Youporn und Doppelwhopper

Joachim Lottmanns Novelle „Hundert Tage Alkohol“ handelt von Liebe, Porno und Kapitalismus

Von Jana ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mindestens eine Sache beherrscht Joachim Lottmann perfekt. Seine literarische Größe zeigt sich am Einsatz seines wohl beliebtesten und allgegenwärtigen rhetorischen Werkzeugs – der Ironie. Sie macht den originellen Witz der Erzählung aus und untergräbt zugleich permanent die Möglichkeit, Lottmanns Hauptfigur ernst zu nehmen. Eine Charakterisierung des Ich-Erzählers, einem Autor und Journalisten aus Berlin-Mitte, fällt schwer: Ist er ein arroganter, sittenloser Kultur-Snob oder doch eher ein feinsinniger, beinahe romantischer Schriftsteller, der den verfallenen Werten der Adenauer-Ära hinterher trauert? Lottmanns Talent liegt darin, mit Hilfe des durchweg ironischen Tonfalls den Leser in ein überaus geistreiches Spiel zwischen Polemik und vergnüglichen Spott zu führen.

In Berlin wird der Journalist von seiner Kollegin „Groupie“, wie er sie nennt, beschuldigt, sie am Telefon zu sexuellen Handlungen genötigt zu haben. Dies bestreitet er jedoch und gibt dafür von nun an der „Pornografisierung von Staat und Gesellschaft im Zeitalter des eskalierenden globalen Turbokapitalismus“ die Schuld. Diese habe nämlich dafür gesorgt, dass zwischenmenschliche Nähe geradezu zwanghaft mit inhumanem und kommunikationslosem „Porno-Sex“ gleichgesetzt würde. Der Porn-Style, der jede Altersklasse und alle Schichten zersetzt habe, ist für ihn so fatal wie Rechtsradikalismus, Spießbürgertum und Kapitalismus. Gegen die Verwechslung von Liebe und pornografischer Sexualität kämpft der Ich-Erzähler von nun an auf seiner Flucht in die Schweiz und später nach Wien. In der Nachfolge von Roman Polanski, Jörg Kachelmann, Bill Clinton und zuletzt Dominique Strauss-Kahn lässt er es sich allerdings nicht nehmen, auf diesem Kreuzzug gegen die Pornografisierung gnadenlos alle Männer und vor allem die Frauen, die ihm begegnen, nach deren Attraktivität zu bewerten.

Seine Reise gleicht dem Tagebuch eines pubertären Schülers, der mit Hilfe einer Bewertungsskala von eins bis zehn alle Klassenkameraden als „hot or not“ klassifiziert. In einem Schweizer Wirtshaus trifft er somit auf heiße „Eva-Braun-Fräuleins“ mit „supererotischem“ Dialekt. In einer psychiatrischen Anstalt, in welcher er zunächst als Gast wohnt, freut er sich über die überraschende physische Attraktivität einer „jungen Idiotin“, seiner Zimmernachbarin. In Österreich angekommen gibt er gnädig zu, eine besonders hässliche „osteuropäische Künstlerin“ trotz ihrer krummen Nase, der winzigen Augen, des fliehenden Kinns und der porösen, pickligen Haut zu mögen. Stets ist Lottmanns selbstgefälliger Protagonist dabei völlig überzeugt von der eigenen Beobachtungsgabe und dem schriftstellerischen Talent. „Brilliant geschrieben! Respekt!“, freut er sich über seine literarischen Produktionen.

Die von ihm angeblich so verachtete Sexualisierung des Alltags und der zwischenmenschlichen Beziehungen setzt er gekonnt zum eigenen Vorteil ein. Um seinen koreanischen Mitbewohner auf dem österreichischen Schloss Laudon zu verjagen, der ihm Erdbeeren, Blumen und ein Milka-Osterei schenken möchte, nutzt er seine rhetorischen Fähigkeiten und stellt ihm überaus anzügliche Fragen – in der Annahme, dass Asiaten mit einer solchen Direktheit nicht umgehen könnten: „,Danke, Jeong-Hoon, für die Erdbeeren. Danke. Vielen Dank. Ich danke dir, Jeong-Hoon. Die Erdbeeren sind schön. Und Grüße von Rajna soll ich dir sagen. Du weißt, die kleine Bulgarin mit den schönen Beinen. Sie mag dich sehr. Magst du sie auch?‘ ,W-wie bitte?‘ ,Rajna! Die junge Malerin. Sie sieht wirklich sehr gut aus, findest du nicht?‘ ,Oh sie… ich danke dafür. Danke schön dafür.‘ ,Dass so eine junge Frau so herrliche Brüste haben kann! Das gibt es in Korea nicht so oft, nicht wahr?‘“

Die sittlichen Tabubrüche der deutschen Gegenwartsgesellschaft, die gerade noch verständig diagnostiziert und auch verurteilt wurden, werden im nächsten Moment von Lottmanns Protagonisten mit vollem Eifer wiederholt. Es ist gar kein moralischer Mensch, der hier erzählt, sondern einer, der sich der Unmöglichkeit des widerspruchfreien Handelns in unserer Zeit vollständig bewusst ist. Also nutzt er die soziokulturellen Missstände für seine eigenen Zwecke und schreibt Bücher mit dem Titel „Porno“, wohlwissend, wie anziehend dieses Thema auf Verleger und Leser wirkt. Der von ihm beklagten Gleichstellung von Sex und Kapitalismus begegnet er nicht etwa mit Idealismus und Askese. Als er ein Werbeplakat sieht, das eine „junge Schönheit“ mit „prachtvollen fetten Titten“ und einem Doppelwhopper abbildet, bekommt er Appetit und kauft sich bei McDonalds ohne zu zögern eben diesen Burger.

Er vergisst auch nicht, sich über seinen bisherigen Wohnort enthusiastisch zu beschweren. Die Hauptstadt Deutschlands, so beklagt er sich bei einer Bekannten in Wien, sei ein Ghetto für Dauerarbeitslose und Trunkenbolde. „Da laufen jetzt drei Millionen Menschen herum, feiern in Clubs, reden über Sex und verblöden. Da kann keiner mehr die Miete bezahlen.“ Nie ist Lottmanns Ich-Erzähler ganz im Geschehen aufgelöst. Er ist immer auch als distanzierter Kommentator präsent, der meint alle seine Mitmenschen durchschauen und manipulieren zu können. Es sind die rhetorische Gewandtheit und seine Reflektionsfähigkeit, die es ihm erlauben, unschlagbar witzig und dabei erleichternd unmoralisch zu sein.

Lottmann beschreibt eine Zeit, die von ihren selbst geschaffenen Alltags-Mythen verschlungen wird. Von der linken intellektuellen Akademikerin bis zum medienabhängigen Teenager ist man in Deutschland der Fantasie erlegen, dass die Mitmenschen alles und jeden bloß nach erotischen Maßstäben bewerten würden. Kaum einer traut sich, andere Werte dagegen zu halten und zuzugeben, dass nicht allein Sexualität seine persönliche Beziehungen steuert. So diagnostiziert Lottmann trocken: „Die Gesellschaft ließ sich einfach die Liebe nehmen.“ Stattdessen gelten offen frivole Frauen wie „Groupie“ als emanzipiert – obwohl sie sich dem Zwang zur Pornografie unkritisch ausliefern. Den Medien schreibt der Autor dabei eine Hauptrolle zu. Virtueller Sex würde im Internet auf Webseiten wie „Youporn“ grenzenlos exerziert, reale Berührungen dagegen scharf verurteilt. Sex wird zu einem verbal ausgeführten Akt, ist in die Alltagssprache übergegangen und in Werbung, Film und Fernsehen zum konventionellen Konsumgut geworden. Und tatsächlicher, realer Sex muss pornografisch sein. Ein Mann wie Lottmanns Protagonist, der am Telefon von zwischenmenschlicher Nähe spricht, wird da von einer „Sex-and-the-City-Karrierefrau“ als Lüstling angeklagt, weil sie bloß eine sexualisierte Sprache versteht.

Die Zustände, die Lottmann ausmalt, stellen auch die Frage nach einem neuen Männerbild. Sind die Männer überhaupt noch die „Schweine“, wie in dem Ohrwurm, der dem Protagonisten durch den Kopf schwirrt? Die Geschlechterrollen scheinen sich vertauscht zu haben. In diesem „heraufdämmernden Matriarchat“ beschließt der Ich-Erzähler letztlich sich eine Ehefrau zu suchen. Wie polemisch seine Ausführungen auch hin und wieder wirken – der schelmische Ton entfernt Lottmanns kurzweilige Erzählung „Hundert Tage Alkohol“ vom Pamphlet und macht sie zu einer ungezwungenen, erheiternden Lektüre.

Titelbild

Joachim Lottmann: Hundert Tage Alkohol. Kein Roman.
Czernin Verlag, Wien 2011.
163 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783707603774

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