Tod im Eis

Nichts für schwache Nerven: Jo Lendles Wissenschaftsroman „Alles Land“ über den Polarforscher Alfred Wegener basiert auf der Faszination des Grauens

Von Jana BehrendsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Behrends

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob „Die Violine des Teufels“, Josef Gelineks Krimi über Paganini und seine Geige oder „Die Herrlichkeit des Lebens“, Michael Kumpfmüllers Roman über Franz Kafka: Biografien liegen seit dem Herbst unzweifelhaft wieder im Trend.

Jo Lendle legt nun nach und mit „Alles Land“ die erste Biografie über Alfred Wegener vor – „den letzten großen Helden der Polarforschung“, wie der Klappentext vielversprechend tönt. Wegener, 1980 in Berlin geboren, starb kurz nach seinem 50. Geburtstag bei seiner dritten Grönland-Expedition. Er hatte seiner Frau Else versprochen, dass es die letzte werden sollte. Zu Lebzeiten zum Teil belächelt, zum Teil agressiv bekämpft, wurde erst 30 Jahre nach Wegeners Tod seine Theorie der Kontinentalverschiebung anerkannt.

So unstetig wie Wegeners Leben zwischen den Extremen verlief – heimelige Familienidylle einerseits, Expeditionen im ewigen Eis andererseits –, so unstetig lesen sich auch Jo Lendles Beschreibungen dieser sicher einzigartigen Forscherpersönlichkeit. Während seiner Reisen sehnt Wegener sich häufig nach einer geordneten Lebensweise und hat Sturm, Schnee und „Lebensfeindschaft“ gehörig satt. Ist er jedoch daheim bei seiner Frau und den zwei Töchtern, machen diese ihn schnell nervös und gehen ihm auf die Nerven. Ist er wieder im Eis, überfällt ihn dagegen ein „Gefühl von Verlassenheit, welches jede Möglichkeit von Trost so vollständig ausschloss, dass nichts zurückblieb als eine klare, glänzende Nüchternheit, von der Wegener nicht wusste, ob sie ihm geheuer war.“ Ein Teufelskreis.

Ein Problem des Romans ist Lendles Insiderwissen. Für den Leser sind Handlungszusammenhänge nicht immer nachvollziehbar. Außerdem scheint Lendle von einer äußerst gebildeten Leserschaft auszugehen, die Begriffe wie „Pemmikan“ oder „Ragnaroek“ ohne das Bemühen eines Nachschlagewerks bewältigen kann. Das sind zwar Feinheiten, die den Leser aber gelegentlich ratlos zurücklassen und ihm die Lust am Weiterlesen zu vergällen drohen.

Dennoch überzeugt der Roman mit farbenprächtigen Naturbeschreibungen: „Die riesigen, im Wasser schwebenden Brocken, als seien sie schon immer hier gewesen. Wegener stand da und musste sich an die Reeling klammern, so zauberhaft violett war die Scholle gefärbt, an der sie vorbeizogen.“ Und auch der Tod Wegeners ist episch gestaltet und erinnert an Hans Castorps berühmten Schneetraum in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“: „Auf einmal sah er, wie bei ihnen [den Schneeameisen, J.B.] allen die Panzer auf dem Rücken rissen, wie etwas herausfuhr, knitterig wie altes Pergament, und sich teilte. Es waren Flügel, sie können ja fliegen. Schon erhoben sich die ersten in die Luft, für einen Moment flatterten sie durchs Zelt wie ein Schneeflockenschwarm im Wind, dann flogen sie auf, sie nahmen ihn tatsächlich mit, hinaus aus dem Zelt und fort zu einer neuen Kolonie.“

Direkt warm um‘s Herz wird einem dabei dennoch nicht. Wegeners Tod im Eis gehen drei waghalsige Expeditionen voraus, die nichts für schwache Nerven sind. Der Leser begleitet Alfred Wegener dabei, wie er zu schwach gewordene Schlittenhunde und Pferde schlachtet und verspeist. Wie einem Crewmitglied der erfrorene, faulende Fuß mit einer Blechschere amputiert wird. Und wie Wegener beim Überwintern in Grönland an der Station „Pustervig“ vor lauter Kälte, Farblosigkeit und Einsamkeit beinahe verrückt wird. „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ werden ebenso deutlich wie in dem gleichnamigen Roman von Christoph Ransmayr. Wohl dem, der sich seinen warmen Winterpulli anziehen und seine Füße unter die Bettdecke stecken kann. Der eisige Wind Grönlands und die Gefahr, die von ihm ausgeht, weht einem dennoch zwischen den Seiten immer wieder ins Gesicht.

Der Leser lernt Wegener als zweifelnden Charackter kennen, der sich nur auf sich selbst verlassen möchte und sich von seiner Familie schnell eingeengt fühlt. Andere Menschen sind für ihn „der einzige natürliche Feind, der dem Menschen geblieben war“, seine Crew wählt er danach aus, „ob sie auch mal für ein paar Wochen den Mund halten konnten.“ Dennoch findet er in den Mitreisenden, die sich auch nach dem ewigen Eis sehnen, schnell Gesprächspartner für stundenlange philosophische Debatten und Deutungsversuche: „Immer wieder berührten sie das Eheproblem und die Frage, ob die Ehe der Grund war, weshalb sie hier saßen. Diese Dinge beschäftigte sie stärker, als ihnen lieb war.“

Die meiste Zeit, besonders während der Wanderungen, herrscht jedoch eine Stille wie an einem Neujahrsmorgen, wenn die ohnehin wenigen Geräusche von frisch gefallenem Schnee geschluckt werden. Diese Stille, man ist versucht sie „eisiges Schweigen“ zu nennen, wird durch kurze Sätze und viel indirekte Rede noch verstärkt.

Wie nebenbei erfährt der Leser einiges über die Jahrhundertwende zwischen Aufbruch und Regression. Deutlich wird das besonders an den Diskussionen zwischen dem neugierigen, zweifelnden Alfred und seinem Vater, einem mehr als gläubigen Pfarrer. Die unterschiedlichen Positionen führen dazu, dass Vater und Sohn sich nie mehr versöhnt haben.

Bezeichnenderweise hat Wegener über zehn Jahre seines kurzen Daseins im Universitätsstädtchen Marburg verbracht. Harry Rowohlt hat über diesen Ort einmal gesagt, er teste neue Textstellen am liebsten in der Universitätsstadt an der Lahn aus, da das Publikum dort „provinziell, aber akademisch“ sei. Irgendwie passt das zu diesem Wegener, der sein Leben lang den Spagat zwischen der Profanität von Kindergeschrei und herumliegenden Blockflöten einerseits und den höheren Wissenschaften andererseits versucht hat und den seine panische Angst vor dem Gewöhnlichen in das ewige Eis getrieben hat, aus dem er nicht mehr aufgetaucht ist. So ähnlich fühlt man sich in Mittelhessen auch immer.

Titelbild

Jo Lendle: Alles Land. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011.
379 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045256

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