Schmerz und Aggression

Evolutionsbiologische und neurowissenschaftliche Überlegungen zur Geschichte sozialer Gewalt

Von Joachim BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Bauer

Vorbemerkung der Redaktion: Wir haben Joachim Bauer gebeten, einige Thesen und Überlegungen seines 2011 erschienenen Buches „Schmerzgrenze: Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“ für unsere Leser zusammenzufassen, und von ihm den folgenden Beitrag erhalten.

Der Mensch scheint zu fast allem fähig zu sein: zur Aufopferung für Andere, zu friedlicher Zusammenarbeit und großartigen technischen und kulturellen Leistungen, doch ebenso zu Lug und Trug, zu grausamster Gewalt und kriegerischer Zerstörung. Wenige Spezies auf dieser Erde zeigen in ihrem Verhalten einen derartigen Facettenreichtum wie der moderne Mensch. Die ungeheure Wandlungsfähigkeit seiner eigenen Spezies – vom Wohltäter zur Bestie und zurück – gibt dem Menschen seit Jahrtausenden zu denken.

Die Beschäftigung mit der Frage, was der Mensch seiner wahren Natur nach eigentlich sei, war über viele Jahrhunderte hinweg ausschließlich der Philosophie, der Theologie und der Dichtung vorbehalten. Erst vor rund 150 Jahren traten mit der modernen Biologie, Medizin, dann auch der Psychologie und Soziologie weitere Disziplinen hinzu, die nun ebenfalls begannen, darüber, was der Mensch sei, Deutungshoheit zu beanspruchen. Besonders spannend sind die Beiträge, die neuerdings aus dem Bereich der modernen Neurobiologie kommen.

Welches Bild des Menschen die moderne Hirnforschung entwirft, hat mich in den letzten Jahren intensiv beschäftigt. Meine Perspektive ist die eines Mediziners, der nicht nur als Arzt tätig ist, sondern über viele Jahre hinweg auch molekular- und neurobiologisch geforscht hat. Mit meinem Buch „Das Gedächtnis des Körpers“ versuchte ich, den Einfluss deutlich zu machen, den Lebensstile auf unsere Gene haben. Anschließend ging es mir darum, mit den Titeln „Warum ich fühle was du fühlst“ sowie mit „Prinzip Menschlichkeit“ die neurobiologischen Grundlagen aufzuzeigen, die den Menschen zu einem mitfühlenden und sozialen Wesen machen.

Allerdings ist der Mensch, wie wir täglich erkennen, nicht nur ein empathisches und kooperatives Wesen. Da auch zu der dunklen Seite des Menschen aus dem Bereich der Neuroforschung inzwischen solide Erkenntnisse vorliegen, habe ich mich in meinem jüngsten Buch „Schmerzgrenze: Von Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“ mit dem Thema der menschlichen Aggression befasst. Thomas Anz bat mich, zu diesem Buch einige erläuternde Gedanken zu Papier zu bringen. Ich will dies hier gerne versuchen.

Was „treibt“ den Menschen: Die Entdeckung der Motivationssysteme

Seit Biologen und Mediziner begannen, sich mit der Frage zu beschäftigen, was ein Lebewesen seiner Natur nach sei, spielte der Begriff des „Triebes“ eine zentrale Rolle. Ein „Trieb“ – im englischen „Instinct“ – ist eine nicht durch Dressur oder Erziehung erworbene, sondern natürlich vorgegebene, spontan auftretende Verhaltenstendenz. Der geniale Charles Darwin erkannte, dass „die meisten oder alle fühlendes Wesen sich dergestalt entwickelt haben, dass sie sich regelhaft durch angenehme Empfindungen leiten lassen“. Zu einem „Trieb“ oder „Instinkt“ kann eine Verhaltenstendenz daher nur dann werden, wenn sie im biologischen Akteur – ich benütze nochmals die Worte Darwins – „angenehme Empfindungen“ auslöst.

Was sind beim Menschen Verhaltenstendenzen, die – nach Art eines Triebes – spontan auftreten und die – nach Darwin – „angenehme Empfindungen“ zur Folge haben? Ist es Sympathie oder Liebe, oder Aggression, oder beides? Ein wichtiger Schritt zu einer möglichst ideologiefreien Antwort auf diese Frage war, dass die moderne Hirnforschung jene neuronalen Systeme entdeckte, die im Menschen „angenehme Empfindungen“ auszulösen in der Lage sind. Angenehme Empfindungen stellen sich im Menschen dann – und nur dann – ein, wenn die sogenannten Motivationssysteme ihre Glücksbotenstoffe freisetzen. Mit den heute zur Verfügung stehenden Untersuchungsverfahren ist es möglich, direkt zu beobachten, welche Verhaltensweisen des Menschen zu einer Ausschüttung von Glücksbotenstoffen führen und welche nicht.

Die Klärung, welche menschlichen Verhaltensweisen aus Sicht der Motivationssysteme „lohnend“ sind, ist ein substantieller Beitrag der Neurobiologie zu der Frage, was der Mensch seiner Natur nach ist: Einem anderen Menschen, ohne von diesem provoziert worden zu sein, Schaden oder Schmerz zuzufügen oder ihn gar zu töten, ist aus Sicht der Motivationssysteme des Menschen nicht „lohnend“. Dies gilt jedenfalls für psychisch durchschnittlich gesunde Menschen. Eine Ausnahme bilden sogenannte Psychopathen, bei denen sich neurobiologische Veränderungen nachweisen lassen, die ich in meinem Buch „Schmerzgrenze“ ausführlich dargestellt habe, auf die ich hier aber nicht eingehe.

Unprovozierte, spontane Aggression ist bei psychisch durchschnittlich gesunden Menschen keine Grundmotivation, kein Trieb und kein Instinkt. Damit war die Theorie eines menschlichen „Aggressionstriebes“, welcher von Sigmund Freud 1920 aus der Taufe gehoben und später durch Konrad Lorenz zugespitzt worden war, widerlegt. Freud war der Ansicht, der Mensch unterliege einem „Trieb zum Hassen und Vernichten“, es gebe eine „Lust an der Aggression und Destruktion“. Mit der Widerlegung des bereits in früheren Jahren von psychologischer Seite vielfach in Frage gestellten Konzepts vom „Aggressionstrieb“ ist allerdings wenig gewonnen. Denn Theorien haben auch dann, wenn sie sich als falsch erweisen, einen gewaltigen Einfluss auf die Realität, meist im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, ein als „Thomas-Theorem“ bekannt gewordenes Phänomen.

Die Erkenntnis der modernen Neurobiologie, dass sich ein menschlicher „Aggressionstrieb“ nicht nachweisen lässt, gibt Charles Darwin Recht. Selbstverständlich erkannte Darwin, wie sollte es anders sein, das Faktum der menschlichen Aggression. Einen „Aggressionstrieb“ sucht man bei ihm jedoch vergeblich. Für Darwin war die menschliche Aggression kein Trieb, sondern ein reaktives Verhaltensprogramm. Als die stärksten „Triebe“ des Menschen bezeichnete er dessen „soziale Instinkte“. So lesen wir bei Darwin: „Die höchste Befriedigung [für den Menschen] stellt sich ein, wenn man ganz bestimmten Impulsen folgt, nämlich den sozialen Instinkten. […] Die Liebe derer zu gewinnen, mit denen er zusammenlebt […], ist [für den Menschen] ohne Zweifel die größte Freude auf dieser Erde“.

Tatsächlich bestätigt die moderne Hirnforschung die Feststellungen Darwins: „Lohnend“ aus der Sicht der menschlichen Motivationssysteme ist es, das Vertrauen und die Anerkennung anderer Menschen zu erhalten. Zu einer Ausschüttung der Glücksbotenstoffe kommt es nicht nur dann, wenn wir von anderen fair behandelt werden, sondern auch dann, wenn wir uns selbst fair verhalten oder anderen helfen, denen es schlechter geht als uns selbst. Diese für manche vielleicht überraschenden Beobachtungen ließen in der amerikanischen Hirnforschung den Begriff des „social brain“ bzw. des „egalitarian brain“ entstehen, was ausdrücken soll: Menschen haben ein von Natur aus auf soziale Gemeinschaft und auf Gleichwertigkeit ausgerichtetes Gehirn.

Der Aggressionstrieb mag tot sein, doch die zwischenmenschliche Aggression lebt munter weiter. Was lehrt uns die moderne Neurobiologie über die Entstehung aggressiver Impulse? Zu den frühesten Erkenntnissen einer wissenschaftlich begründeten Aggressionsforschung gehörte die Beobachtung, dass die willkürliche Zufügung von Schmerzen ein 100%ig zuverlässiger Auslöser von Aggression ist. Der evolutionäre Sinn der Aggression ist offenbar, dass Lebewesen Schmerz abwehren und ihre körperliche Unversehrtheit bewahren können. Wer die Schmerzgrenze eines Lebewesens tangiert, wird Aggression ernten. Doch wie sollen wir uns erklären, dass Aggression bei Weitem nicht nur dann auftritt, wenn Menschen körperlich angegriffen werden?

Warum soziale Ausgrenzung die „Schmerzgrenze“ tangiert und Aggression befördert

Ein wichtiger Schritt zum Verständnis menschlicher Aggression war die vor wenigen Jahren gemachte Beobachtung, dass die Schmerzzentren des menschlichen Gehirns nicht nur dann reagieren, wenn körperlicher Schmerz zugefügt wird, sondern auch dann, wenn Menschen sozial ausgegrenzt oder gedemütigt werden. Dass körperlicher Schmerz und soziale Ausgrenzung vom Gehirn als etwas sehr Ähnliches wahrgenommen werden, ergibt evolutionär Sinn. Der Mensch war immer ein sozial lebendes Wesen. Wer in grauen Vorzeiten sozial ausgegrenzt wurde, war so gut wie tot. Dass unser Gehirn soziale Ausgrenzung wie körperlichen Schmerz erlebt, erklärt, warum nicht nur körperliche Schmerzen Aggression nach sich zieht, sondern auch soziale Ausgrenzung und Demütigung.

Mit der Beobachtung, dass soziale Ausgrenzung Aggression nach sich zieht, erweist sich die Aggression als ein Verhaltensprogramm im Dienste des sozialen Zusammenlebens: Wo die soziale Integration gefährdet ist oder gefährdet erscheint, entsteht – sozusagen als soziales Regulativ – Aggression. Ihre Rolle als Regulativ kann die Aggression in der Regel jedoch nur dann erfüllen, wenn sie sprachlich kommuniziert wird. Direkte körperliche Aggression ergibt, wenn überhaupt, nur dort Sinn, wo jemand körperlich angegriffen wird und sich per Notwehr seiner Haut erwehren muss. Aggression, die nicht sprachlich kommuniziert wird, ist in Gefahr selbst zum Ausgangspunkt neuer Aggression zu werden, mit der Folge, dass sich Aggressionskreisläufe entwickeln.

Ein Grund, warum menschliche Aggression ihre Rolle als soziales Regulativ sehr häufig nicht erfüllen kann, ist das Phänomen der sogenannten „Verschiebung“. Vielerlei Gründe können dazu führen, dass jemand seinen Ärger nicht an denjenigen adressiert, dem die Wut eigentlich gelten sollte. Häufig halten wir Unmut zurück, vor allem wenn wir einem Stärkeren oder Mächtigeren gegenüberstehen. Die in einer solchen Situation zurückgehaltene Aggression löst sich jedoch nicht in Luft auf. Sie wird in einem Aggressionsgedächtnis gespeichert und hat die Tendenz, sich zu einem anderen Zeitpunkt und gegenüber einem anderen Menschen zu entladen. Für alle, die eine solchermaßen verschobene Aggression jetzt ersatzweise trifft, ist sie vollständig unverständlich.

Bei einem Großteil der Gewalt, die wir derzeit im öffentlichen Raum beobachten, handelt es sich um verschobene Aggression. Kinder und Jugendliche ohne familiäre Bindungen befinden sich im Zustand permanenter sozialer Ausgrenzung. Da soziale Ausgrenzung die Schmerzgrenze tangiert, bildet sich in Kindern und Jugendlichen, die ohne tragende Bindungen aufwachsen, ein Nährboden für Aggressionsbereitschaft. Diese kann von den Betroffenen in der Regel jedoch nicht an die wirklich Schuldigen adressiert werden, sondern sucht sich andere Wege. Diese Verschiebung der Aggression erklärt, warum – z. B. in Schulen, in U-Bahnstationen oder in anderen öffentlichen Räumen – völlig Unbeteiligte zum Opfer scheinbar unerklärlicher Aggression werden können. Selbstverständlich müssen Gewalttaten dieser Art, ungeachtet der Tatsache, dass sie Gründe haben, betraft werden. Erklärung bedeutet nicht Entschuldigung.

Erziehung: Kein contra-biologisches, sondern ein evolutionäre entstandenes, biologisch begründetes Phänomen

Der biologische Aggressionsapparat des Menschen besteht aus zwei Komponenten. Auf der einen Seite erzeugt eine Art „Dampfkessel-Komponente“, wenn wir körperlichen oder seelischen Schmerz erleiden, den in uns aufsteigenden Zorn (die neurobiologischen Elemente dieser Komponente werden in meinem Buch ausführlich beschrieben). Auf der anderen Seite gehört zum Aggressionsapparat des Menschen auch ein „moralisches Kontroll-Zentrum“. Dieses besteht aus Nervenzell-Netzwerken, die ihren Sitz im Stirnhirn haben. Fachleute bezeichnen dieses „moralische Kontroll-Zentrum“ als „Präfrontaler Cortex“. Aufgabe der Nervenzell-Netzwerke des „moralischen Kontroll-Zentrums“ ist es, Informationen darüber zu speichern, wie sich Taten, die ich selbst ausübe, für andere Menschen anfühlen.

Wenn ein psychisch durchschnittlich gesunder (d. h. nicht psychopathisch veranlagter) Mensch geärgert wird, werden beide Komponenten des biologischen Aggressionsapparates aktiv. Die „Dampfkessel-Komponente“ erzeugt die in uns aufsteigende Wut. Gleichzeitig informiert uns das „moralische Kontroll-Zentrum“ unseres Stirnhirns darüber, wie sich das, was wir nun in unserem Ärger zu tun beabsichtigen, für die andere Seite anfühlen würde. Damit bewahrt uns das „moralische Kontroll-Zentrum“ – wohlgemerkt: zu unserem eigenen Nutzen – davor, überschießend zu reagieren. Doch woher weiß das „moralische Kontroll-Zentrum“, wie sich Dinge, die wir selber tun, aus der Sicht anderer Menschen darstellen?

Bei Geburt eines Menschen sind die Nervenzell-Netzwerke des „moralischen Kontrollzentrums“ noch ohne jede Information. Seine Informationen erhält es durch einen jahrelangen Prozess, den wir „Erziehung“ nennen. Damit die Nervenzell-Netzwerke des „moralischen Kontrollzentrum“ reifen können, muss jedes Kind ab dem etwa dritten Lebensjahr lernen, welche soziale Regeln gelten. Es muss lernen, seine Impulse zu mäßigen, sinnvollen Verzicht zu ertragen, mit anderen zu teilen und zu warten, wenn das soziale Zusammenleben dies erforderlich macht. „Erziehung“ ist kein gegen die Natur des Kindes gerichtetes, also kein sozusagen contra-biologisches Programm. Im Gegenteil. Das „moralische Kontroll-Zentrum“ unseres Gehirns ist ein evolutionär entstandener Teil unserer Biologie und gehört zu unserer menschlichen Natur.

Kinder, die nicht früh zur Einhaltung sozialer Regeln angehalten werden, erleiden eine Reifungsstörung ihres im Präfrontalen Cortex gelegenen „moralischen Kontroll-Zentrums“. Sie können sich später sozial oft nur schwer einfügen. Kleinste Frustrationen sind für solche Kinder später oft unerträglich und führen zu Zornesausbrüchen oder Gewalt. Damit Kinder, wenn sie herangewachsen sind, nicht von Aggression überflutet werden, bedarf es also zweierlei: Zum einen braucht jedes Kind vom ersten Lebenstag an Liebe, Zuwendung, Einfühlung und Verständnis. Gleichzeitig sollte jedes Kind, vom etwa dritten Lebensjahr an, die Regeln erlernen, die Gemeinschaft und gelingendes Zusammenleben möglich machen. Eine jüngst in einem renommierten Journal (in den Proceedings of the National Academy of Sciences der USA) publizierte wissenschaftliche Studie zeigte, dass Kindern, die im dritten bis vierten Lebensjahr nicht begonnen haben, soziale Regeln zu beachten und angemessene Frustrationen zu ertragen, als Erwachsene in allen Lebensbereichen – sei es Partnerschaft, Arbeitsplatzsituation oder Straffälligkeit – die schlechteren Karten haben.

Wie gewalttätig waren unsere evolutionären Vorfahren?

Abschließend möchte ich noch einige Überlegungen meines Buches wiedergeben, warum wir mit Beginn des zivilisatorischen Zeitalters, also seit etwa 12.000 Jahren eine massive Zunahme menschlicher Aggression zu beobachten haben. Die kürzlich von Steven Pinker in seinem neuen Buch „Gewalt“ aufgestellte These, die jüngere Geschichte der Menschheit zeige eine quasi lineare Zurückentwicklung zwischenmenschlicher Gewalt, wird von mir nicht geteilt. Entgegen mancher Theorie früherer Jahre deutet wenig darauf hin, dass unsere evolutionären Vorfahren in den Jahrtausenden vor der neolithischen Revolution Schrecken verbreitende Ungetüme waren. Die mit den Begriffen „man the hunter“ und „demonic males“ verbundenen Vorstellungen über die angeblich aggressive und blutrünstige Natur unserer evolutionären Vorfahren haben sich, neueren Untersuchungen zufolge, als wenig haltbar erwiesen.

Unsere evolutionären Vorfahren, die sogenannten Australopitheken, Zwischenwesen zwischen Affe und Mensch, waren mit ihren etwa 1,30 Meter Körpergröße und ihrer – im Vergleich zu vielen Raubtieren – eher langsamen Fortbewegungsweise kaum in der Lage, in ihrem Umfeld Angst und Schrecken zu verbreiten. Verschiedene Körpermerkmale des Australopithecus, insbesondere die Zähne, weisen darauf hin, dass er sich überwiegend vegetarisch ernährte. Er lebte nicht nur von Früchten, Blättern, Blüten, Nüssen und Samen, sondern ernährte sich auch von Zwiebeln und Knollen, die er aus der Erde herausholte. Nahrung tierischer Herkunft, insbesondere Ameisen, kleine Tiere und Fischfang ergänzten das vegetarische Angebot.

Die Jagd im größeren Stil war – evolutionär betrachtet – eine relativ späte Errungenschaft des Menschen. Der Verzehr größerer Fleischrationen setzte nicht nur die Entwicklung entsprechender Jagdwerkzeuge, sondern vor allem auch die Beherrschung des Feuers voraus, da unsere Vorfahren – wie auch wir selbst – rohes Fleisch nur schlecht verdauen konnten. Da sich die gemeinschaftliche Jagd auf größere Wildtiere – evolutionär gesehen – also erst relativ spät entwickelt hat, spricht nichts dafür, dass der Mensch einen angeborenen Jagdinstinkt entwickelt hätte, dem wir – wie einige behauptet haben – eine angeblich tief in uns sitzende Mordlust zu verdanken hätten. Nicht die Verbreitung von Angst und Schrecken war das evolutionäre Erfolgsrezept des Menschen, sondern sozialer Zusammenhalt, Kooperation und Intelligenz.

Die „neolithische Revolution“: Der Eintritt des Menschen in den zivilisatorischen Prozess

Der Einstieg in die zivilisatorische Epoche, der vor circa 12.000 Jahren im Nahen Osten und oberen Zweistromland stattfand, dürfte eine der fundamentalsten Veränderungen gewesen sein, welche die menschliche Spezies durchlebt hat. Es scheinen globale Klimaveränderungen am Ende der letzten Eiszeit gewesen zu sein, auf die Menschen reagieren mussten, die vor 12.000 Jahren im sogenannten „fruchtbaren Halbmond“ wohnten, einem Landstrich zwischen Jordantal und oberem Zweistromland. Ressourcenmangel, bedingt durch einen drastischen Rückgang der Vegetation und durch Überjagung des Wildbestandes, scheint den Menschen damals gezwungen zu haben, sesshaft zu werden, sich der mühsamen Arbeit des Ackerbaus zu unterziehen und Viehwirtschaft zu betreiben. Die Paradieslegende, die nicht nur in der Bibel, sondern in den Mythen des Nahen Ostens mehrfach anzutreffen ist, zeigt dass die „neolithische Revolution“ von den damals Betroffenen wie eine Vertreibung und überaus schwerwiegende Umstellung empfunden wurde.

Die neolithische Revolution bedeutete nicht nur die Erfindung des Eigentums und der Erwerbsarbeit, sondern den grundlegenden Einzug des ökonomischen Prinzips in das menschliche Zusammenleben. Der Mensch wurde, nachdem er zu einer Arbeitskraft und damit Teil eines ökonomischen Kalküls geworden war, nun selbst zur Ware, was logischerweise zur Folge hatte, dass Menschen begannen, Macht über andere Menschen auszuüben. Die neolithische Revolution hatte einen fundamentalen Wandel der Art und Weise zur Folge, wie Menschen zusammenlebten. Das Eigentumsprinzip ersetzte das Gemeinschaftseigentum. Erwerbsarbeit ersetzte das in Gruppen ausgeübte gemeinschaftliche Sammeln und Jagen. Anstatt, wie bisher, ein natürliches Daseinsrecht zu genießen, wurde der Mensch nach seiner ökonomischen Leistung bemessen. Dass das Leben, welches sich vor allem in der Gemeinschaft einer vertrauten Gruppe abgespielt hatte, so nicht fortgesetzt werden konnte, brachte eine erhebliche soziale Desintegration mit sich. Diese Veränderungen mussten ein ungeheures, bisher nicht bekanntes Aggressionspotential erzeugen.

Die Antwort auf die entfesselte Aggressionsdynamik: Zur Entstehung von Moralsystemen

Die mit dem Eintritt in den zivilisatorischen Prozess angestoßene Aggressionsdynamik scheint, worauf unter anderem auch der Brudermord in der Paradieslegenden hinweist, für unsere seinerzeitigen Vorfahren eine schockierende Erfahrung und Herausforderung gewesen zu sein. Mein Buch formuliert die These, dass die Entstehung von Moralsystemen, von Religionen bis hin zu säkularen Rechtssystemen, eine Reaktion unserer Spezies auf diese Herausforderung darstellt. Moralsysteme hatten (und haben), wie bereits Emile Durckheim, der Gründervater der modernen Soziologie erkannte, die Funktion, unter den neuen Bedingungen (zumindest einen Rest von) Bindung und Gemeinschaft zu bewahren und den zentrifugalen Kräften des ökonomischen Prinzips entgegenzuwirken. Mein Buch „Schmerzgrenze“ macht, unter Einbeziehung von Befunden aus dem neuen Forschungsfeld der empirischen „Neuroethik“, allerdings deutlich, mit welchen Doppelbödigkeiten wir es im Bereich des Moralischen zu tun haben (Phänomene wie das „Moral Licensing“ etc. werden ausführlich dargstellt).

Der Eintritt in den zivilisatorischen Prozess, der mit der neolithischen Revolution vor 12.000 seinen Anfang nahm, ist unumkehrbar. Eine Rückkehr in eine Welt, wie sie davor bestand, ist weder möglich noch wünschenswert, auch wenn dieser Traum immer wieder einmal geträumt wird. Die Chancen, die sich dem Menschen durch die Zivilisation geboten haben und bieten, sind faszinierend. Doch spürte bereits der neolithische Mensch und spüren wir bis heute, welche gewaltige Entfremdung das zivilisatorische Leben für unsere Spezies bedeutete und bedeutet. Nicht nur „das Unbehagen in der Kultur“ (Sigmund Freud), vor allem die hohen Raten körperlicher und psychischer Erkrankungen zeigen: Für ein Leben im Dauerstress, in Existenzangst, in permanenter Konkurrenz, in sozialer Isolation und mit einem hohen Level an zwischenmenschlicher Aggression sind wir evolutionär nicht gemacht.

Eine „zweite Welle der neolithischen Revolution“? – Gerechtigkeit als Gewaltprävention

Meine in „Schmerzgrenze“ aufgestellte These ist, dass wir derzeit sozusagen eine zweite Welle der neolithischen Revolution erleben: Die Ressourcen unserer Erde sind global begrenzt. Gleichzeitig nimmt die Weltbevölkerung weiter zu. Angesichts dieser Situation ist zweierlei zu erwarten: Auf der einen Seite wird sich das ökonomische Prinzip und der mit ihm einher gehende Leistungsdruck weiter verschärfen. Auf der anderen Seite wird sich die Frage, wie wir die vorhandenen Ressourcen verteilen, national und global zuspitzen. Menschengruppen, die von der Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung, Arbeitsplätzen, materielle Teilhabe ausgeschlossen sind, erleben sich ausgegrenzt. Ausgrenzung tangiert die Schmerzgrenze und begünstigt Gewalt. Daraus folgt, und damit schließt auch mein Buch, dass nationale und globale Gerechtigkeit die beste Gewaltprävention darstellt.

Hinweis der Redaktion: Informationen zu Joachim Bauer, dem Autor dieses Beitrages, finden Sie in unserem Online-Lexikon hier.