Korrespondenzen wider Willen

Wolfgang Matz zeigt Berührungspunkte zwischen Walter Benjamin und Rudolf Borchardt

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Feld deutsch-jüdischer Kultur im 20. Jahrhundert erscheint nach wie vor als ein besonders aufgeladener Bereich der Kulturgeschichte. Dem nachträglichen Blick stellen sich dabei mitunter auch gegensätzliche Positionen aus dem historischen Abstand heraus in anderem Lichte dar. Ein aktueller, von Liliane Weissberg herausgegebener Sammelband des Fritz Bauer Instituts etwa untersucht unter dem Titel „Affinität wider Willen?“ das Verhältnis von Hannah Arendt zu Theodor W. Adorno und anderen Vertretern der Frankfurter Schule. Weniger werden hier die Differenzen in den Blick genommen, die aus der wechselseitigen Abneigung von Adorno und Arendt resultierten, als die Gemeinsamkeiten untersucht, die vor allem unter dem Druck der historischen Ereignisse zutage traten.

Ähnlich interessiert den Literaturwissenschaftler, Verlagslektor und Übersetzer Wolfgang Matz in seiner hier anzuzeigenden kleinen Studie, was Rudolf Borchardt (1877-1945) und Walter Benjamin (1892-1940) verband, die politisch entgegengesetzten Lagern angehörten. Die beiden haben sich nie persönlich kennen gelernt und sich keine Briefe geschrieben. Schon zu Lebzeiten aber weckte ihre „versäumte Beziehung“ die Neugier von Zeitgenossen. Während sich in der Korrespondenz Walter Benjamins einige aufschlussreiche Bemerkungen zu Borchardt finden, fehlen allerdings Quellen, die Borchardts Sicht auf Benjamin erhellten.

Gretel Karplus, die spätere Frau Theodor W. Adornos, schrieb Benjamin im Sommer 1936 einen Brief in sein Pariser Exil, in dem sie ihre Hochschätzung für Borchardt mitteilt und ihren Adressaten fragt, ob Borchardt nicht zu den Personen zu rechnen sei, die ihn beeinflusst hätten. Diese Frage lässt Benjamin unbeantwortet und kommt erst im Mai 1940 in seinem letzten Brief an Adorno aus Paris, bevor er sich ein weiteres Mal auf die Flucht begibt, die er nicht überleben wird, noch einmal auf Borchardt zu sprechen. In diesem Brief lobt Benjamin Adornos Essay über George und Hofmannsthal einschränkungslos als „das Beste, was Sie jemals geschrieben haben“. Das schließt auch eine kleine Charakterisierung Borchardts mit ein. Es ist nur eine Fußnote seines Essays, in der Adorno Borchardt pointiert würdigt und darin politische Differenz sowie zugesprochene Verdienste ausbalanciert: „Borchardts Kritik hat der Georgeschen Schule gegenüber den Standpunkt des Ultrarechten eingenommen. Er erlaubt zuweilen materialistische Durchblicke. Der bedeutende Aufsatz über die toskanische Villa entwickelt diese als Kunstform aus den ökonomischen Voraussetzungen der Pachtherrschaft.“

Benjamin kommentiert: „Ihre Medaillen auf Carossa und Rudolf Borchardt sind sehr glücklich geprägt.“ Matz hält diesen Brief aber vor allem deshalb für bedeutungsvoll, weil Benjamin hier noch einmal in eine ästhetische und philosophische Vergangenheit zurückgekehrt sei, die aus der Perspektive des Flüchtlings und Verfolgten im okkupierten Frankreich zwar weit entfernt zu liegen, zugleich aber als Teil eigener Vergangenheit und „als Vorgeschichte der unmittelbar bevorstehenden Katastrophe, von brennendem Interesse“ schien. Insbesondere einer Formulierung Benjamins schreibt Matz weitreichende Bedeutung zu: „Einmal in der Lage, Ihnen in einem Bereich zu begegnen, in dem ich mich ganz zu Hause fühle“. Was ist damit gemeint? Und was hat Borchardt damit zu tun? Darauf versucht die Studie von Matz eine Antwort zu geben.

Adornos Würdigung Borchardts, die Benjamin ausdrücklich unterschreibt, steht in offenem Gegensatz zu einer „der härtesten Verurteilungen Borchardts“ überhaupt, die ebenfalls von Benjamin stammt und in einem Brief an seinen Freund und Radiopionier Ernst Schoen aus dem Mai 1918 zu finden ist. Der Brief ist der Studie im Anhang beigegeben. Benjamin kommt darin zunächst auf den Umstand zu sprechen, dass er Borchardt während der letzten zwei Jahre wegen eines jungen Soldaten und Borchardt-Verehrers, der ihm und Gershom Scholem eine gemeinsame Sorge darstelle, „nicht aus dem Gesichtskreis verloren“ habe. Gemeint ist Werner Kraft (1896-1991), mit dem Benjamin 1921 den Kontakt abbrechen wird.

Von dieser persönlichen Situierung ausgehend beginnt Benjamin seine Polemik. Er attestiert Borchardt einen „Willen (kursiv) zur Lüge“: „Er hat statt des Herzens eine Kugel im Leibe.“ Ähnlich rätselhaft wie diese Metapher, die Matz im Titel seiner Studie anführt, ist auf den ersten Blick auch Benjamins These zu Borchardts Geschichtsverständnis: „Er macht die Geschichte, das Medium des Schaffenden zu dessen Organ. Dies ist nicht mühelos darzulegen, eben darum ist Borchardt vielleicht heute der einzig noch würdige Gegenstand zerschmetternder (kursiv) Polemik (wie er sie wunderbar am Georgeschen Kreis versucht hat) wäre nicht alles, was wesentlich Polemik ist, heute verworren.“ Politisch steht Borchardt auf der anderen Seite. Und noch 1934 erwähnt Benjamin Borchardt in seinem programmatischen Aufsatz „Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers“ in einer Reihe mit Maurras, Barrès, d’Annunzio, Marinetti, Kipling, Conan Doyle und Spengler, denen er allen Verrat an der Aufgabe der Intellektuellen vorwirft, Freiheit, Recht und Menschlichkeit zu lehren.

Matz umkreist sein Thema in zehn kurzen Kapiteln. Dabei gelingt ihm eine behutsame Rekonstruktion intellektueller Konstellationen, mit denen er seine Sicht auf Benjamin entfaltet. Auf seine Expositio mit dem Brief von Gretel Karplus folgt eine knappe Parallelisierung der beiden Lebensläufe seiner Protagonisten. Beide stammten aus Berlin und aus assimilierten jüdischen Elternhäusern, in denen jüdische Traditionen kaum noch eine Rolle spielten. Vor allem um 1918 herum und dann während der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre findet von Seiten Benjamins her eine Auseinandersetzung mit Borchardt statt.

In ihrem Zentrum kreist die Studie um die Aushandlung intellektueller jüdischer Lebensentwürfe unter den Bedingungen der Moderne, von Assimilation und Verfolgung. Als glücklich erweist sich dabei der biografisch orientierte Ansatz. So rekonstruiert Matz etwa die Dreierkonstellation Scholem, Benjamin und Werner Kraft um 1918 herum, die für Benjamins Wahrnehmung von Borchardt entscheidend ist. Ähnlich der Konstellationsforschung, wie sie von Dieter Henrich für seine Studien zum frühen Deutschen Idealismus in Jena und Tübingen entwickelt wurde, kommen hier Entwicklungen innerhalb eines gemeinsamen „Denkraums“ zur Anschauung. Andere Konstellationen sind die von Siegfried Kracauer und Ernst Bloch, Kracauer – Franz Rosenzweig – Martin Buber, Benjamin – Bloch – Kracauer sowie schließlich die von Borchardt und Buber. In einem aufschlussreichen „Exkurs“ zum Verhältnis von Messianismus, Geschichtsschreibung und der Buber-Rosenzweig’schen Bibelübersetzung zeigt Matz anhand dieser Debattenbeiträge eine von den meisten der genannten Protagonisten geteilte Gegenwartsanalyse, die von dem Bedürfnis nach einer Heilserwartung ausgeht.

An die neueren Studien zur Bedeutung Stefan Georges während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Thomas Karlauf („Stefan George. Die Entdeckung des Charisma“, 2007), Ulrich Raulff („Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben“, 2009) und Ernst Osterkamp („Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich“, 2010) anknüpfend nimmt Matz am Ende eine Einschätzung vor, die Benjamins Verteidigung Georges noch im Mai 1940 gegenüber Adorno als konsequent erscheinen lässt. Gegen Adornos materialistische Kritik am Begriff der „Haltung“, der dem Georgekreis von besonderer Bedeutung war, setzt Benjamin in dem erwähnten Brief: „Ich glaube nicht, daß es zu kühn ist, zu behaupten, daß wir da auf Haltung stoßen, wo die essentielle Einsamkeit eines Menschen in unser Blickfeld rückt.“

Benjamin sei bis zum Schluss „ganz zu Hause“ gewesen in jener vor allem von George, Hofmannsthal und Borchardt geprägten kunst-religiösen und ästhetischen Welt vor dem Ersten Weltkrieg. Dagegen habe es sich bei Benjamins Aneignung jüdischer und marxistischer Motive im Kern nur um eine „gestische“ gehandelt. Gegen diese Pointe von Matz’ Lektüre lässt sich allerdings einwenden, dass sich das je unterschiedlich problematische Verhältnis zum eigenen Judentum bei Borchardt und Benjamin kaum auf die von außen zugeschriebene jüdische Zugehörigkeit reduzieren lässt. Dass zudem Benjamin entgegen eigener Ankündigungen einer Beschäftigung mit jüdischer Tradition und Geisteswelt „beständig und systematisch aus dem Wege gegangen“ sei, scheint mir ebenfalls übertrieben. Mit Blick auf das Frühwerk zeigen neuere Studien wie die von Sandro Pignotti („Walter Benjamin – Judentum und Literatur. Tradition, Ursprung, Lehre“, 2009), dass sich Benjamin schon vor seiner Freundschaft mit Scholem intensiv mit Fragen jüdischer Tradition beschäftigt hat. Dennoch besteht kein Zweifel, dass die Diskussion um Benjamins „Denkraum“ dieser Studie wertvolle Einsichten verdankt, die nicht zuletzt den Blick erneut auf das prekäre Verhältnis von Selbstentwurf und Fremdzuschreibung bei deutsch-jüdischen Intellektuellen während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu richten hilft.

Titelbild

Wolfgang Matz: Eine Kugel im Leibe. Walter Benjamin und Rudolf Borchardt: Judentum und deutsche Poesie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
170 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835309463

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