sieht die andere Seite die sprachliche Form als vom Gehalt abhängig, mithin eine vordergründige Verständlichkeit letztlich als Verrat an der Sache.

Der Herausgeber, der mittlerweile verstorbene Dresdner Romanist und Kulturwissenschaftler Norbert Rehrmann, ist entschiedener Parteigänger der ersten Position und versteht seine Anthologie als Mittel, ihr breitere Geltung zu verschaffen. Auf der Linie der ersten Position liegen auch die meisten Textauszüge der Sammlung: von der humanistischen, antirhetorischen Stilkritik im Zeichen der Klarheit (Erasmus von Rotterdam, Montaigne, Gracián) über die Aufklärungsphilosophen bis hin zu Schopenhauers „Ueber Schriftstellerei und Stil“ (1851), der es auf den Punkt bringt: „Was ein Mensch zu denken vermag läßt sich auch allemal in klaren, faßlichen und unzweideutigen Worten ausdrücken“.

Schon mit Friedrich Nietzsche, in der „Fröhlichen Wissenschaft“ 30 Jahre später, wird Verständlichkeit als oberste Norm relativiert und zur Strategie der selektiven Leseradressierung eingesetzt: „Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiß auch nicht verstanden werden“ – um durch gezielte Unverständlichkeit nur bestimmte Leser anzusprechen. Theodor W. Adorno, in einem Stück aus den „Minima Moralia“, setzt diese dialektische Konzeption von (Un)verständlichkeit fort, wenn er den Appell an Klarheit und Verständlichkeit als ideologische Korrumpierung des Denkens entlarvt: „Nur, was sie [die Menschen] nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich“. Folgerichtig wird der „Rat, man solle auf Mitteilung achten“, als „Verrat am Mitgeteilten“ durchschaut.

Auf andere Weise relativiert Niklas Luhmann, ein Theoretiker, dem ebenso wie Adorno der Ruch eines schwer verständlichen Stilisten anhängt, in einem kleinen methodologischen Text zur „Unverständlichen Wissenschaft“ von 1979 die Verständlichkeit: „Soll Verständlichkeit bedeuten: Verständlichkeit für jedermann? […] Gilt vielleicht, dass das Unverständliche nur aufgelöst werden kann durch Steigerung von Verständlichkeit und Missverständlichkeit zugleich?“ Diese Überlegungen stehen bereits im Kontext des Problems von Fach- und Wissenschaftssprache, von dem aus man den Streit der „zwei Kulturen“ (C. P. Snow) perspektivieren könnte.

So beleuchten weitere Beiträge neben der Literaturwissenschaft auch andere Fächer (Recht, Physik, Chemie), bis hin zu John Brockmans wissenschaftspublizistischer Option für eine „dritte Kultur“. Köstlich ist die Wissenschaftspersiflage „Vorstudien zu einer Theorie der Fußnote“ des Göttinger Juristen Peter Rieß. Verzichtbar dagegen ist ein Traktat von Ulrich Sonnemann aus den an Programm- und Reformschriften so reichen 1970er-Jahren, der leider dermaßen verquast daherkommt, dass man ihn eher als Objekt der Stilkritik in dieser Sammlung gerechtfertigt sieht. Ein locus classicus der geisteswissenschaftlichen Sprach- und Stilkritik sollte hier eigentlich nicht fehlen: Klaus Laermanns „Lacancan und Derridada“ von 1986, als die französische Theoriemode grassierte. Stattdessen ist der wenige Jahre später entstandene, nicht weniger engagierte Aufsatz „Die Lust an der Unklarheit und die Schmerzgrenzen des Verstehens“ des Autors wieder abgedruckt, wohl wegen der systematisch-allgemeineren Anlage. Ein echtes Fundstück bildet ein kleiner Text von Karl Popper, der im Umfeld des Positivismusstreits als Kritik am Jargon der Frankfurter Schule entstanden ist. Der „kritische Rationalist“ Popper übersetzt Stellen aus einem Habermas-Aufsatz – Satz für Satz – in schlichteres Deutsch; und dies ganz unpolemisch in redlichem Bemühen, ihrem Sinn auf den Grund zu kommen. Damit wäre das sarkastische Aperçu des Publizisten Michael Klonovsky über Habermas: „Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt außer ins Deutsche“ zumindest vordergründig falsifiziert – und obendrein noch vom Theoretiker der Falsifikation schlechthin.

Die Frage, ob schlechter Stil eine Untugend ist, die man sich abgewöhnen sollte, oder ob die Sprache so an den Gedanken gebunden ist, dass sie nicht einer größeren Verständlichkeit zuliebe „vereinfacht“ werden kann – mithin Karl Kraus mit seiner Sentenz recht hätte: „Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens“ –, wird sich auch mit dem Material dieser Anthologie nicht verbindlich beantworten lassen. Eine Klärung des Verhältnisses von Sprache und Denken wäre dafür vonnöten. Dafür geben die Texte aus fünf Jahrhunderten dem vorrangig auf Deutschland bezogenen stilkritischen Diskurs eine kulturhistorische Kontur; sie sind Materialien einer kritischen Reflexion des „teutonischen Wissenschaftsstils“ (J. Galtung). Dies verdankt sich nicht zuletzt der ausführlichen und (nicht nur stilistisch) gelungenen Einleitung des Herausgebers Norbert Rehrmann.

Titelbild

Norbert Rehrmann (Hg.): Schlechter Stil. Sprachkritik aus fünf Jahrhunderten.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2011.
208 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783650238566

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