Manifeste gegen die höfische Langeweile

Das „Journal von Tiefurt“, ein Dokument aus Goethes Weimar, wurde neu ediert

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Weimarer Musenhof um Herzogin Anna Amalia trafen höfische und bürgerliche Kultur zusammen. Der künstlerische Dilettantismus, der sich in dem in wenigen handschriftlichen Exemplaren zwischen 1781 und 1784 verbreiteten „Journal von Tiefurt“ manifestierte, war auch in einer Zeit der Autonomisierung und Professionalisierung der Künste keineswegs rückwärtsgewandt – Kunst entsteht bis heute überall dort, wo es gelingt, ein für sie förderliches Klima zu erzeugen, nicht allein auf einem ‚freien‘ Markt. Grenzüberschreitungen zwischen ‚dilettantischem‘ Schreiben und professioneller Autorschaft finden heute zwar nicht mehr bei Hofe statt, doch nach wie vor sehr häufig durch Nebenstunden-Autoren. Man denke an Goethes Berufsgenossen Herbert Rosendorfer, Bernhard Schlink oder Ferdinand von Schirach. Gewiss: die Strukturen der Kunstförderung haben sich verändert. Was im 18. Jahrhundert und darüber hinaus an die wohlwollenden Entscheidungen des allergnädigsten Souveräns geknüpft war, ist heute mittels Stipendien und Preisen transparenter geworden.

Das „Journal von Tiefurt“ ist benannt nach Anna Amalias Lustschloss, wenige Kilometer von Weimar entfernt ilmabwärts gelegen – hier befand sich eine höfische Spielwiese adelig-bürgerlichen Dichtens, und das Produkt, das es auf knapp 50 Nummern brachte, ist ein wahrer poetisch-journalistischer Steinbruch des Jahrhunderts. Neben Hofdamen wie Louise von Göchhausen und diversen adeligen Musensöhnen nahmen auch die Profis Goethe, Herder und Wieland an dem zwanglosen Unternehmen teil. Für Goethe handelte es sich freilich nur um eine „Kleinigkeit“.

Es überwiegen eigens verfasste Gedichte, daneben stehen Prosa- und Versübersetzungen besonders antiker Texte, Preisfragen und im geselligen Kreis gestellte und beantwortete Rätsel. Bukolische Themen dominieren, ein aus der höfischen Literatur bekanntes Lob des Landlebens also, das in der bürgerlichen Idyllik des 18. Jahrhunderts längst adaptiert worden war.

Das Resultat ist schwer einzuordnen, als ein Hybrid höfisch-galanter und bürgerlich-empfindsamer Kultur vielleicht. Als einen unterhaltsamen Gegenentwurf zur Moralischen Wochenschrift könnte man diese Zeitung auch bezeichnen. Fingierte Dialoge wie Herders „Hausgespräch an einem langen Winterabend“ über die Frage, ob Eindrücke des Verstandes oder des Herzens „wahrer und daurender“ seien, bilden die Debatten des Jahrhundertausgangs auf hohem Niveau ab, hatte man deren Protagonisten doch nicht zufällig in der eigenen Residenzstadt versammelt.

Der Gesamttext liegt nun nach über 100 Jahren erneut in einer Kritischen Ausgabe vor, diesmal in diplomatischer Transkription und mit einem ausführlichen Kommentar, der dem Kenntnisstand des heutigen Lesers Rechnung trägt und für dessen Erarbeitung allen Beteiligten hohes Lob gebührt. Entstehen konnte die Edition im Rahmen des Jenaer DFG-Sonderforschungsbereichs „Ereignis Weimar – Jena: Kultur um 1800“.

Eines der bevorzugten Themen ist der adelige ennui, über den sich wenige Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution ausgerechnet eine höfische Gesellschaft lustig macht:

„Auf Erden lebt kein Mensch so fein
Als Herr von Giks zum Gakelstein;
Nachts punkt um neun Uhr schläft er ein
Und schläft so fort bis Sonnenschein. …
Ihn kümmert weder Gros noch Klein,
Nicht Bücherstaub noch Krieges Pein,
Kein Vogelsang, kein Mondenschein,
Er läßt die Menschen, Menschen seyn;
Die Madchen sich am Puz erfreun
Den Himmel donnern, regnen schneyn,
Das Jahr verschwinden, sich erneun,
Kurz! Herr von Gicks zum Gackelstein
Schränckt in der Welt sich gantz allein
Auf den beliebten Grundsatz ein:
In seiner Haut vergnügt zu seyn.“

Wohl dem müßigen Publikum, das sich an solchen Versen erfreuen konnte.

Titelbild

Jutta Heinz / Jochen Golz (Hg.): "Es ward als ein Wochenblatt zum Scherze angefangen". Das Journal von Tiefurt.
Unter Mitarbeit von Cornelia Ilbrig, Nicole Kabisius und Matthias Löwe.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
736 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835309579

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