Musils Textuniversum
Norbert Christian Wolf bringt in einer umfassenden kultursoziologischen Studie Licht in den „Mann ohne Eigenschaften“
Von Jochen Strobel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWaren die Beatles besser oder die Stones? Die Gefechte, die sich Kritiker und Literaturwissenschaftler um ihre Idole liefern, haben, so der Verfasser, nicht selten etwas von jenem etwas müßigen Streit. Müßig wäre auch die Auseinandersetzung darum, ob „Der Mann ohne Eigenschaften“, „Der Zauberberg“, „Berlin Alexanderplatz“ oder etwa „Die Schlafwandler“ als der Epochenroman gelten kann. Musils Fragment gebliebener Großroman ist nicht leicht zugänglich – schon deswegen kann er nicht wirklich populär werden. Dass man sich nur auf ihn einlassen muss, zeigt Norbert Christian Wolfs umfassend angelegte kultursoziologische Monografie, die eine konzise Lektüre der Textwelt ‚Kakanien‘ bietet, angereichert durch eine Rekonstruktion der sozialen und der ästhetischen Voraussetzungen, wozu auch die Position des Romans im künstlerischen Feld seiner Entstehungszeit zählt.
Die umfangreiche Analyse verdankt Pierre Bourdieus Feld- und seiner Habitustheorie fast alles, sie überträgt mit Erfolg Bourdieus literatursoziologisches Hauptwerk „Les règles de l’art“ mit seiner Musteranalyse von Gustave Flauberts „Education sentimentale“ auf die Verhältnisse des deutschsprachigen literarischen Feldes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum stehen die sozialen Akteure des Romans und ihre Praktiken.
Fast 800 Seiten widmet Wolf, der auf einem umfänglichen, verzweigten Forschungsstand aufbauen kann, der Analyse der wichtigsten Figuren, ihrer Kapitalausstattung und ihrer Habitusbildung. Hinzu tritt eine Konstellationsanalyse, das heißt Interaktionen und Konfigurationen werden untersucht. In den zentralen Figuren des Romans lassen sich repräsentative Typen der Zeit ausmachen, sie sind, so Wolf, mittels der Habituszeichnung, der erzählten Lebensstile der Romanfiguren, geradezu in ein System gebracht. Ausgerechnet ein fragmentarischer Roman bildet also in einem starken mimetischen Impetus ‚das Ganze‘ einer Gesellschaft ab, nämlich die Österreich-Ungarns kurz vor 1914. Der Zeitroman als Epochenroman – eine solche Lesart ist für das Schreiben in der Moderne ein Wagnis. Kein Wunder, dass es den Verfasser insgesamt 1.200 Druckseiten kostet, diese These zu belegen.
Heraus kommt dabei eine „Sozioanalyse literarischer Texte“ als Sonderform von Bourdieus Feldtheorie – die Struktur des Textes soll letztlich die Struktur des (realen) Feldes erhellen. Dabei wird nicht behauptet, ein ‚sozialer Zeitroman‘, wie man den „Mann ohne Eigenschaften“ nennen könnte, spiegele platt die Wirklichkeit wider – zu berücksichtigen sind der Habitus des Autors und die Bedingungen des sozialen Feldes, in dem er sich bewegt. Romanproduktion ist vor diesem Hintergrund auch sozial umrissene Wunschproduktion.
Der Chronotopos ‚Kakanien‘ mit seinem repräsentativen Personal erweist sich, so Wolf, als Grundlage eines Romans über moderne „Eigenschaftslosigkeit“. Eine Homologie von ‚inneren‘, psychischen Phänomenen der Figuren und von ‚äußeren‘, sozialen Phänomenen und damit eine Homologie von Habitus und sozialem Feld ist erkennbar, so Wolfs Ergebnis. Die Fülle der Einzelinterpretationen, die Musil bei der Arbeit am „gesellschaftlichen Schachbrett“ zeigen, kann hier nicht einmal angedeutet werden.
Überzeugend legt Wolf schließlich dar, inwiefern Musil mittels seines innovativen essayistischen Erzählverfahrens den Versuch einer Überwindung der Aporien des zeitgenössischen literarischen Feldes unternahm. Musils soziale Laufbahn, die sich durch eine Frontstellung gegen die extremen ideologischen Positionen seiner Zeit auszeichnet und auf dieser Opposition eine negative Anthropologie aufbaut, wird als Voraussetzung der im Roman entwickelten Welt greifbar. Es ist eine Welt am Rande der Katastrophe, wie sie im ersten Kapitel schon ein plötzlicher Autounfall gleichsam präfiguriert.
Wolfs immens kenntnisreiche Monografie ist auch als Einführung in Musils Werk lesbar. Erstmals ist mit diesem Buch an ein großes kanonisiertes Werk der deutschsprachigen Literatur Bourdieus Analyse- und Begriffsraster in umfassender Weise herangetragen und für eine Analyse der Moderne (und ihrer Krise) nutzbar gemacht worden.
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