„Ein Dämon ist gar kein Ausdruck“

Als Arzt betreute Dr. Peter Fabjan, der Universalerbe von Thomas Bernhard, seinen Halbruder in dessen letzten Lebensjahren. Ein Gespräch mit ihm über den Nachlass, den Kulturbetrieb und Bruderfiguren in Bernhards Texten

Von Max BeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Max Beck und Nicholas CoomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicholas Coomann

Thomas Bernhard verfügte in seinem Testament, dass in Österreich nach seinem Tod nichts mehr von ihm gedruckt, vorgetragen oder aufgeführt werden dürfe. Wie kam es zu dieser radikalen Verfügung?

Da war wesentlich ein emotionales Moment beteiligt. Er war am Tag vor der Erstellung seines Testaments in seinem Haus in Obernathal nochmals auf die Belege der, wie er es sagen würde, Niedertracht und Missachtung seiner Person als Künstler gestoßen. Er hat zu mir immer gesagt, er mache kein Testament. Und dann das. Ich habe noch gemeint: Muss das wirklich sein? Weil ich gemerkt habe, dass ich da schwer in die Verantwortung genommen werde. Da hat er gesagt: Da hast du dann halt eine zweite Karriere. Und weil das immer noch keine Erklärung war, hat er weiter gesagt: Ich glaube, dass dir Geld nicht so wichtig ist. Es waren schließlich drei Liegenschaften, zwei Wohnungen, der Umgang mit seiner literarischen Hinterlassenschaft und so weiter, worum es ging. Eine unheimliche Sache für jemanden, der als Arzt eine Facharztpraxis in einer Stadt mit damals circa 13.000 Einwohnern und einem größeren Einzugsgebiet geführt hat und regelmäßig zu Fortbildungsveranstaltungen gefahren ist. Es war ein Abenteuer, sich halbwegs verantwortungsvoll in diese Situation einzufügen. Aber ich habe mich widerstandslos darauf eingelassen. Das Testament ist ein Fanal gegen den Staat, ein letzter einziger Vorwurf, kein in Ruhe zustande gekommener letzter Wille.

Konnte diesen testamentarischen Verfügungen überhaupt entsprochen werden?

Es steht manches darin, das in seiner Radikalität nicht voll durchzusetzen ist. Sie können von keinem Verleger erwarten, dass er für siebzig Jahre auf das Verlagsgeschäft in Österreich verzichtet. Der Verleger von Suhrkamp, Dr. Siegfried Unseld, hat sich dann doch zunächst für einen Zeitraum von einigen Jahren dazu bereit erklärt, dieses Legat zu übernehmen, das heißt, dem Wunsch Bernhards zu entsprechen. Aber dann, nach immerhin – und hier gebührt ihm größter Respekt – fast zehn Jahren, hat er auf sein Vertragsrecht gepocht und die Zustimmung zu diesem Legat zurückgenommen. Und auch ich habe eingesehen, dass hier eine andere Regelung getroffen werden muss. Ein Testament hebt ja Verlagsverträge nicht auf.

Inwieweit musste denn dem Testament rein rechtlich entsprochen werden? Gab es da Spielraum für Sie in der Auslegung?

Auf mich als Universalerben sind auch seine Autorenrechte übergegangen. Thomas Bernhard hat im Gegensatz zu einem frühen Testamentsentwurf, wo er das weitere Schicksal der Häuser und seines Nachlasses regeln wollte, keinen Testamentsvollstrecker ernannt. So war ich berechtigt, das eine oder andere für die Durchführbarkeit zu interpretieren. Natürlich immer nur das, was ich vor ihm verantworten kann. Schließlich habe ich auch den Bruder immer als zwei Personen erlebt: Mal als Realisten, mal als Künstler.

War es der ausdrückliche Wunsch von Bernhard, dass Sie den Nachlass verwalten?

Ich soll, was die Literatur betrifft, mit Dr. Unseld oder seinem Nachfolger – unwiderruflich gemeinsam – den literarischen Nachlass verwalten.

Als Sie davon erfuhren, war es da für sie klar, dass Sie das machen wollen? Sie praktizierten seinerzeit ja noch als Arzt in Gmunden.

Ja, ich praktizierte nach seinem Tod noch über ganze zwölf Jahre. Das war für mich schon problematisch. Aber ich habe mich eben, wie wenn man jemandem am Sterbebett etwas zusagt, darauf eingelassen. Thomas hat mich ja über die vielen Jahre, die wir zusammen waren, in seine Welt eingeführt, mich zu Treffen mit seinen Partnern, sei es im Verlag oder mit Freunden, zu den Premieren und so weiter mitgenommen. Er hat ja zunächst noch versucht, das Erbe anders zu regeln. Einfach, weil er gewusst hat, dass mich das überfordern muss. So wollte er dieses Haus (gemeint ist der Vierkanthof) Dr. Unseld schenken. Der wieder hat das aber als mögliche Hypothek gesehen und seine Prüfer geschickt, was ihn, Thomas, empört hat. Für das Haus in Ottnang hat er genau so gedacht, das werde vielleicht der Verlag übernehmen. Obernathal als Archiv, Ottnang als Gästehaus. Das hat sich dann alles zerschlagen. Und zu guter Letzt bin ich als Einziger übrig geblieben. Ich bin, wie man sagt, wie die Jungfrau zum Kind gekommen (lacht). Nein, ich habe das auch als eine grandiose Herausforderung verstanden. Natürlich habe ich Menschen gefunden, die mir mit Rat und Tat dabei zur Hand gegangen sind, wenn auch nicht immer ganz uneigennützig.

Ich glaube, das Ganze ist bis heute in seinem Sinne gelaufen. Heute bin ich im 74. Lebensjahr. Was noch nicht geklärt ist, versuche ich jetzt mit der Republik Österreich und den in den Stiftungsstatuten angesprochenen Bundesländern auch für die Zeit nach mir festzulegen. Der Fortbestand dieser Thomas-Bernhard-Privatstiftung, die seit 1998 Bernhard im Land und im Ausland repräsentiert, ist dabei Grundbedingung.

„Nach meinem Tod darf aus meinem […] literarischen Nachlaß, worunter auch Briefe und Zettel zu verstehen sind, kein Wort mehr veröffentlicht werden“, heißt es im Testament. Posthum erschienen sind 2009 jedoch noch „Meine Preise“ sowie der Briefwechsel mit Siegfried Unseld. Wie ist es zu diesen Veröffentlichungen gekommen?

Bernhard hat, wie Sie sagen, im Testament bestimmt, dass nichts Unveröffentlichtes mehr veröffentlicht werden darf. Auch keine Briefe und keine Zettel. Für die junge Generation, ja selbst für sein Andenken, ist es aber nicht zumutbar und sinnvoll, das in aller Strenge zu exekutieren. „Meine Preise“, aus verlags- und herausgebertechnischen Gründen trotz Verlagszusage im letzten Moment nicht zur Veröffentlichung freigegeben, ist zu Unrecht unter das Generalverbot gefallen. Zum Briefwechsel mit Dr. Unseld: Ich und meine Schwester, die den Briefnachlass betreut, haben gesagt: Wenn man diese Korrespondenz liest, ist das so faszinierend und dermaßen dramatisch, das schreit geradezu nach Veröffentlichung. Wir haben dann eine Möglichkeit dazu darin gesehen, dass Thomas wohl mit dem Verbot den privaten, intimen Briefwechsel gemeint hat und nicht den beruflichen. Die „Geschäftspost“ mit einem Verleger, seinem Theaterverlagsleiter oder Lektor, einem Regisseur oder Dramaturgen, mit denen er allen auf persönlicher Distanz verblieben war, ist keine private Post.

Im Thomas-Bernhard-Archiv in Gmunden wird der literarische Nachlass Bernhards gesammelt und verwaltet. Wie umfangreich ist der Nachlass rein quantitativ?

Der Umfang ist mit den Lyrikbändchen, dreißig Prosawerken und siebzehn Theaterstücken sicher nicht gering. Ich habe keine Vergleichsmöglichkeit. Der des Großvaters (gemeint ist der Schriftsteller Johannes Freumbichler) – zum großen Teil unveröffentlicht – ist umfangreicher. Es gibt an Unveröffentlichtem bei Bernhard wenig bis sehr wenig.

Bernhard nimmt in seinen Werken immer wieder Bezug auf andere Literaten und Philosophen, unter anderem auf Novalis und Ludwig Wittgenstein. Hier im Haus befindet sich noch Bernhards komplette Bibliothek. Sind die Randnotizen der Lektüre jener Werke bereits erschlossen?

Was hier im Haus steht, ist nur ein Teil der in seinen Wohnungen aufgefundenen Bücher. Sie sind im Archiv und – soweit sie in Wien Hedwig Stavianicek (Thomas Bernhards „Lebensmensch“) und ihm gemeinsam gehört haben – in meiner eigenen Bibliothek, die auch die Bücher des Großvaters und unseres Vaters beherbergt. Was hier im Haus steht, ist bereits mehrfach registriert worden und dann zuletzt auch von meiner Frau im vergangenen Winter zusammen mit Dr. Bernhard Judex (wissenschaftlicher Mitarbeiter des Thomas-Bernhard-Archivs) ein weiteres Mal gründlich durchgesehen worden. Das Ergebnis befindet sich im Archiv.

Zu Bernhards Nachlass gehört ja nicht nur der literarische Teil. Wie steht es um den nichtliterarischen Nachlass wie beispielsweise um die Immobilien?

Der Immobilien-Nachlass ist eindrucksvoll. Die drei Landwirtschaften, die heute noch alle als solche in Betrieb sind, erfordern einen großen Verwaltungs- und Finanzaufwand. Dieses Anwesen hier in Obernathal, als das Haupthaus, mit dem sich Bernhard praktisch sein Denkmal geschaffen hat, ist das prächtigste. Ein Hamburger Architekturmagazin hat es vor Jahren in seine Serie „Die schönsten Häuser der Welt“ aufgenommen. Es ist – von vielen Besuchern und auch von Fachleuten anerkannt – etwas Einmaliges. Ist es doch nach dem Erstling „Frost“ zugleich mit seinen weiteren Prosaarbeiten „Verstörung“, „Kalkwerk“ und „Korrektur“ entstanden.

Wir haben eben in der Scheune ein schwarzes Fahrrad gesehen. Ist dies das berühmte Rad aus der Suhrkamp-Werbung?

Nein. In der Werbung mit Bernhard sitzt er auf einem später, zur Zeit der Ölkrise, erworbenem Rad. Er musste ja an dem Tag mit Fahrverbot irgendwie in das nächste Gasthaus kommen. Das Fahrrad hier in der Scheune ist tatsächlich noch das, mit dem er sich mit sechs oder sieben Jahren von Traunstein nach Salzburg aufgemacht hat.

Ein wiederkehrendes Motiv in Bernhards Prosa ist der Kleidungskauf. So beispielsweise in „Gehen“, „Meine Preise“ oder auch in den Peymann-Dramoletten. Stimmt es, dass Bernhard eine ausgeprägte Vorliebe für Kleidung und Schuhe hatte?

Ja, sie hat seinem Bedürfnis nach einer gewissen Eleganz und damit wieder Distanz entsprochen. Dabei konnten sie ihm auf dem Land im Lodengewand und mit der Hirschledernen sehen, in Wien und im südlichen Ausland in feiner Hocheleganz begegnen. Er hat zuletzt tatsächlich hunderte Paare Schuhe besessen. Das war wohl auch eine Kompensation der frühen bitteren Armut.

Und die existieren auch noch hier im Vierkanthof, in Bernhards persönlichem „Museum“?

Nicht alle. Meine Schwester und ich – meine Frau habe ich damals noch nicht gekannt – haben zur Zeit des Bosnienkrieges die Idee gehabt, dass wir dieser Gegend, die mein Bruder sehr geliebt hat, etwas zukommen lassen könnten. Er war ja viel dort, um zu schreiben. Uns so haben wir dann eine Ladung Schuhe und Bettwäsche dorthin auf den Weg gebracht. Wir dachten, das wäre in seinem Sinn.

Noch einmal zurück zu den Umständen des Testaments. Thomas Bernhard war ein radikaler Kritiker des Staats und des Kulturbetriebs. Gerade nach der letzten großen Kontroverse um das Theaterstück „Heldenplatz“ am Burgtheater hatte er in der österreichischen Kultur- und Politiklandschaft viele Gegner. Wie erklären Sie sich, dass er rund 20 Jahre nach seinem Tod im Betrieb vollkommen rehabilitiert zu sein scheint?

Diese Frage habe ich einmal Professor Wendelin Schmidt-Dengler (Literaturwissenschaftler aus Wien, 1942-2008), einem sehr weisen Kopf, einem wahren Gelehrten, gestellt. Er hat gemeint, seit Caesar sei noch jeder Schriftsteller vom Staat irgendwann vereinnahmt worden. Das sei keine besondere Tragik, vielmehr eine Selbstverständlichkeit. Die vielen „Wendehälse“, was heutige Fans und Interessenten angeht, die zu seinen Lebzeiten mit Regierung und Presse geheult haben, hat er, Schmidt-Dengler, gemeint, finde er in höchstem Maße irritierend. Aber heute kommt man von offizieller Seite auch einfach nicht mehr an Bernhard vorbei.

Aber wie gehen sie als Verwalter des Nachlasses damit um? Es ist ja davon auszugehen, dass Bernhard diese Vereinnahmung ein Gräuel gewesen wäre.

Wir haben die unabhängige Stiftung gegründet. Sie vertritt Thomas Bernhard im In- und Ausland und kümmert sich über ein Archiv um die Aufarbeitung des Nachlasses. Er existiert hier also wie in einem geschützten Raum. Die Institution ist übrigens auf dem Boden der französischen Botschaft gegründet worden. Ganz zu vereinnahmen ist er hier also nicht so schnell.

Bernhard hat in seinem Leben zahlreiche Literaturpreise bekommen. In „Meine Preise“ macht er deutlich, dass er nur Verachtung für die Zeremonien des Literaturbetriebs übrig hatte.

In der Anfangszeit, als er noch ganz jung war, hat er sich geärgert, dass den Trakl-Preis nicht er bekommen hat, sondern ein anderer. Später hat auch er Preise bekommen, das war dann mit „Frost“ nicht mehr aufzuhalten. Die hat er zunächst auch angenommen, um die Unabhängigkeit, die mit Geld zu schaffen ist, zu erlangen. Als er sie weder für sein Renommee noch zur Absicherung seiner Erwerbungen mehr gebraucht hat, hat er gemeint, man sollte Schriftstellern überhaupt keine Preise geben, weil sich die paar Guten auch ohne sie durchsetzen. Ich bin mir sicher, er wäre auch ohne die Preise seinen Weg gegangen. Sie waren einfach eine angenehme Begleiterscheinung zum erwähnten Zweck.

Wie gab sich Thomas Bernhard denn innerhalb der Familie? War er dort auch der Bernhard der Übertreibung, wie man ihn aus Krista Fleischmanns Filmporträts wie „Die Ursache bin ich selbst“ und aus seinen Texten kennt?

Er war für uns nahe Verwandte oft von einer großen Unheimlichkeit, was Vereinnahmung, Verlangen nach Respekt und Zuneigung, dann wieder eisige Kälte und Hass betrifft; ich muss Ihnen sagen, ein Dämon ist gar kein Ausdruck. Trotz allem haben wir ihn geliebt. Es ist ja dieser ganze wilde, verrückte, kleine, in sich geschlossene Haufen von Herrschern und Beherrschten, dieser Freumbichler-, Bernhard-, Fabjan-Clan gewesen, der noch in seinen paar Überbleibseln irgendwie eine schützenswerte Spezies ist (lacht). Heute noch mit seiner Hinterlassenschaft völlig ausgefüllt, träume ich gelegentlich von ihm, dem Bruder, wundere mich, dass er noch unter uns ist und bin Kritik oder Anerkennung ausgeliefert. Das meint der Ausdruck „Dämon“. Er hatte diese Kräfte, Menschen für sich einzunehmen. Nicht jeder hat diesen Zuchtmeister in ihm unbeschadet überstanden.

Wir sitzen hier im Innenhof von Bernhards Vierkanthof in Obernathal, einem kleinen Dorf in der Nähe von Gmunden. Wie war das Verhältnis von Bernhard zum ländlichen Leben?

Naja, da war zum Teil viel Sentimentalität mit im Spiel, aufgrund seiner Zeit als Kind auf dem Bauernhof, wo er absolut glücklich war. Die Bevölkerung hat ihn fasziniert, teils abgestoßen, teils angezogen und war ihm Material für seine Literatur geworden. In den späten Jahren aber, als er schon sehr krank war, nicht mehr heizen konnte, weil er kein Holz mehr tragen konnte, ihm sogar die Stiege in das Obergeschoss, ja, das Tragen der Landkleidung zu beschwerlich geworden war und er auf seine Spaziergänge weitgehend verzichten musste, da war ihm das Land mit den Häusern von ihm zur Belastung geworden. Es sei völlig kulturlos, war dann sein abschließendes Urteil. Und doch hat er sich kurz vor seinem Tod in das Obernathaler Haus bringen lassen, um es noch einmal zu sehen.

Was Freunde angeht, so war er von manchem später enttäuscht. Die sind sitzen geblieben, hat er bitter gemeint. Die haben sich nicht mehr weiter entwickelt. Ich kann heute nicht mehr mit ihnen reden, denn ich bin ganz woanders. Religion war ihm kein Trost. „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern“, hat noch Pascal gesagt. Bernhard hingegen hat versucht, diese Angst zu ertragen. Er hat gemeint, Religion passe nicht zu ihm. Aber er hat auch Religionsvertreter wie den römischen Erzbischof und Präsidenten der päpstlichen Akademie, Cesare Zacchi, zum Freund gehabt.

Aus Erfahrung war ihm Angriff die beste Verteidigung geworden. Das war ihm Lebensstrategie. Daher kommt auch sein Attackieren, Übertreiben und Aufmerksamkeit erregen. Er war als Künstler ein Ereignis der Literaturszene, gefürchtet, gehasst, bekämpft, selten auch respektiert. Mehr als das hat er ja nie verlangt.

Sie haben vorher kurz darüber gesprochen, dass Sie Ihren Bruder in den letzten Lebensjahren ärztlich behandelt haben. Wie gestaltete sich Ihre Beziehung? War sie familiär oder eher ein Arzt-Patient-Verhältnis?

Es war ein Verhältnis unter sehr unterschiedlichen Brüdern, gleichzeitig ein Arzt-Patient-Verhältnis, natürlich. Er hat sich mir einerseits ausgeliefert, mir damit gleichzeitig eine extreme Verantwortung übertragen, wohl in der Absicht, mich darin zu fordern. Als Allgemeininternist habe ich dann öfters meinen Doktorvater sowie Spezialisten hinzugezogen. Es war oft meine wesentliche Aufgabe, einfach präsent zu sein. War da sehr früh der Großvater seine Zuflucht, sein Lebensmensch, war es später die alte Dame (gemeint ist Hedwig Stavianicek) aus der großbürgerlichen Wiener Gesellschaft. Mit ihr konnte er alles besprechen. Als sie fünf Jahre vor ihm verstorben ist, hat er zu mir gesagt: Jetzt brauche ich dich, sonst halte ich das nicht aus. Die letzten Jahre waren wir dann fast täglich zusammen.

Zuletzt hat er noch einmal gewagt, ins Ausland zu fahren, in ein anderes Klima. Er hat geglaubt, dort wird er vielleicht diese Krise überleben, in Spanien. Ich habe gesagt, das komme nur infrage, wenn die Schwester ihn begleitet. Also ist sie mitgefahren und hat eine Woche durchgehalten. Dann ist es an mir gewesen, ihn und Marianne Hoppe (Schauspielerin, unter anderem „Heldenplatz“) dort zu begleiten und ihn noch einmal lebendig zurück zu bringen.

In Bernhards Nachlass wurde ein nur wenige Zeilen starkes Romanfragment namens „Neufundland“ entdeckt, das das Verhältnis zweier Brüder zum Inhalt hat. Es sollte offensichtlich ein Roman entstehen, der sich dem Verhältnis von Bernhard zu Ihnen widmen sollte.

Er hat immer wieder in der Literatur die Beziehung von Brüdern beschrieben. Ein auch nur halbwegs entsprechender Bruder habe ich ihm in der Realität wohl nie sein können. Die Hommage an den Arztbruder, die sich in der kleinen Skizze zu „Neufundland“ findet, sollte wohl ein Dank an meinen Einsatz und guten Willen sein.

Haben Sie sich in anderen Bruderfiguren wiedergefunden?

Ja, aber ich war nur immer ansatzweise eine dieser Figuren. Bei manchen kommen Eigenschaften von mir vor, die er meinte zu spüren. Er beschreibt aber auch Schwestern, beispielsweise in „Korrektur“ oder „Auslöschung“. Andererseits hat er dann einen Arzt nach dem schlimmen Klischee gezeichnet, das zu mir überhaupt nicht gepasst hat.

Waren Sie denn in die Pläne von „Neufundland“ eingeweiht?

Nein. Über Literatur haben wir nie gesprochen. Wenn er gesagt hat, der Johannes (Bruderfigur aus „Auslöschung“), das bist du, wollte er mich herausfordern. Hat ihn doch eine freundliche Beziehung auch unter uns nie interessiert. Er musste mit den Verletzungen eine lebendige Beziehung schaffen und hat dabei riskiert, dass sie abbricht.

Dem Land hat er unzweifelhaft etwas Tolles hinterlassen. Der Suhrkamp-Cheflektor Dr. Raimund Fellinger sagt heute, Thomas Bernhard ist nach Bertolt Brecht der zur Zeit weltweit am häufigsten gespielte deutschsprachige Autor.

Anmerkung der Redaktion: Das Interview erschien bereits in einer stark gekürzten und leicht veränderten Fassung in der Wochenzeitung „der Freitag“ 45/11.