Paradise Lost

Die frühen Kindheitserinnerungen von Catherina Rust, dem „Mädchen vom Amazonas“, mahnen an unser eigenes verlorenes Paradies

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Idyllisch-paradiesisch mutet sie zunächst an, die Vorstellung, ein weißes, blondes Mädchen habe seine Kindheit (genauer: seine Vorschulzeit) unter Amazonas-Indianern verbracht. Fernab von jeglicher Zivilisation und damit auch fernab von allem Bösen. Im Einklang mit der Natur, nur dem Tag-Nacht-Rhythmus unterworfen, und bewahrt vor den Giften der westlichen Welt. Doch halt: Wie um alles in der Welt kommt ein kleines, weißes, blondes Mädchen in ein indianisches Amazonas-Dorf? Sofern es nicht von Affen geraubt und von Indianern in letzter Minute aus dem Fluss gefischt wurde, muss es der Beweis sein, dass besagte Amazonas-Indianer bereits Kontakte mit dem weißen Mann haben – und das kratzt leider etwas am Idyllisch-Paradiesischen, denn nur ein unentdecktes kann ein echtes Paradies sein.

Tatsächlich ist das Mädchen die kleine Tochter eines Forscher-Pärchens, das kurzerhand beschlossen hat, trotz Elternschaft (oder gerade deswegen) wieder in den Urwald zu gehen – weniger Experiment denn Überzeugung war es, und trotz Malaria hat es weder dem Kind noch den Indianern geschadet (soweit sich dies anhand des Buches beurteilen lässt). Das blonde Mädchen ist als gern gesehener Gast eine Bereicherung des Eingeborenen-Dorfes, und obwohl Teil des sozialen Gefüges, wird es in Zeiten knapper Mahlzeiten oder ernsthafter Meinungsverschiedenheiten zwischen den Erwachsenen auch mal für Tage oder Wochen ignoriert.

Zu gerne lesen wir Geschichten vom einfachen, glücklichen Leben, und deshalb tut es gut, sich auf das beschauliche Leben der Aparai einzulassen, sie zu beobachten bei dem, was sie den Tag über tun, wie sie ihre nicht messbare Zeit fließen lassen in ihrem Leben, wie es ruhig und gelassen, manchmal auch ausgelassen zugeht und wie wenig doch nötig ist für ein zufriedenes Dasein. Uns stressgeplagten Westler fällt dabei vor allem auf, was die Aparai nicht tun: Schimpfen, meckern, missmutig sein, Intrigen spinnen und Mobbing betreiben, es eilig haben, psychosomatische Krankheiten entwickeln, unter Allergien und Phobien leiden, süchtig werden nach was auch immer – und das beeindruckt schon sehr.

Doch auch Aparai sind nur Menschen und als solche fehlbar, und deshalb kommt es auch im Paradies zuweilen zu Kulturschocks, etwa, wenn ein betrogener Ehemann seiner hochschwangeren Frau befiehlt, im Kreise aller Dorfbewohner eine Fehlgeburt herbeizuführen, oder wenn wir von lebendig eingegrabenen Kindern erfahren; Handlungsweisen, die uns mehr als barbarisch erscheinen und nur schwer vereinbar sind mit dem so gerne gepflegten Bild der netten und zufriedenen Ureinwohner.

Fast vier Jahrzehnte ist dieses Quasi-Idyll inzwischen her und damit leider auch schon ein Relikt der Vergangenheit. Und zudem ein weiterer Beweis für die These, dass die Tage eines entdeckten Paradieses tatsächlich gezählt sind. Diese Erfahrung muss auch die Autorin machen, als sie zwei Jahrzehnte nach ihrem Weggang aus dem Urwald nochmals zurückkehrt – die Menschen scheinen auf den ersten Blick dieselben, das Leben allerdings ist es nicht; das Paradies ist verloren, denn die Spuren des weißen Mannes sind unübersehbar.

Was die Autorin letztlich schildert, ist ein grundsätzlich friedliches Miteinander, wie es in nicht-kapitalistischen Zeiten existieren kann, solange es all diese niederen Beweggründe im Leben der Menschen nicht gibt, die sich sofort einstellen, sobald Geld und damit Macht im Spiel ist. Kalakuli, Perlen, heißt das Geld bei den Aparai, und auch sie sind nicht gefeit gegen die giftigen Ausdünstungen des schnöden Mammons, der sie über kurz oder lang beherrschen wird.

Bücher wie dieses führen über die erzählten Episoden und Anekdoten hinaus zum gedanklichen Abtasten von Grenzen und zum Durchdenken von Grenzsituationen, die auf der einen oder anderen Seite zu einer Grenzüberschreitung führen. Dem zugrunde liegt das von vornherein zum Scheitern verurteilte Vorhaben, wissenschaftliche Neugier bis in die letzte Konsequenz mit Respekt vor den indigenen Völkern vereinbaren zu können, denn selbst wenn der Wissenschaftler als solcher integer ist und nur die besten Absichten hegt, ist bereits die Gegenwart eines Weißen aus einer anderen Welt, der anders aussieht, sich anders kleidet, sich anders ernährt, anders kommuniziert, vor allem auch mit der Welt „da draußen“, der Motorboote, Flugzeuge und Hubschrauber kommen lässt und bei Gefahr jederzeit verschwinden kann, ein Eindringen in die indigene Welt und die Konfrontation derselben mit dem Andersartigen. Ließe man die Ureinwohner aber tatsächlich vollkommen in Ruhe, könnte man weder ihre Bräuche noch ihre Kultur und ihre Sprache erforschen – und auch diese wissenschaftliche Arbeit hat ihre Berechtigung zur Dokumentation der menschlichen Lebensformen auf der Erde.

Die autobiografische Erzählung bestätigt, dass alle wie auch immer formulierten Eingeborenen-Geschichten, und dazu gehört auch unser eigenes, biblisches Paradies – wahr und möglich sind, dass es in jeder Kultur eine Zeit vor der Diktatur von Geld und Macht gegeben hat und dass wir selbst es sind, die dieses Paradies zerstören.

Titelbild

Catherina Rust: Das Mädchen vom Amazonas. Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern.
Knaus Verlag, München 2011.
350 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813504460

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch