Phantastisch und doch nicht alltäglich

Michael Rutschkys Lebensromane

Von Ulf GeyersbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulf Geyersbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neulich, ich entleihe meiner Lieblingsbibliothek ein Bändchen mit ballerinesk herausgeputztem Angstelltenbürgertöchterlein auf dem Cover. Sie müht sich, erträumte Grazie ganz leibhaftig vorzuführen. Allein, es wird ihr jenseits dieses Fotos, außerhalb dieser Bibliothek nie gelingen. So grausam ist die Außenwelt, in die ich das Büchlein ausleihe und aufklappe: "Lebensromane" beginnt, novellengleich, mit der harschesten aller Möglichkeiten, mit dem Ableben. Wie grausam in Freuds Terminologie das Realitäts- über das Lustprinzip triumphiert, daran bleibt vorneweg kein Zweifel: "Niemand kriegt, was er sich wirklich wünscht. Deshalb machen wir ja weiter. Wenn man nur ein einziges Mal bekäme, was man sich wirklich wünscht, man würde auf der Stelle mit dem Leben aufhören." Uff! Weiterwünschen. Weiterleben. Weiterlesen.

Der Autor Rutschky legt "Zehn Kapitel über das Phantasieren" in zehn Lebensromanen auf, genauer: im Künstler-, politischen, Gesellschafts- und historischen Roman, im Liebes-, Ritter-, Schauer-, Zukunfts-, Bildungs- sowie im Desillusionsroman. Namenspatron dieser Exkursionen in den lebensphantastischen Untergrund ist Freud, der 1909 den Aufsatz "Der Familienroman der Neurotiker" veröffentlichte und das Verhältnis des literarischen (= Innenwelt) zum gelebten Leben (= Außenwelt) erstmals umkehrte - die 'Umkehrung' ist die eine Lieblingsdenkbewegung Rutschkys.

"Was bitte ist ein Liebesroman? Wenn er und sie nicht zusammenkommen. Und wo kommen sie erkennbar nicht zusammen? In den Suchanzeigen der Großstadtmagazine." Hier spürt der Autor Rutschky leibhaftige Nachfahren Emma Bovarys oder der Madame de Merteuil "Gefährliche Liebschaften" auf, in Person des armen Achim und der unauffindbar fernen Studentin mit den schwarzen Haaren, Augen, Klamotten.

Die Umkehrung: Nicht die Literatur bietet qua Lektüre die Projektionsfläche ungelebter Phantasien, nein, das Alltagsleben folgt in der Geschichtenproduktion literarisch vorgeprägten Genres. Das Leben als Mosaik unterschiedlicher Romane und Erzählungen, der Literaturwissenschaftler als Alltagsanalysant und (Nach-)Erzähler jener gelebten Literaturformen. Hier zeigt sich Michael Rutschky, der Mitte der sechziger Jahre sein Germanistikstudium gegen das der Soziologie tauschte, leibhaftig - eben der ganz persönliche Lebensroman. Solche Lebensromane sind Rutschky samt Beispiele 'gelebter' Alltagsprosa, Muster der persönlichen Phantasiegenese und geben im Allerweltspanorama der bundesrepublikanischen Gesellschaft zugleich Aufschluß über deren Mechanismen, denen verschriftet-kanonisierte Literaturgenres zugrunde liegen. So lebe der Künstlerroman im kleinen Angestellten fort, der nachts den großen Roman zu schreiben gedenkt.

Als Rutschky 1978 mit "Erfahrungshunger" ein Stimmungsbild der 70er Jahre wagt, tauchten erste Spuren eines solcherart 'gewendet' verstehbaren Verhältnisses von Mensch und Literatur auf. Nicht Realitätspartikel sind aus der Literatur herauszulösen, sondern literarische Schemata in die Wirklichkeit hineinzuschmuggeln. Nur so - und der Autor beruft sich seither auf Adorno - seien notwendige, nicht beliebig nachzubildende Sinn- und Utopiepotentiale tradierbar.

"Was bitte ist ein politischer Roman? Wenn einer von der absoluten Macht träumt. Und wer tut das heute noch? Jeder, der jenseits jeder Macht, mithin machtlos ist." Rutschky führt uns die 32jährige Diplompädagogin und Fast-Arbeitslose Christa als Nachfahrin von Machiavellis "Der Fürst" oder von Nietzsches "Also sprach Zarathustra" vor. Ihr Machtmittel ist die Vorstellung, es den anderen bald aber ganz ordentlich zu zeigen.

Begriff und Konzept des Lebensromans greifen weit und drehen ganz lieblich im Kreis - der 'Kreislauf' ist die andere Lieblingsdenkbewegung des Phantasierenden. Heilte doch Freud meist Patienten der begüterten Oberschicht (von denen wir wenig wissen), deren Phantasien ausführlich von jenen Geschichten gefüttert waren, die ihnen die Literatur des 19. Jahrhunderts zuführte. Zuvor, vielleicht seit der Romantik, erschlossen etwa Tieck und E.T.A. Hoffmann die Literatur als Feld des Phantastischen, deren Früchte im Lebenskonzept der Psychoanalyse-Patienten erst so recht aufgingen. Rutschky alias Freud spürt nun jenen literarischen Äußerungsformen nach, die sich in den Tagträumen und Nachtbildern des Individuums abspielen - dem neuen Konzept des Phantastischen, das die romantische Phantastik beerbt. Der Alltagssoziologe kann so den (Nach-) Erzähler Walter Benjamin wieder hereinbitten - ein Zeitgenosse Freuds und dennoch dem romantischen Phantasiekonzept anhängend.

Das Büchlein ist erfreulich aktuell und beständig. 1988 der Zeitschrift "Merkur" anvertraut, tauchten zwei der Kapitel in dem Aufsatzband "Reise durch das Ungeschick" (1990) wieder auf. Sein Ursprung reicht in die 60er Jahre, die theoretische Basis bis zum Anfang des Jahrhunderts zurück und weiter zu Marx (1848) hinüber, der Zitatteil schweift gelegentlich in den Dreißigjährigen Krieg, manchmal in die Bibel, ins Altertum und wieder in die Gegenwart. Das Buch ist erstaunlich offen, Neuschöpfungen (der Adelsroman, der Videoroman usw.) laden zum Weiterschreiben ein. Michael Rutschky mischt mit "Lebensromane" einen Lebens-Theorie-Sozio-Literatur-Track ab, der uns ohrenschlackernd ins Leben entläßt.

"Was bitte ist ein Schauerroman? Wenn einer einen Schrecken bekommt, ohne daß ihm dabei Schaden widerfährt." Wenn also die Frau Salzmann, so der Autor Rutschky, bei einer wohligen Tasse Wintertee spätnachmittags - als eingeschworene Leserin der Bild-Zeitung - die brutal gefährlichen Geiselnehmer aus dem hessischen Langen womöglich blutrünstig in ihre gemütliche Wohnung stürmen sieht.

Rutschky flankiert sein Basiskonzept mit Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu, Eric Hobsbawm und Roland Barthes. Was die Frage, wie solch zauberhafte Bestandsaufnahmen des utopisch-magischen Alltagspotentials zu schreiben sind, kaum klären hilft. Der Mann bleibt erfreulich rätselhaft und ist ein wahrlich begnadeter Sinnschmuggler. Weshalb ich jetzt, bevor die Leihfrist abläuft, das Büchlein samt Covergirl wieder ins Regal einstelle, neben all die in ihm zitierten Werke.

Titelbild

Michael Rutschky: Lebensromane. Zehn Kapitel über das Phantasieren.
Steidl Verlag, Göttingen 1998.
304 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3882436069

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