Vom Ameisenlöwen zum Platzhirsch

Uwe Meves setzt in seiner Edition zur „Deutschen Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert“ einen neuen Grundstein für die fachgeschichtliche Forschung

Von Mark-Georg DehrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mark-Georg Dehrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einem Ameisenlöwen dürfte der Germanist in der Geschichte der Disziplin nicht allzu oft verglichen worden sein. Das kuriose Insekt kannte man zwar seit der Antike. Aber sein so faszinierendes wie unheimliches Beuteverhalten erschien nur wenigen Naturkundigen und Philosophen passend, um allegorisch die eigene Arbeit zu beschreiben. Genau dieses Bild wählt aber Gustav Freytag 1840, um in einem Brief an den Preußischen Cultusminister Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein die Lage der Germanistik im preußischen Breslau zu beschreiben: „Auch ist die deutsche Philologie, ehrlich gesagt bis jetzt noch eine sehr aristokratische Frau, die den Zugang zu sich vielfach erschwert und dadurch manchen schüchternen Musensohn abschreckt; und deßhalb steht es hier in Breslau allerdings noch so, daß wir armen Germanisten aus unsern Büchern u. Heften einen Trichter bauen und wie Ameisenlöwen lauern müssen, bis irgend ein Zuhörer in unsern Kreis hineinfällt. Dafür aber halten wir ihn auch fest.“ Das ist ein abenteuerlicher Vergleich – und ein vielleicht noch abenteuerlicherer Bildbruch, denn warum empfiehlt sich gerade das garstige Tier als galanter Hofmeister, der die schüchternen Musensöhnen lehren könnte, wie einer Dame die Cour zu machen sei?

Dass die rhetorische Kühnheit Freytag bei seinem Bittgesuch genützt hat, darf bezweifelt werden. Aber das Bild gibt einen aufschlussreichen Einblick in die Geschichte der Germanistik als Disziplin. Aus heutiger Sicht erscheint es erklärungsbedürftig. Gegenwärtig ist die deutsche Philologie fern davon, kunstreich auf jeden Studenten lauern und ihn fest umklammern zu müssen, damit er nicht wieder entschlüpft. Näherliegend wäre der Vergleich mit einem Platzhirsch. Das Fach ist selbstverständlicher Teil des universitären Kanons, innerhalb der philosophischen Fakultäten hat es nicht selten die höchsten Studentenzahlen. In der Schule steht ‚Deutsch‘ neben der Mathematik vielfach im Zentrum. Die Gegenwart resultiert nicht zuletzt auch aus dem Prozess der Fachkonstitution und Institutionalisierung, der bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Er vollzog sich jedoch keineswegs schnell, sondern mit einer zunächst erstaunlichen Langsamkeit. Dass der Germanist Freytag sich als Ameisenlöwe fühlt, zeigt nicht nur, dass sich die Suche nach Studenten schwierig gestaltete und einer ausgeklügelten Beutetaktik bedurfte. Sinnfällig wird auch die mangelnde Attraktivität, die das Fach für Studierende hatte.

Uwe Meves vertritt seit mehr als 20 Jahren die These von der langsamen Institutionalisierung des Faches im 19. Jahrhundert. Seine wichtigen Studien konnten plausibel belegen, dass dieser Prozess zwar am Anfang des Jahrhunderts begann, aber erst an seinem Ende als abgeschlossen gelten konnte. Meves’ Befund ruhte auf einer immensen Fülle von Texten, Briefen und Dokumenten aus der Verwaltung und inneren Organisation der Universitäten, die in Archiven zugänglich waren, nicht aber im Druck. Eine reiche Auswahl daraus, beschränkt auf die Preußischen Universitäten, hat er jetzt nach fünfundzwanzigjähriger Arbeit in einer stattlichen Edition vorgelegt.

Es sei gleich vorweggenommen: Das tausendseitige Werk erschließt die 470 gedruckten Texte vorbildlich durch Einführungen, Kommentare, Personen-, Werk- und Ortsregister. Es lässt sich hervorragend benutzen, und vor allem: Es ist von unschätzbarem Wert für die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Preußen, ja für die preußische Universitätsgeschichte insgesamt; denn die Frage nach der Stellung der Germanistik in der Philosophischen Fakultät betrifft schließlich erstens ihr Verhältnis zu den anderen dort versammelten Fächern, zweitens aber auch die Organisation und Verwaltung der Universitäten insgesamt. Darüber hinaus bietet der Band eine materialreiche Grundlage, um die Bedeutung der germanistischen Wissenschaftsgeschichte für die Literaturgeschichte zu stärken. Nicht selten wird die Fachgeschichte in der Germanistik als Disziplin dritter Potenz angesehen und, zugunsten der Literatur, beiseitegeschoben. Der Wissenschaftshistoriker erscheint manchen als moderner Ameisenlöwe, der an der Dichtung interessierte Musensöhne in die papierenen Trichter abseitiger Fragen locken will. Meves’ Bände aber legen auch ein Fundament für die bildungsgeschichtliche ‚Erdung‘ der zeitgenössischen Dichtung. Denn kaum einer der Autoren des 19. Jahrhunderts ist nicht durch die Institutionen gegangen, deren Verhandlungen und Entscheidungen hier sichtbar werden. Nicht wenige dieser Autoren bewegten sich auch nach dem Studium im Resonanzraum der Universitäten, sei es durch Debatten und Briefwechsel mit Gelehrten, sei es dadurch, dass ihre Werke Gegenstände aufnahmen, die zum Bereich der universitären Fächer zählten; sei es schließlich, dass sie selbst eine wissenschaftliche Laufbahn an der Universität anstrebten.

Die Fülle, die die Bände bieten, kann in einer Rezension nicht erschlossen werden. Der erste, umfangreichste Teil druckt Dokumente aus dem Umfeld der Einrichtung, Besetzung und auch Nicht-Besetzung germanistischer Professuren. Sie betreffen die Universitäten Berlin, Bonn, Breslau, Greifswald, Halle-Wittenberg, Königsberg, die Akademie Münster und die Universität Marburg, die 1866 preußisch wurde. Hier kann man beobachten, wie sich die Protagonisten der Germanistik institutionell engagierten: Dokumentiert sind etwa die Berufungen Friedrich Heinrich von der Hagens, Karl Lachmanns, Hans Ferdinand Maßmanns, Moriz Haupts, Karl Simrocks und Wilhelm Scherers. Die Beurteilungspraxis der Fakultäten und die Berufungspolitik der Verwaltung lassen sich genauso nachvollziehen wie die Konkurrenzkämpfe zwischen einzelnen Philologen und verschiedenen Schulen. Oft wird die politische Dimension deutlich, die sich mit dem Staatsdienst verband: Ausführlich ist etwa dokumentiert, wie Simrock, 1830 wegen eines Gedichtes aus dem Staatsdienst entlassen, 1850 zur Entschädigung auf eine vakant gewordene Professur in Bonn berufen wird. Neben der veränderten politischen Lage ist hier auch eine neue Interpretation des Gedichtes ausschlaggebend, in der der Unterstaatssekretär (und Paulskirchenabgeordnete) Friedrich Theodor Müller die Unbedenklichkeit der einst inkriminierten Verse feststellt. Simrocks Anstellung führte zu Absagen für andere Bewerber. Auch ihre Verfahren sind dokumentiert, so etwa ein ausführliches Schreiben Heinrich Düntzers und die wenig günstigen Urteile der Philosophischen Fakultät über Hermann Hettner.

Schon damals war es eng in der universitären Wissenschaft. Seit den 1840er-Jahren mussten dies nicht zuletzt die Privatdozenten erfahren. Gustav Freytags erfolglose Versuche der Bewerbung um eine Professur klangen bereits an. Vier Jahre nach seinem Brief an den Minister warf er das Handtuch. Die Stelle, auf die Freytag in Breslau gehofft hatte, war doch nicht frei geworden. Als Journalist, Romancier und Kulturhistoriker außerhalb der Universität gewann er in den folgenden Jahren Ruhm und Auskommen – und dies in einem Maße, das die gescheiterte wissenschaftliche Laufbahn mehr als kompensierte. Auch andere Habilitationsverfahren werden nachvollziehbar, so etwa dasjenige Karl Lachmanns (1816). Ausführlich dokumentiert sind die Versuche von Robert Prutz, sich in Halle zu habilitieren. Hier kommt es zu Absagen, die politisch motiviert sind. Erst nach 1848 führt ein umfangreiches Bittgesuch, in dem Prutz seinen Werdegang schildert und seine politischen Auffassungen relativiert, zum Erfolg. Obwohl sich Heinrich Leo in verschiedenen Gutachten vehement gegen Prutz ausspricht, wird er unter Auflagen auf eine außerordentliche Professur berufen.

Die Einrichtung von Lehrstühlen ist ein wichtiges Moment für die Konsolidierung eines Faches innerhalb der Universität. Ein zweites aber ist seine Stellung im Studium. Die Dokumente des ersten Teils der Edition führen durchgehend vor Augen, dass die Deutsche Philologie nicht im Zentrum eines Studiums an der Philosophischen Fakultät stand. Befunde wie der von Freytag werden immer wieder von ministerieller Seite gegen die Einrichtung oder Wiederbesetzung eines Lehrstuhls angeführt. Als Gegenargument wird regelmäßig die nationale Pflicht vorgebracht, die die Pflege und Vermittlung der eigenen Überlieferung gebiete. Listen von Veranstaltungen einzelner Dozenten dokumentieren die geringen Hörerzahlen germanistischer Veranstaltungen. Nicht selten blieben die Studenten ganz aus, und die Vorlesungen kamen nicht zustande.

Der Grund dafür liegt in der Struktur des Studiums an der Philosophischen Fakultät. Denn man schrieb sich, anders als heute, nicht für ein oder zwei bestimmte Fächer ein, sondern konnte alle Veranstaltungen besuchen. In der Wahl war man, zumindest was inneruniversitäre Bestimmungen betraf, frei. Das Studium erlaubte zwar Spezialisierungen, gleichzeitig aber sollte es den Studenten einen umfangreichen Wissenshorizont vermitteln. Die germanistischen Veranstaltungen waren im 19. Jahrhundert weit entfernt davon, ein ausschließendes Studium anbieten zu können. Personell war das Fach – wie die meisten anderen in der Philosophischen Fakultät – zu gering besetzt; und auch der zeitgenössische Begriff des Wissens ließ eine solche Konzentration nicht als wünschbar erscheinen. Es entspricht dem Üblichen, wenn die Philosophische Fakultät der Berliner Universität 1857 die Bewerbung eines Kandidaten um eine Professur ablehnte, weil er nicht auch „in der classischen Philologie […] heimisch“ war. Diese galt nach wie vor als wichtigste Grundlage eines Studiums an der Philosophischen Fakultät. Nicht zuletzt war dies der Fall, weil die Ausbildung von Lehrern an höheren Schulen nach 1800 zu deren Kernaufgabe aufgestiegen war, die Klassische Philologie aber die zentralen Wissensbestände lieferte, die ein Lehrer in den staatlichen Lehramtsprüfungen vorweisen und später – zumindest an Gymnasien – auch vermitteln musste.

Diese Seite des Institutionalisierungsprozesses dokumentiert Meves in zwei weiteren Abteilungen. Die erste zeigt die Einrichtung von germanistischen Seminaren an den Philosophischen Fakultäten. Die Institution des Seminars bot besonders hoffnungsvollen Studenten neben den normalen Vorlesungen die Möglichkeit zu philologischer Praxis, zur Abfassung von schriftlichen Hausarbeiten und zu einer dialogischen Einübung in die fachspezifische Wissenschaftspraxis mit dem Seminarleiter. Sie ist deshalb bedeutend, weil seine Einrichtung die Konzentration eines Studenten auf das Fach ermöglichte und einforderte, dem das Seminar gewidmet war. Insofern kann es nicht verwundern, dass sich die Etablierung von germanistischen Seminaren, anders als solchen der Klassischen Philologie, flächendeckend erst in der 1870er-Jahren vollzog. Hier begann sich das Fach insofern zu konsolidieren, als es erstens zu einem notwendigen Gegenstand der Lehrerausbildung aufstieg und sich zweitens langsam auch institutionell die Diversifizierung der Studierenden in voneinander abgetrennte Fächer abzeichnete.

Der Mangel an Studierenden in den vorherigen Jahrzehnten hatte also eine starke institutionelle Grundlage. Gefestigt wurde sie durch die Bestimmungen und die Praxis der Lehramtsprüfungen, die der Staat, nicht aber die Universität selbst abnahm. Uwe Meves hat in seinen früheren Forschungen als erster herausgearbeitet, dass für die geringen Studentenzahlen neben den Prüfungsordnungen auch die Besetzung der Prüfungskommissionen ausschlaggebend war. Im dritten Teil seiner Edition legt er nun entsprechende Dokumente vor. Zwar bestimmte die staatliche Prüfungsordnung seit 1831, dass die Kandidaten für das höhere Lehramt auch über Grundwissen in der Deutschen Philologie verfügen sollten. Aber erstens stand dieser Gegenstand neben anderen Wissensbereichen, die sie beherrschen mussten, allen voran der Klassischen Philologie; und zweitens waren in den Prüfungskommissionen bis in die 1860er-Jahre hinein in der Regel keine Germanisten vertreten, die den Gegenstand hätten prüfen können. Die Studenten wussten das und richteten ihr Studium meist auf das für die Prüfungen Notwendige aus. Als das Prüfungsreglement 1866 neu formuliert wurde, hatte sich zwar die Besetzung der Prüfungskommissionen verändert; aber die staatlichen Anforderungen machten nun die Beherrschung der Deutschen Philologie zu einem fakultativen Gegenstand, der alternativ durch im engeren Sinne philosophische Kenntnisse ersetzt werden konnte. Wie uneinheitlich das Wissen der Studenten noch um 1860 war, zeigt etwa eine lange Reihe von Prüfungsprotokollen der Kommission in Münster, die Meves abdruckt. Nur die wenigsten Kandidaten erlangten eine uneingeschränkte facultas docendi, die ihnen den Deutschunterricht bis zur höchsten Klasse des Gymnasiums erlaubt hätte.

Meves’ Edition dokumentiert erstmals in der Breite die verschiedenen Aspekte des Institutionalisierungsprozesses der Germanistik im 19. Jahrhundert. Sie erlaubt wichtige Einsichten, und das gebotene Material wird sich nicht so rasch erschöpfen lassen. Der Band bildet einen Grundstein für alle germanistischen Forschungen mit einem wissenschafts- oder bildungsgeschichtlichen Interesse. Mit seiner Hilfe lassen sich nun auch besser die offenen Fragen identifizieren, zu denen bislang noch kaum breitere Quellenstudien oder Dokumentationen vorliegen. Eine erste betrifft die studentische Arbeit in Vorlesungen und Seminaren, das heißt die wissenschaftliche Sozialisation mit allen ihren Praktiken, etwa dem Schreiben von Arbeiten oder den Formen und Verfahren des mündlichen Austauschs. Eine zweite Frage richtet sich auf das reale Studienverhalten in der philosophischen Fakultät. Eine breite Dokumentation und Analyse von studentischen Studienverläufen wurde bisher nicht geleistet, und doch wäre auch sie ein wichtiger Indikator für den zeitgenössischen Wissensbegriff und die Frage nach der Konsolidierung der verschiedenen Fächer. Denn, so könnte man argumentieren: Ein Fach ist dann institutionalisiert, wenn es ein vollständiges eigenes Curriculum aufgestellt hat, das eine weitgehende Eigenlogik seiner Methoden und Gegenstände behauptet. Und wäre dann nicht der letzte Indikator für die Konsolidierung eines Faches der Ruf nach Interdisziplinarität und die Forderung, seine festen Grenzen (wieder) zu überwinden?

Titelbild

Uwe Meves (Hg.): Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert. Dokumente zum Institutionalisierungsprozess.
De Gruyter, Berlin 2010.
1312 Seiten, 299,00 EUR.
ISBN-13: 9783110179286

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