Demente Menschen sind menschlicher

„Acht Minuten“ ist Péter Farkas’ literarischer Einblick in eine weitgehend unbekannte Welt

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Demenz und ihre bekannteste Form, Alzheimer, sind mit der fortschreitenden Überalterung der westlichen Gesellschaften und den damit einhergehenden Problemen der Pflege, Versorgung und Unterbringung alter Menschen in den letzten Jahren medial in den Fokus gerückt. Deshalb könnte der 2007 vom Ungarn Péter Farkas verfasste Roman „Acht Minuten“, der dieses Thema aufgreift und nun in deutscher Übersetzung erschienen ist, auch das Interesse des hiesigen Lesepublikums wecken.

Péter Farkas, 1955 in Budapest geboren, lebt seit 1982 in Deutschland. Er hat eine literarische Zeitschrift herausgegeben und arbeitet für den Rundfunk. Sein erster Prosatext „Háló“ (deutsch „Netz“) erschien 1997 und wurde mit dem Bródy-Preis für das beste literarische Debüt ausgezeichnet. Es folgten das Hypertext-Projekt „Golem“, die Prosabände „Törlesztés“ (deutsch „Tilgung“, 2004) und „Kreatúra“ (deutsch „Kreatur“, 2009) und der Roman „Johanna“ (2011). Für die „neuartigen prosapoetischen Lösungen“ in seinen Romanen und Novellen erhielt Farkas 2011 den renommierten Sándor-Márai-Preis (die diesbezüglichen Angaben auf dem Buchrücken sind somit leider fehlerhaft).

Aus der Sicht eines alten Mannes schildert Péter Farkas in auktorialer Erzählperspektive den Alltag eines dementen Paares, gewährt dem Leser Einblick in die Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungsweisen der Figuren. Losgelöst von den Vorstellungen und Werten der Gesellschaft verlieren Namen und Zeit ihre Bedeutung. Der Text, denn eine Geschichte würde ja über eine Ordnung nach einem bestimmten Wertesystem verfügen, erzählt vom Einkoten, Duschen, Waschen, der Zubereitung von Apfelmüsli, dem Loslassen bei plötzlichem Harndrang, physischen Gebrechen, menschlichem Verfall, dem Kochen von Pflaumenmus und dem Sockenanziehen. Diese Kleinigkeiten sind seitenfüllend und lebensbestimmend. Eine zeilenlange fürsorgliche Anziehprozedur des alten Paares nimmt beispielsweise eine überraschende Wendung: „Dann ließ er die alte Frau aufstehen und sagte ihr: Wir können los. Im Vorzimmer legten sie Schal und Mantel an, sie nahm oft auch ihre Handschuhe, auf den Kopf aber setzte sie auch nichts. Sie lächelten sich an und marschierten auf den Balkon hinaus.“

Das Leben spielt sich ausschließlich in und um das Haus ab. Außenstehende kommen selten hinzu, sind namenlose Fremde. Ob Pflegerin oder Verwandte, spielt für die Alten keine Rolle. Die Besuche sind immer Eingriffe in das glückliche Leben des Paares. Man meint es gut, wenn eine neue Wohnung im Parterre gesucht wird, um das beschwerliche Treppensteigen zu ersparen, aber der schlitzohrige alte Mann findet immer einen Ausweg in seine oder ihre Welt: „Er wusste, je höher sie wohnten, umso näher kam der Zustand, in dem er ausschließlich das tat, was er nicht lassen konnte, und das ließ, was er nicht tun konnte.“

Und als die Betten der Eheleute aus Sicherheitsgründen in getrennte Zimmer gestellt werden, registriert er zufrieden, dass die alte Frau nachts im Dunkeln und ohne Worte mit der Decke zu ihm schlurft, sich wortlos an ihn schmiegt und weiterschläft. Von nun an schlafen beide eben in seinem Bett.

Demente Menschen, denen die Erinnerung einfach wegbleibt, die keine speicherbaren und im Bedarfsfall abrufbaren Bilder mehr über irgendwelche vorherigen Handlungen und Begebenheiten formen, fühlen und denken über ihre Nerven und Instinkte. „Statt des Bewusstseins erinnerten sich ihre Nase, der Gaumen, die Zungenspitze, Ohren und Augen, und vor allem die Haut. Gewisse Berührungen drangen bis in ihre tiefsten Bewusstseinsschichten, die früher unerreichbar für Worte oder Gedanken gewesen waren.“ Der alte Mann versteht es mit seiner alten Frau zu kommunizieren, „in einem für sie [die Verwandten] nicht zu erfassenden Frequenzbereich“.

Was ihn, dessen Zustand deutlich besser ist als der der alten Frau, am meisten schmerzt, ist der Verlust der Lesefähigkeit. Eindrücklich werden die verschiedenen Stadien dieses Prozesses und das eigene Ignorieren oder Schönreden geschildert. Er will bis zum Schluss nicht aufgeben und unternimmt ständig neue Anläufe, die alle scheitern: „Er starrte die Buchstaben an, wie präzise aufgespießte und sehr fachmännisch präparierte Exemplare einer ungeheuren Käfersammlung“, denn mit sprachlichen Zusammenhängen kann er nichts mehr anfangen.

Péter Farkas ist es mit viel Liebe zum Detail, Verständnis und einem einfühlsamen Perspektivenwechsel gelungen, Vorurteile abzubauen und Wege für einen besseren Umgang mit dementen Menschen aufzuzeigen. Ja, der literarische Genuss macht nicht vor unangenehmen Themen oder Situationen halt. Er lässt den Leser mitfühlen, schmunzeln und nachdenklich werden. Das alte Paar wächst einem ans Herz. Was bedeuten schon Namen, wenn man so zärtlich, harmonisch und verständnisvoll miteinander umgeht? Abgeschottet von der Außenwelt, meistern sie Minute für Minute, Stunde für Stunde, Tag für Tag den Alltag, leben und lieben (mit)einander. Mit List und guten Worten erreicht der alte Mann fast alles bei der alten Frau und macht selbst stets das Beste aus jeder Situation: „Dass ihn einige mittlerweile als Idioten betrachteten, störte den alten Mann nicht im Geringsten. Ja, dieser Umstand befreite ihn sogar von der Durchführung von vornherein überflüssiger Tätigkeiten.“

In einem Interview, das der Belgische Rundfunk am 21.11.2011 sendete, verriet der Autor, dass die Beschäftigung mit dem Thema bei ihm mit dem Altern kam. Er habe zwar viele Verwandte, die erst zwischen 90 und 100 – allerdings bei vollem Bewusstsein bis zum Schluss – gestorben seien, Erfahrungen mit dementen Menschen habe er aber keine. Was diese Menschen wirklich denken, sehen, fühlen und erinnern, wisse er natürlich nicht, das wisse niemand. Und wer sich fragt, was der Titel zu bedeuten hat, dem verriet er, dass in einer gestrichenen Episode des Werkes die Zeit, die ein Mensch braucht, um das Verlöschen der Sonne wahrzunehmen, acht Minuten beträgt. Es ist ein Symbol für das Lebensende des Paares.

Titelbild

Péter Farkas: Acht Minuten. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von György Buda.
Luchterhand Literaturverlag, München 2011.
132 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873046

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