Aporien der Apokalypse

Claudia Gerhards untersucht Utopien Kubins und Jüngers

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über fast 25 Jahre hinweg wechselten Alfred Kubin und Ernst Jünger Briefe und nahmen gegenseitig interessiert ihre Werke zur Kenntnis. Dennoch sind die Bezüge zwischen ihnen bislang wissenschaftlich kaum untersucht. In diese Lücke stößt Claudia Gerhards mit ihrer Kölner Dissertation "Apokalyse und Moderne". Sie konzentriert sich dabei auf Jüngers Frühwerk und auf Kubins einzigen Roman, "Die andere Seite", dem Jünger zwanzig Jahre nach Erscheinen einen Aufsatz gewidmet hat.

Zwei Ziele verfolgt Gerhards: Zum einen will sie die Kubin- und die Jünger-Forschung fortführen, indem sie das Verhältnis der zwei Autoren zur Apokalyptik untersucht. Zum anderen möchte sie die literaturwissenschaftliche Apokalypse-Forschung um einen neuen theoretischen Ansatz bereichern und stützt sich deshalb auf systemtheoretische und diskursanalytische Überlegungen.

Um es vorwegzunehmen: Gerhards erreicht ihr erstes Ziel zum Teil - ihr Buch ist gerade dort innovativ, wo sie gegenstandsbezogen an Texten arbeitet. Die methodischen Überlegungen kommen dagegen breit und schwerfällig daher. Mit allerlei name-dropping von Max Weber über Foucault bis Luhmann und unzähligen kleinere Größen sind sie auf mehr als ein Viertel ihrer Darlegungen aufgebläht, bis Gerhards sich endlich einem literarischen Text zuwendet. Die Merkmale der Moderne, die derart gewonnen werden - Systemdifferenzierung, Rationalisierung, Technik - sind einsichtig, für den Vergleich brauchbar, doch weitgehend unumstritten. Es hätte genügt, sie kurz zu nennen.

Kubins "Die andere Seite" (1909) interpretiert Gerhards weitgehend mithilfe einer Opposition, die sie aus den Apokalyse-Forschungen Klaus Vondungs gewinnt: das Verhältnis von Defizienz und Fülle. Das "Traumreich", in das Kubin seinen Erzähler versetzt, ist unübersehbar ein Gegenentwurf zur erkalteten Moderne: eine hierarchische, wenig effiziente, technisch bewusst rückständige Ordnung, die in ihrem Konservativismus unmittelbares Erleben und Fülle verspricht. Gerhards arbeitet überzeugend heraus, dass nicht der Einbruch der Moderne in Gestalt des amerikanischen Milliardärs Bell den Untergang herbeiführt, sondern der Umschlag von Fülle in Überfülle. Unmittelbarkeit bedeutet Distanz- und Identitätsverlust, die Träumer können sich gegen bedrohliche Vorstellungen nicht mehr wehren, träumen und erleben so ihre eigene Apokalypse.

Gerhards verdeutlicht so, dass Kubins Buch quer zu den Hauptströmungen steht, in die sie die modernen Apokalypsen zuvor eingeteilt hatte: der "klassisch-modernisierten Apokalypse", die das Reich der Fülle durch einen radikalen Schnitt mit der Gegenwart herbeisehnt, und der "inversen Apokalypse", die die vergangene Fülle unwiderruflich untergehen sieht. Kubin unterscheidet sich von beiden, indem der Fülle-Zustand selbst fragwürdig wird.

Leider verschenkt Gerhards die Möglichkeit, diese selbstreflexive konservative Utopie genauer zu untersuchen. Die Schilderung kulturhistorischer Begleiterscheinungen überwuchert ihr Kapitel; am Ende weiß der Leser viel über okkultistische Forschung und Spiritismus um 1900 und darüber, wie auf diesem Wege eben doch Technisches ins Traumreich eindringt. Genuin literaturwissenschaftliche Fragestellungen bleiben dagegen randständig. Dabei wäre auch kulturgeschichtlich gerade interessant, aus welcher Perspektive die Apokalypse der Vormoderne erscheint - angefangen von der Charakteristik des Ich-Erzählers, der sich doch gleich zu Beginn als eher unzuverlässiger Geselle vorstellt. Wesentlich wären gerade bei einem Autor, der vor allem Zeichner ist und sehr plastisch schildert, der Blickwinkel auf das Geschehen, das Verhältnis von Ereignis und Beschreibung. Hier könnte Literaturwissenschaft die Kenntnis von den Diskursen aus eigenen Mitteln bereichern, statt scheinbar auf der Höhe der Zeit sich mit der Präsentation kulturgeschichtlichen Materials zu begnügen.

Dieser Einwand gilt ebenso für den umfangreicheren Teil zu Jüngers Frühwerk. Das Hauptergebnis jedoch überzeugt: Auch Jünger lässt sich nicht bruchlos in die vorgegebene Gruppierung der Apokalypsen einordnen. Er denkt "klassisch-modernisiert", indem er eine ideale Ordnung in eine Zukunft nach der nahen Katastrophe projiziert. Dennoch verspricht er kein Reich der Fülle. Die Moderne soll mittels Überbietung bewältigt werden. Jüngers neuer Mensch, der im berüchtigten "Arbeiter" von 1932 besonders plastisch wird, ist durch funktionale Kälte gekennzeichnet - und von bürgerlichen Konventionen der Vergangenheit nicht mehr berührt.

Allerdings arbeitet Gerhards die Widersprüche in Jüngers Konzeption deutlich heraus. Der Hauptvorwurf Jüngers an den Bürger lautet ja, er wolle Sicherheit und drücke sich vor dem Elementaren. Jüngers hierarchisches Ordnungsdenken ist nun seinerseits, und mehr als jedes liberale Modell, vom Streben nach Sicherheit und Stabilität geprägt; es droht der Ausfall der Apokalypse. Jünger überdeckt dies, indem er eine Eigenschaft apokalyptischer Texte seit der Offenbarung des Johannes aufgreift: der Apokalyptiker ist meist auch Zeichendeuter. Freilich deutet Jünger nur an, dechiffriert niemals präzise. So bleiben Katastrophe und Neuordnung stets hinreichend vage, um nicht sofort als Abbilder des Alten erkennbar zu sein. Zudem bleibt die Hierarchie gewahrt, stellt das geheime Wissen den Apokalyptiker in die Nähe der Herrschaft.

Der diskurstheoretisch geprägte Schlussteil fällt hinter das Erreichte zurück. Gerhards untersucht, wie Jünger und wie der nationalsozialistische Publizist Meinhart Sild Kubins Roman rezipierten. Sie sieht den abweichenden apokalytischen Diskurs vom hegemonialen Diskurs absorbiert: Jünger und Sild nehmen Kubin für eigene Positionen in Anspruch, ohne sich groß um Details des Romans zu scheren. Allerdings weicht, wie Gerhards zuvor selbst zeigte, auch Jünger vom üblichen apokalyptischen Schema ab; und Äußerungen nationalsozialistischer Kulturfunktionäre sollten stets im Konfliktfeld der verschiedenen Kulturpolitiken im deutschen Faschismus gelesen werden. Besonders gegenüber solchen politischen Konkretionen bleibt eine allein aufs Themengeschichtliche fixierte Diskursanalyse allzu abstrakt.

Zu abstrakt ist vielleicht schon das Kapitel zu Jünger: Sein Frühwerk ist wohl kaum derart einheitlich, wie Gerhards es zeichnet. Immerhin geht es um recht verschiedenartige Texte, die im Verlauf von mehr als zehn Jahren entstanden sind. Die Ergebnisse treffen für den "Arbeiter" sicher zu. Auch die früheren Kriegsschriften propagieren schon einen Kult der Kälte, doch kennt Jünger in ihnen zudem den Rausch der Schlacht - hier sind sicherlich Elemente der Fülle zu finden. Überhaupt nicht angesprochen ist bei Gerhards die Frage, in welcher Weise traditionelle Diskurse rechter Politik wie Nation, Kriegerehre mit der modernen Apokalypse verknüpft sind. Jüngers Schaffen ist work in progress, ist ein Versuch, in immer neuen Werken und nicht zuletzt in immer neuen Fassungen vorhandener Werke seine Fragen stets anders und stets auf die gewandelte Gegenwart bezogen zu erörtern. Er dürfte, bei aller Stilisierung, die er jahrzehntelang betrieb, sich seiner Widersprüche bewusst gewesen sein. Mit weniger Theorie und engerem Textbezug hätte Gerhards die Fallen und die Wirkkraft eines apokalyptischen, modernistischen Konservativismus präziser zeigen können. So aber bleibt der Gesamteindruck zwiespältig: Sacherkenntnis und Randständiges, Textanalyse und Methodenverliebtheit halten sich die Waage.

Titelbild

Claudia Gerhards: Apokalypse und Moderne. Alfred Kubins "Die andere Seite" und Ernst Jüngers Frühwerk.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1999.
200 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826016920

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